Josef Wissarionowitsch Stalin (1878-1953) |
Zwischen August 1936 und März 1938 fanden in Moskau die drei
großen Schauprozesse statt, in denen Stalin anhand erfundener Anklagen die alte
Revolutionsgarde und die letzten Kampfgenossen Lenins eliminierte. Parallel
dazu verliefen in den Provinzen tausende weiterer Verfahren, in denen immer
neue Verräter entdeckt bzw. alte Rechnungen beglichen wurden und die - durch
regelrechte Quotenvorgaben von Stalin – zu wahren Blutorgien ausarteten und
faktisch eine Lizenz zum Töten darstellten.
Stalin höchstpersönlich veranlasste, befahl, organisierte
und kontrollierte die ‚Maßnahmen‘. Er ließ sich wöchentlich die Zahl der
Hingerichteten vorlegen. Es ist nachgewiesen, dass er die Todesurteile gegen
hohe Parteifunktionäre selbst prüfte und bestätigte, und dass in den drei Jahren
des Terrors 383 Listen mit Todesurteilen über seinen Schreibtisch gegangen
sind, die allein in den Jahren 1937 und 1938 mindestens 40.000 Namen
enthielten. An einem einzigen Tag, dem 12. Dezember 1937, beispielsweise bestätigte
Stalin 3.167 Todesurteile und gingen anschließend in sein Privatkino - wo er
sich zumeist amerikanische Western anschaute, die im ganzen Lande streng
verboten waren.
Im Juni 1937 wurden zusätzlich und ohne jede Vorwarnung die führenden
Köpfe aus dem Oberkommando der Roten Armee verhaftet und bereits am nächsten
Tag erschossen. Zuvor erging eine von Stalin eigenhändig unterschriebene
Weisung an sämtliche Staatsorgane, überall Arbeiter-, Bauern- und
Soldatendemonstrationen zu organisieren, auf denen die Todesstrafe für die
Verhafteten zu fordern war.
Schauprozess in Moskau (1936) |
Was als „Säuberung in der Armee“ entfesselt wurde,
entwickelte sich buchstäblich zum „Overkill“ in den eigenen Reihen. Danach
wurden drei von fünf Marschällen, 13 von 15 Armeekommandeuren, acht von neun
Flottenadmirälen, 50 von 57 Korpskommandeuren, 154 von 186
Divisionskommandeuren, alle 16 Politkommissare, alle elf Stellvertreter des
Volkskommissars für Verteidigung und 98 von 108 Mitgliedern des Obersten
Militärrats ermordet. Im Zeitraum von 1937 bis 1941 wurden 43.000 Bataillons-
und Kompanieoffiziere verhaftet, erschossen, deportiert oder endgültig vom
Dienst suspendiert. Das Militär enthauptete sich praktisch selbst. Der
Historiker Roy Medwedjew urteilt, dass „keine Armee im Kriege je so viele
höhere Offiziere verloren hat wie die Rote Armee in dieser Periode des Friedens.“
Schließlich begann mit der Verhaftung und Hinrichtung des
Geheimdienstchefs Jagoda die ‚Säuberung der Säuberer‘. Das Zentrum des Terrors,
die Lubjanka, verwandelte sich nochmals in ein Schlachthaus, und zwar nicht nur
für die dort Einsitzenden, sondern auch für das Personal. Menschen, die gestern
noch zu den Peinigern gehört hatten, fanden sich unten in den Folterkellern
nicht selten auf ein- und derselben Pritsche neben denen wieder, denen sie vor
Tagesfrist noch die Todesangst ins Gesicht getrieben hatten.
Im Frühjahr 1938 konnten Partei, Armee, Wirtschaft, NKWD und
Verwaltung als gesäubert gelten. Alle Altbolschewisten waren tot, alle Generäle
erschossen und alle großen Fabriken ohne Direktor.
Das heißt natürlich nicht, dass „Säuberungen“ und Terror an
sich aufhörten. Was nun begann, war etwas Neues: Die Verehrung und
Verherrlichung des großen Führers nahm nunmehr die unübersehbaren Merkmale
eines schlichtweg unbegrenzten babylonischen Götzenkults an.
"Genialer Führer" |
In nur einer einzigen Rede eines Parteisekretärs wurde
Stalin nacheinander „genialer Führer der proletarischen Revolution“,
„Inspirator und Organisator des Sieges des Sozialismus“, „höchster Genius der
Menschheit“, „erfahrener proletarischer Befehlshaber“, „genialer Theoretiker
und Organisator des Aufbaus von Kolchosen“ und „genialer Führer der Werktätigen
der ganzen Welt“ genannt. Eine andere, von Stalin gehaltene Rede wurde auf acht
Schallplatten aufgenommen, wobei die achte und letzte allein mit dem
Beifallklatschen bespielt war.
Im ganzen Land setzte sich der Brauch durch, dass bei Reden
allein schon die Nennung von Stalins Namen mit lang anhaltenden stehenden
Ovationen begleitet wurde. Als ein alter Mann einmal nicht länger stehen konnte
und es wagte, sich noch während des Beifalls hinzusetzen, sah er sich am
nächsten Tag verhaftet.
Je näher sein sechzigster Geburtstag im Dezember 1939
rückte, umso dichter füllten sich die Straßen, Plätze und Schaufenster mit
Stalin-Bildern, -Büsten und -Denkmälern. Stalin, der selbst öffentlich immer
weniger präsent wurde, war auf Schritt und Tritt in Gips, Zement, Stahl oder
Marmor gegenwärtig. Er begegnete dem Schüler auf dem Weg zur Schule, dem
Soldaten beim Verlassen der Kaserne und dem Liebespaar im Park, er war überall
und allgegenwärtig, er sah, wusste, überwachte und kontrollierte alles, er war
der Übervater, unfehlbar, unsterblich, gottähnlich, absolut und total.
Der Stalinkult und das in der Verfassung von 1936 verordnete
Nationalempfinden verschmolzen jetzt zu einem Ganzen. Die Liebe zur Heimat, die
Verehrung ihres ersten Sohnes und die Unterwerfung unter die KPdSU bildeten in
dem neuen sowjetischen Wertekosmos aus Stalin, Partei und Vaterland eine
unangefochtene, nachgerade heilige Dreifaltigkeit. Die Wissenschaftler an den
Universitäten wiesen nach, dass Stalins Art, sich zu artikulieren, die
russische Sprache in ihrer reinsten und vollkommensten Form repräsentierte. Er
war gleichsam die Verkörperung der Sowjetunion.
Bald galt er als der beste Kenner Hegels (!), Kants (!) und
Aristoteles’ (!), nicht zu reden von seiner eigentlichen Domäne, dem
Marxismus-Leninismus.
Der Kurze Lehrgang |
Es erscheint zynisch und war zeitlich sicher kalkuliert,
dass Stalin im Frühjahr 1938, also während des letzten Schauprozesses, die
Arbeiten an einem Buch über die Geschichte der Kommunistischen Partei der
Sowjetunion abschloss, das meist mit seinem Untertitel als „Der Kurze Lehrgang“
genannt und zitiert wurde.
Auch wenn von Stalin persönlich nur 32 der 440 Druckseiten
stammten, wurde der objektive Geschichtsverlauf eklatant verfälscht und
zurechtgebogen: Demnach hatte Lenin nur einen einzigen Schüler, Vertrauten und
Freund, mit dem er zusammen die Oktoberrevolution und den Aufbau der
Sowjetunion gegen die anderen Bolschewisten durchgesetzt hat, die alle „Abtrünnige“,
„Verräter“ und „Agenten des Imperialismus“ gewesen waren: Dieser Freund war
Stalin. Der Kurze Lehrgang ist letztlich die Rechtfertigung des Großen Terrors
auf dem Papier.
Literatur:
Klaus Kellmann: Stalin. Eine Biographie, Darmstadt 2005 (Primus Verlag)
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