Albert Camus (1913 - 1960) |
Das Werk „Der Mensch in der Revolte“ von Albert Camus, erschienen
1951, ist eine Sammlung philosophisch-politischer Essays, in deren Zentrum die
Beschreibung der „kollektiven Pest“ in Philosophie, Politik und politischer
Theorie steht. Am Ende seiner Überlegungen steht die Erkenntnis Camus´, dass sich mit fanatischen
Anhängern einer Ideologie oder eines Glaubens nicht diskutieren lässt, denn die
einen streben nach innerweltlicher, die anderen nach außerweltlicher Erlösung.
Im Absoluten gefangen, entgeht beiden Camus zufolge die sich
jeweils aktuell bietende, gleichwohl „nur“ relative Veränderungsmöglichkeit,
deren Wahrnehmung vor allem eine fortgesetzte „Spannung“ und Aufmerksamkeit
erfordert. Ein „gelobtes Land“ absoluter Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit gibt
es hier allerdings nicht zu entdecken. Besondere Aufmerksamkeit widmet Camus
dabei Karl Marx und seiner bürgerlichen Prophezeiung.
Marx, das gibt Camus unumwunden zu, lieferte eine
eindrückliche Analyse des primitiven Kapitalismus, des Leidens und des
furchtbaren Elends, das er im England des 19. Jahrhunderts hervorrief. Das
Problem von Marx aber entsteht in dem Augenblick, in dem er seine gültige
kritische Methode mit „dem anfechtbaren utopischen Messianismus vermischte. Das
Unglück ist, dass die kritische Methode, die ihrem Wesen nach der Realität
angepasst gewesen wäre, sich immer mehr von den Tatsachen entfernte, insofern
als sie der Prophezeiung treu bleiben wollte.“
Das Gesamtwerk von Marx und Engels, oder: Die Unvereinbarkeit von kritischer Methode und utopischem Messianismus |
Bekannt ist, dass Stalin 1935 die Herausgabe der
Marx-Engels-Gesamtausgabe abbrach, weil die radikalen Frühschriften von Marx
nicht ins enge Korsett des „Marxismus-Leninismus“ passten. Der Diktator ließ David Rjasanow, den Leiter des Projektes, verhaften und am 21. Januar 1938 hinrichten.
Andere Mitarbeiter verschwanden in Stalins Gulag.
So haben die Marxisten zur Prophezeiung und zur Apokalypse
gegriffen, um eine marxistische Revolution ausgerechnet unter den Umständen zu
verwirklichen, die Marx als für eine Revolution völlig ungeeignet vorhergesehen
hatte. „Man kann von Marx sagen, dass die Mehrzahl seiner Voraussagen sich mit
den Tatsachen nicht vereinbaren ließ, zur gleichen Zeit, als seine Prophezeiung
Gegenstand eines wachsenden Glaubens war. Der Grund ist einfach: Die Voraussagen
waren kurzfristig und konnten kontrolliert werden. Die Prophezeiung ist sehr
langfristig und hat für sich, was die Festigkeit aller Religionen begründet:
die Unmöglichkeit, Beweise zu erbringe.“ So ist die Prophezeiung immer dann die
letzte Hoffnung, wenn alle Voraussagen einstürzen.
Camus macht an dieser Stelle eine entscheidende Beobachtung:
„Marxens wissenschaftlicher Messianismus ist jedoch bürgerlichen Ursprungs. Der
Fortschritt, die Zukunft der Wissenschaft, der Kultur der Technik und der
Produktion sind bürgerliche Mythen, die sich im 19 Jahrhundert als Dogma
ausgebildet haben.“
Anne Robert Jacques Turgot |
So habe schon Anne Robert Jacques Turgot, Ökonom der Aufklärung, in seiner Rede über den
Fortschritt des menschlichen Geistes davon gesprochen, dass „die Gesamtheit des
Menschengeschlechts … durch einen Wechsel von Ruhe und Erregung, von Gutem und
Bösen stetig, wenn auch mit langsamem Schritt, zu einer größeren Vollkommenheit
[schreitet].“ Und der Begründer der vergleichenden Politikwissenschaft, Alexis
de Tocqueville, ergänzt: „Die stufenweise und fortschreitende Entwicklung der
Gleichheit ist die Vergangenheit und zugleich die Zukunft der
Menschheitsgeschichte.“
Um zum Marxismus zu gelangen, müsse man lediglich Gleichheit
durch Produktionshöhe ersetzen und sich vorstellen, dass auf der letzten Stufe
der Produktion sich eine Umwandlung vollziehen und die ausgesöhnte Gesellschaft
verwirklicht werden würde. Eigentlich hat Marx wohl wie kein anderer
verstanden, „dass eine Religion ohne Transzendenz sich genaugenommen Politik
nennt.“
Wenn man nun noch hinzufügt, dass Marx den bürgerlichen Nationalökonomen
die ausschließliche Vorstellung von
der industriellen Produktion in der Entwicklung der Menschheit verdankt, dass
er das Wesentliche seiner Theorie vom Arbeitswert dem Werk des führenden
Vertreters der klassischen Nationalökonomie, David Ricardo, entnimmt, wird man
wohl zu Recht von einer „bürgerlichen“ Prophezeiung bei Marx sprechen dürfen.
Atomenergie und Elektrizität - noch nicht im Blick von Marx |
Marx hat seine Gedanken in einer Zeit entwickelt, die vom
Darwin’schen Evolutionismus, der Dampfmaschine und der Textilindustrie geprägt
war. „Hundert Jahre später stieß die Wissenschaft auf die Relativität, die
Ungewissheit und den Zufall; die Volkswirtschaft musste die Elektrizität
berücksichtigen, die Eisenhütten und die Produktion von Atomenergie.“ Heute
müsste man Begriffe wie Globalisierung, Wissensgesellschaft oder auch Digitales
Zeitalter ergänzen.
Weil der Marxismus daran scheiterte, sich diese Entdeckungen
einzuverleiben, ist Camus zufolge der Anspruch der Marxisten einfach nur lächerlich, „hundert
Jahre alte Wahrheiten, ohne Einbuße ihrer Wissenschaftlichkeit, starr
aufrechtzuerhalten."
Zitate aus: Albert
Camus: Der Mensch in der Revolte, Reinbek 2013 (Rowohlt), hier: S. 246ff - Zur Marx-Engels-Gesamtausgabe der interessante Artikel in der taz: „Schreiben für den Untergang“
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