Donnerstag, 20. November 2014

Karl Marx und die bürgerliche Prophezeiung

Albert Camus (1913 - 1960)
Das Werk „Der Mensch in der Revolte“ von Albert Camus, erschienen 1951, ist eine Sammlung philosophisch-politischer Essays, in deren Zentrum die Beschreibung der „kollektiven Pest“ in Philosophie, Politik und politischer Theorie steht. Am Ende seiner Überlegungen steht die Erkenntnis Camus´, dass sich mit fanatischen Anhängern einer Ideologie oder eines Glaubens nicht diskutieren lässt, denn die einen streben nach innerweltlicher, die anderen nach außerweltlicher Erlösung.

Im Absoluten gefangen, entgeht beiden Camus zufolge die sich jeweils aktuell bietende, gleichwohl „nur“ relative Veränderungsmöglichkeit, deren Wahrnehmung vor allem eine fortgesetzte „Spannung“ und Aufmerksamkeit erfordert. Ein „gelobtes Land“ absoluter Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit gibt es hier allerdings nicht zu entdecken. Besondere Aufmerksamkeit widmet Camus dabei Karl Marx und seiner bürgerlichen Prophezeiung.

Marx, das gibt Camus unumwunden zu, lieferte eine eindrückliche Analyse des primitiven Kapitalismus, des Leidens und des furchtbaren Elends, das er im England des 19. Jahrhunderts hervorrief. Das Problem von Marx aber entsteht in dem Augenblick, in dem er seine gültige kritische Methode mit „dem anfechtbaren utopischen Messianismus vermischte. Das Unglück ist, dass die kritische Methode, die ihrem Wesen nach der Realität angepasst gewesen wäre, sich immer mehr von den Tatsachen entfernte, insofern als sie der Prophezeiung treu bleiben wollte.“

Das Gesamtwerk von Marx und Engels, oder:
Die Unvereinbarkeit von kritischer Methode und utopischem Messianismus
 

Bekannt ist, dass Stalin 1935 die Herausgabe der Marx-Engels-Gesamtausgabe abbrach, weil die radikalen Frühschriften von Marx nicht ins enge Korsett des „Marxismus-Leninismus“ passten. Der Diktator ließ David Rjasanow, den Leiter des Projektes, verhaften und am 21. Januar 1938 hinrichten. Andere Mitarbeiter verschwanden in Stalins Gulag.
                                                         
So haben die Marxisten zur Prophezeiung und zur Apokalypse gegriffen, um eine marxistische Revolution ausgerechnet unter den Umständen zu verwirklichen, die Marx als für eine Revolution völlig ungeeignet vorhergesehen hatte. „Man kann von Marx sagen, dass die Mehrzahl seiner Voraussagen sich mit den Tatsachen nicht vereinbaren ließ, zur gleichen Zeit, als seine Prophezeiung Gegenstand eines wachsenden Glaubens war. Der Grund ist einfach: Die Voraussagen waren kurzfristig und konnten kontrolliert werden. Die Prophezeiung ist sehr langfristig und hat für sich, was die Festigkeit aller Religionen begründet: die Unmöglichkeit, Beweise zu erbringe.“ So ist die Prophezeiung immer dann die letzte Hoffnung, wenn alle Voraussagen einstürzen.

Camus macht an dieser Stelle eine entscheidende Beobachtung: „Marxens wissenschaftlicher Messianismus ist jedoch bürgerlichen Ursprungs. Der Fortschritt, die Zukunft der Wissenschaft, der Kultur der Technik und der Produktion sind bürgerliche Mythen, die sich im 19 Jahrhundert als Dogma ausgebildet haben.“

Anne Robert Jacques Turgot
So habe schon Anne Robert Jacques Turgot, Ökonom der Aufklärung, in seiner Rede über den Fortschritt des menschlichen Geistes davon gesprochen, dass „die Gesamtheit des Menschengeschlechts … durch einen Wechsel von Ruhe und Erregung, von Gutem und Bösen stetig, wenn auch mit langsamem Schritt, zu einer größeren Vollkommenheit [schreitet].“ Und der Begründer der vergleichenden Politikwissenschaft, Alexis de Tocqueville, ergänzt: „Die stufenweise und fortschreitende Entwicklung der Gleichheit ist die Vergangenheit und zugleich die Zukunft der Menschheitsgeschichte.“

Um zum Marxismus zu gelangen, müsse man lediglich Gleichheit durch Produktionshöhe ersetzen und sich vorstellen, dass auf der letzten Stufe der Produktion sich eine Umwandlung vollziehen und die ausgesöhnte Gesellschaft verwirklicht werden würde. Eigentlich hat Marx wohl wie kein anderer verstanden, „dass eine Religion ohne Transzendenz sich genaugenommen Politik nennt.“

Wenn man nun noch hinzufügt, dass Marx den bürgerlichen Nationalökonomen die ausschließliche Vorstellung von der industriellen Produktion in der Entwicklung der Menschheit verdankt, dass er das Wesentliche seiner Theorie vom Arbeitswert dem Werk des führenden Vertreters der klassischen Nationalökonomie, David Ricardo, entnimmt, wird man wohl zu Recht von einer „bürgerlichen“ Prophezeiung bei Marx sprechen dürfen.

Atomenergie und Elektrizität -
noch nicht im Blick von Marx
Marx hat seine Gedanken in einer Zeit entwickelt, die vom Darwin’schen Evolutionismus, der Dampfmaschine und der Textilindustrie geprägt war. „Hundert Jahre später stieß die Wissenschaft auf die Relativität, die Ungewissheit und den Zufall; die Volkswirtschaft musste die Elektrizität berücksichtigen, die Eisenhütten und die Produktion von Atomenergie.“ Heute müsste man Begriffe wie Globalisierung, Wissensgesellschaft oder auch Digitales Zeitalter ergänzen.

Weil der Marxismus daran scheiterte, sich diese Entdeckungen einzuverleiben, ist Camus zufolge der Anspruch der Marxisten einfach nur lächerlich, „hundert Jahre alte Wahrheiten, ohne Einbuße ihrer Wissenschaftlichkeit, starr aufrechtzuerhalten."
  
Zitate aus: Albert Camus: Der Mensch in der Revolte, Reinbek 2013 (Rowohlt), hier: S. 246ff  -   Zur Marx-Engels-Gesamtausgabe der interessante Artikel in der taz: „Schreiben für den Untergang“ 

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