„Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“
(1955 auf Deutsch erschienen) ist das vielleicht wichtigste, in jedem Fall
umfangreichste Buch von Hannah Arendt. Auf insgesamt 1015 Seiten rekonstruiert
sie einerseits die Entwicklung des Antisemitismus im 18. und 19. Jahrhundert
sowie das Aufkommen des Rassismus und des Imperialismus im 19. und frühen 20.
Jahrhundert, andererseits entwirft sie eine umfassende Theorie des
Totalitarismus, aufbauend auf den beiden historischen Formen totaler
Herrschaft, dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus.
Bei der Untersuchung des
totalitären Staatsapparates geht Hannah Arendt von
der Prämisse aus, dass die totalitäre Bewegung durch
die Machtergreifung weder in ihrer Organisationsstruktur noch in ihrem
ideologischen Gehalt verändert wird. Vielmehr besteht die Gefahr für die Bewegung gerade darin, „dass sie einerseits durch die
Übernahme des Staatsapparats `erstarren´ und in einer absolutistischen
Staatsform untergehen und dass sie andererseits durch die Grenzen des
Territoriums, in welchem sie offiziell zur Macht gekommen war, in ihrer
Bewegungsfreiheit begrenzt werden konnte“ (816).
Hitler nach der Machtergreifung |
Um zu verhindern, dass die Massen – in der Sprache
der Bewegungen - in den alten Schlendrian zurückfallen,
ist die Machtergreifung in einem Lande
daher primär vergleichbar mit der "Etablierung
eines offiziellen und international
anerkannten Hauptquartiers der Bewegung. (…) Hierfür wird der Staatsapparat
benutzt, dessen die Bewegung so lange bedarf, als es noch ein Außen und eine
nichttotalitäre Welt gibt; er würde in der Tat `absterben´, wenn das
eigentliche Ziel der Welteroberung erreicht und das Außen verschwinden würde“
(821).
Hitler und der britische Premierminister Chamberlain während der Münchner Konferenz im September 1938 |
Von dieser Fehleinschätzung führt ein direkter Weg zu den diplomatischen
Abmachungen mit totalitären Regierungen, etwa
dem Münchener Abkommen mit Hitler oder auch
den Verträgen der Konferenz von Jalta mit Stalin: „Gegen alle berechtigten
Erwartungen war es keineswegs möglich, die totalitären Länder durch
Konzessionen und großes internationales Prestige wieder in den normalen Verkehr
zurückzubinden, und alle Versuche, ihnen durch Taten zu beweisen, dass ihre
ideologisch begründeten Behauptungen, sie seien von einer Welt von Feinden
umgeben, nicht zutrafen, blieben vergeblich“ (823).
Die diplomatischen "Siege" stellen sich als Pyrrhus-Siege heraus, denn die totalitären Regierungen reagierten auf Kompromisswilligkeit nur mit stetig
verstärkter Feindseligkeit.
Viele dachten noch unmittelbar
nach der Machtergreifung,
dass die nationalsozialistische Revolution und der mit ihr verbundene Terror
sein Ende finden würde, sobald neue Institutionen und Gesetze erlassen und die
innere Opposition besiegt sein würde. Sie sollten enttäuscht werden: „Was statt
dessen eintraf, war, dass der Terror mit Abnahme der Opposition im Lande nicht
abnahm, sondern sich verstärkte, so das es aussah, als sei diese Opposition
nicht (wie die liberalen Gegner der totalitären Regime immer glaubten) der
Anlass der Gewaltherrschaft, sondern im Gegenteil das letzte Hindernis, das
seiner vollen, unbarmherzigen Entfaltung im Wege gestanden hätte“ (823f)
Verkündigung der Nürnberger Gesetze (1935) |
Betrachtet man die Entwicklung des Terrors in Nazideutschland, dann fällt vor allem auf, dass das Regime zwar damit begann, Deutschland mit einer „Lawine von neuen Gesetzen und Dekreten zu überschütten; aber als diese Entwicklung mit dem Erlass der Nürnberger Gesetze zum Stillstand gekommen war, stellt sich heraus, dass die Nazis selbst keineswegs gedachten, sich um ihre eigene Gesetzgebung zu kümmern, dass es vielmehr `nur ein Weiterschreiten auf dem eingeschlagenen Weg zu immer Neuem´ gab, so dass schließlich `Zweck und Arbeitsumfang der Geheimen Staatspolizei´ wie aller anderen von den Nazis geschaffenen Institutionen parteilicher oder staatlicher Natur in keiner Weise durch die gesetzlichen Bestimmungen erschöpft werden (konnten), die für sie erlassen worden sind´. Praktisch äußerte sich dieser Zustand der Gesetzlosigkeit in Permanenz darin, dass `eine Reihe von Vorschriften nicht mehr verkündet´ wurde“ (825).
Dieses Vorgehen entsprach Hitlers
Überzeugung, dass „der totale Staat keinen Unterschied kennen darf zwischen
Recht und Moral“, wobei Hitler natürlich unter `Moral´ die
nationalsozialistische Weltanschauung verstand.
Arendt bemerkt, dass die Literatur über das
Nazi- und das bolschewistische System voll sei von Klagen
über ihre angeblich monolithische Staatsstruktur. Gleichwohl
entspreche nichts weniger den Realitäten eines
totalen Herrschaftsapparates. Vielmehr ließe sich eine "eigentümliche Strukturlosigkeit“
im totalitären Herrschaftsapparat beobachten: „Zu Beginn des Dritten Reiches ließen die Nazis es
sich angelegen sein, alle Ämter von irgendeiner Bedeutung so zu verdoppeln,
dass die gleiche Funktion einmal von einem Staatsbeamten und zweitens von einem
Parteimitglied erfüllt wurde. Das fing schon damit an, dass die alte Einteilung
Deutschlands in Provinzen und Bundesstaaten nicht einfach abgeschafft, sondern
durch die Einteilung in Gaue überlagert wurde, wobei die Grenzen noch nicht
einmal miteinander übereinstimmte“ (828).
Die Organisationsstruktur der NSDAP - "Macht beginnt immer dort, wo Öffentlichkeit aufhört." |
So lebten die Einwohner des Dritten Reiches nicht nur unter den gleichzeitigen und zumeist miteinander konkurrierenden Instanzen von Partei und Staat, von SA und SS, von SS und Sicherheitsdienst, sondern sie wussten auch niemals im gegebenen Augenblick, welche dieser Instanzen gerade die Fassade und welche die wirkliche Macht repräsentierte. "Nur eine Art sechster Sinn, den allerdings die Bewohner totalitärer Länder äußerst schnell entwickeln, konnte ihm sagen, wessen Befehl er wirklich zu gehorchen hatte“ (833).
Es gilt als bewiesen, dass ein Gebäude eine Struktur
haben muss, dagegen eine Bewegung, wenn man
ihre Bedeutung so ernst nimmt, wie es die Nazis getan haben, nur eine Richtung haben kann „und dass jegliche
gesetzliche oder staatliche Struktur für eine immer schneller in eine bestimmte
Richtung sich bewegende Bewegung nur ein Hindernis ist“ (832). Schon vor der Machtergreifung repräsentieren die
totalitären Bewegungen diejenigen Massen, welche nicht
mehr bereit sind, in einem staatlichen Gebäude -
gleich welcher Natur - zu leben, "Massen, die sich in Bewegung gesetzt haben,
um die von den Staaten gesicherten Grenzen gesetzlicher und geographischer
Natur zu überfluten“ (832).
Arendt nach bewegt sich die
Bewegung rein
technisch innerhalb des totalen Herrschaftsapparats dadurch, dass die Führung
das eigentliche Machtzentrum dauernd verschiebt und
in andere, meist Neugeschäften Organisationen
verlegt. So vollzog sich die Verschiebung der
Macht von der SA auf die SS im Anschluss an den Röhm-Putsch, und zwar dadurch,
dass die SS mit der Erschießung der SA-Truppen betraut wurde.
Das Resultat war, „dass abgesehen von dem im
Führer verkörperten Willen es niemals feststehen konnte, wo sich gerade das
Machtzentrum des Herrschaftsapparats befand, und dass niemand sicher sein
konnte, welche Position er in der wirklichen geheimen Machthierarchie einnahm“ (...) „Die einzige Regel, auf die sich jedermann in
einem totalitär beherrschten Land verlassen kann, ist, dass ein Apparat desto
weniger Macht hat, je öffentlicher und bekannter er ist (…) Macht beginnt immer
dort, wo Öffentlichkeit aufhört“ (840).
Der totalen Herrschaft geht es nicht einfach
um die Errichtung eines autoritären Staates, der bereit ist, Freiheit
einzuengen oder zu begrenzen, aber sie niemals abzuschaffen. Ihr Ziel ist vielmehr
die völlige Abschaffung der Freiheit und die Eliminierung der menschlichen
Spontaneität überhaupt. Der totalen Herrschaft geht es auch nicht um
Etablierung eines Cliquen- oder Gangsterregime. Das entscheidende Problem für
die totale Herrschaft besteht darin, zu erreichen, „dass jedes Mitglied der
Bewegung ein hundertprozentiger Bolschewist oder Nazi wird, ohne dadurch
irgendwelche Solidaritätsgefühle mit anderen Nazis und Bolschewisten zu
mobilisieren“ (847).
Abschaffung der individuellen Freiheit und menschlichen Spontaneität |
Dieses System totaler Herrschaft führt
selbstverständlich zu außerordentlichen Einbußen an Leistungsfähigkeit auf
allen Gebieten. In Nazideutschland waren diese Folgen aber deutlich weniger
sichtbar als im Bolschewismus, weil die zwölf Jahre, die das tausendjährige
Reich dauerte, nicht genügten, um mit der großen deutschen Arbeits- und
Leistungstradition fertig zu werden“ (851).
Niederlagen wie die vor Stalingrad (1943)
beschleunigten die Entwicklung des totalen Staates und allmählich begann die
totale Herrschaft sich wirklich aller Lebensgebiete zu bemächtigen und alle
anderen Erwägungen in den Hintergrund zu schieben. So führte die Gefahr, den
Krieg überhaupt zu verlieren, nur dazu, „alle Zweckmäßigkeitsüberlegungen über
Bord zu werfen und alles daranzusetzen, durch totale Organisation die Ziele der
totalitären Rasseideologie rücksichtslos, und sei es auf noch so kurze Zeit, zu
verwirklichen“ (852).
Deutsche Soldaten auf dem Weg in die Gefangenschaft (Stalingrad 1943) |
Betrachtet man die letzten Jahre der Naziherrschaft, aber auch die ersten Jahre der totalitären Diktatur Stalins, die im Jahre 1929 mit einem Fünfjahresplan begann, so wird man den Eindruck nicht los, dass man hier mit der Phase der totalen Herrschaft konfrontiert ist, „die von außen gesehen nur noch einem phantastischen Tollhausstück gleicht, in dem alle Regeln der Logik und Prinzipien der Wirtschaft auf den Kopf gestellt sind“ (854).
Entscheidend für das Verständnis der Nazis,
denen offenbar gar nicht so viel daran lag, den Krieg zu gewinnen, sondern vielmehr
ihre ideologischen Experimente durchführen wollten, ist, was sie selbst wie die
Bolschewisten immer betont haben: „Dass sie das Land, in dem sie zur Macht
gekommen sind, nur als eine Art zeitweiliges Hauptquartier für die
internationale Bewegung auf dem Wege zur Welteroberung betrachten, dass sie
Siege und Niederlagen in Jahrhunderten oder Jahrtausenden berechneten und dass
das Interesse dieser auf Tausende von Jahren abzielenden Bewegung in jedem Fall
über dem Interesse des Landes oder des Staates stehen müsse, den sie gerade
zufällig besetzen“ (854).
Arendt zufolge war es für die `Bewegung´ wichtiger,
„zu demonstrieren, wie man eine Rasse durch Ausmerzung anderer `Rassen´
herstellt, als einen Krieg mit begrenzten Zielen zu gewinnen. Das, was dem
außenstehenden Beobachter wie ein `Stück aus dem Tollhaus´ vorkommt, ist nichts
als die Konsequenz eines absoluten Primats der Bewegung nicht nur über den
Staat, sondern auch über die Nation, das Volk und sogar die eigenen
Machtpositionen“ (855).
So ist die totale Herrschaftsform also vor
allem die Form, in der die totalitäre Bewegung sich des Staats- und
Machtapparats bemächtigt, eine Form, die es ihr ermöglichen muss, als Bewegung
unberührt von der Machtergreifung weiterzuexistieren, „wobei nur das Geheimnis
der öffentlich etablierten `Geheimgesellschaft´ nun gleichsam nachträglich
einen Platz findet und sich dort ansiedelt, wo immer das Machtzentrum der
Herrschaft sich gerade befindet (…) Der Staatsapparat erscheint nun als Frontorganisation
sympathisierender Verwaltungsbeamten, deren innenpolitische Funktion darin
besteht, den bloß gleichgeschalteten Gruppen der Bevölkerung Vertrauen
einzuflößen, und deren außenpolitische Rolle es ist, das Ausland zu betrügen
und an der Nase herumzuführen. Und der Führer als Staatsoberhaupt und Führer
der Bewegung vereinigt wiederum in seiner Person den Gipfel rücksichtsloser
Radikalität und Vertrauen einflößender Mäßigung“ (857).
Totalitäre Machtpolitik ist also keine Machtpolitik
im alten Sinne, auch nicht im Sinne einer noch nie dagewesenen Übertreibung und
Radikalisierung des alten Strebens nach Macht nur um der Macht willen. Hinter totalitärer
Machtpolitik wie hinter totalitärer Realpolitik liegen neue, in der Geschichte
bisher unbekannte Vorstellungen von Realität und Macht überhaupt. „Auf diese
Begriffsverschiebung kommt alles an, denn sie, und nicht bloße Brutalität,
bestimmt die außerordentliche Schlagkraft wie die ungeheuren Verbrechen der
totalen Herrschaft. Es handelt sich bei den totalitären Methoden … um die
völlige Nichtbeachtung aller berechenbaren äußeren Konsequenzen, nicht um
chauvinistische Gräueltaten, sondern um die Nichtachtung aller nationalen
Interessen und die völlige Wurzellosigkeit derer, die sich der Bewegung als
solcher verschrieben haben“ (864f).
Für Arendt ist vollkommen deutlich, dass das,
„was man zu Unrecht oft als den `Idealismus´ der Bewegung beschrieben hat,
nämlich der unerschütterliche Glaube an eine ideologisch-fiktive Welt, die es
herzustellen gilt, die politischen Verhältnisse der Gegenwart tiefer und
entscheidender erschüttert hat, als Machthunger oder Angriffslust es je hätten
tun können“ (865).
"... dass sechzigtausend Mann wirklich eine Einheit sind" (Hitler) |
„Nicht die Ruinen der deutschen Städte und
nicht die Lahmlegung der Industrie“ überzeugten Hitler „von der bevorstehenden
Niederlage; aber als er erfuhr, dass die SS nicht mehr zuverlässig sei, hielt
er den Zeitpunkt für gekommen, sich das Leben zu nehmen“ (866).
Zitate
aus: Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft,
München 2009 (piper)
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