M.F. gewidmet
Alfred North Whitehead (1861 - 1947) |
Weniger bekannt dagegen sind Whiteheads Essays und Vorträge
über Themen der Erziehung und Bildung, die er zwischen 1913 und 1928 zu
verschiedenen Anlässen hielt.
Für Whitehead steht fest, dass eine erfolgreiche
Erziehung und Bildung auf einen vitalen Sinn für Stil abzielt – Stil im Sinne
einer Fähigkeit, die praktische Effektivität in allen Lebens- und Wissenschaftsbereichen
mit ästhetischem Empfinden und Moralität verbindet.
Erziehung und Bildung zielt auf „Kultiviertheit“, die Whitehead
als „gedankliche Aktivität, Empfänglichkeit für Schönheit und Gefühle der
Menschlichkeit“ beschreibt. Totes Wissen oder „passive Ideen“, also Ideen, „die
bloß geistig aufgenommen werden, ohne nutzbar gemacht, geprüft oder in immer
neuen Kombinationen zusammengewürfelt werden“, haben mit Kultiviertheit dagegen
nichts zu tun: „Ein bloß gut informierter Mensch ist der nutzloseste Langweiler
auf Gottes Erde.“
Vielmehr sollte das Kind von Beginn seiner Erziehung die
„Freude an der Entdeckung“ erleben: „Die Entdeckung, die es machen muss,
besteht darin, dass allgemeine Ideen ein Verständnis des Stroms von Ereignissen
bieten, der durch sein Leben fließt der sein Leben ist.“ Was Whitehead mit
dieser Aussage meint, erläutert er am Beispiel der Algebra.
Das Lösen quadratischer Gleichungen ... |
Üblicherweise ist das Erste, das man in der wissenschaftlichen
Ausbildung mit einer Idee macht, ihre Wahrheit zu beweisen. Für Whitehead
dagegen ist es nicht wesentlich, dass die erste Bekanntschaft mit einer Idee
über den Beweis ihrer Wahrheit erfolgt. „immerhin bedeutet ihre Behauptung
durch die Autorität respektabler Lehrer für den Anfang eine ausreichende
Evidenz.“
Wichtig für Whitehead ist der Beweis der Bedeutsamkeit einer
Idee für die Praxis, weil Erziehung und Bildung letztlich „in der Aneignung der
Kunst der Nutzbarmachung von Wissen“ bestehen.
Dem Schüler eine bestimmte Menge an passivem Wissen
einzutrichtern ist einfach: „Sie nehmen ein Textbuch und lassen die Schüler es
lernen. So weit so gut. Das Kind weiß dann, wie man eine quadratische Gleichung
löst.“ Dieses Vorgehen wird lerntheoretisch normalerweise wie folgt begründet:
„Der Geist ist ein Werkzeug. Erst wird er geschärft und dann benutzt; die
Aneignung der Fähigkeit, eine quadratische Gleichung zu lösen, ist ein
notwendiger Bestandteil des Prozesses, den Geist zu schärfen.“
Dieses Vorgehen beruft für Whitehead jedoch auf einem
schwerwiegendem Irrtum: „Der Geist ist niemals passiv; er ist unaufhörliche
Aktivität, feinfühlig, aufnahmefähig, empfänglich für Stimuli. Man kann sein
Leben nicht aufschieben, bis man ihn geschärft hat.“
Aus dieser Aussage leitet Whitehead nun für den Lernprozess
folgende Konsequenzen ab: „Welches Interesse auch immer mit dem eigenen
Unterrichtsgegenstand verbunden ist, es muss hier und jetzt wachgerufen werden.
Welche Fähigkeiten auch immer man beim Schüler gerade stärkt, sie müssen hier
und jetzt geübt werden. Welche Möglichkeiten des geistigen Lebens auch immer
die eigene Lehre vermitteln sollte, sie müssen hier und jetzt aufgezeigt
werden.“
Warum also sollen Kinder lernen, eine quadratische Gleichung
zu lösen? Die Antwort ist einfach: „Quadratische Gleichungen sind Bestandteil
der Algebra, und Algebra ist das intellektuelle Werkzeug, das geschaffen wurde,
um die quantitativen Aspekte der Welt klar werden zu lassen. Dies ist
unabweisbar. Die Welt ist durch und durch mit Quantität infiziert. Sinnvoll zu
reden bedeutet, in Quantitäten zu reden. Es hat keinen Zweck zu sagen, dass das
Land groß ist – wie groß? Es hat keinen Zweck zu sagen, dass Radium knapp ist –
wie knapp?“ Quantitäten kann man nicht ausweichen. Man könne sich zwar in
Poesie und Musik flüchten, aber dann würden Quantität und Zahl einem in Form
von Rhythmen und Oktaven gegenüberstehen.
Im Hinblick auf die Gestaltung der Lehrpläne käme es daher
darauf an, sich zunächst über diejenigen Aspekte der Welt klar zu werden, die
einfach genug sind, um in die Allgemeinbildung eingeführt zu werden. Erst dann
„sollte ein Plan für Algebra konzipiert werden, der seine Exemplifizierung etwa
in diesen Anwendungen findet.“
... und die Nützlichkeit der Algebra im Alltag. |
Durch praktischen Bezug der Ideen kann das gelingen, was
Erziehung nach Whitehead vermitteln muss, und zwar „ein vertrautes Gespür für
die Macht von Ideen, die die Schönheit von Ideen und für die Struktur von
Ideen, zusammen mit einem gewissen Korpus an Wissen, der einen ganz eigenen
Bezug zu dem Leben des Wesens hat, das ihn besitzt.“
Zitate
aus: Alfred North Whitehead: Die Ziele
von Erziehung und Bildung, Berlin 2012 (suhrkamp)
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