Fortsetzung vom 12.04.2018
Im Jahre 1961 erschien Elias Canettis Buch „Masse und Macht“, eines der faszinierendsten und umstrittensten Bücher der Weltliteratur – bis heute.
Elias Canetti |
Für Canetti wird jeder Mensch von der Angst vor dem
eigenen Tod gequält. Allein in der Masse kann der Einzelne seine Todesfurcht
für wenige Augenblicke vergessen. Und noch mehr: er triumphiert über seine
Todesfurcht, wenn er andere überlebt.
Canettis Gedanken waren für viele Leser der damaligen Zeit schwer zu verdauen. Doch die Beziehung von Macht und Tod, wie Canetti sie
beschreibt, ließe sich in gewissem Sinne auch auf die heutigen Verhältnisse
übertragen. Zahlreiche Intellektuelle und Wissenschaftler wurden von Canetti beeinflusst.
So veröffentlichte 2017 der japanische Medien- und Massentheoretiker Shinichi Furuya
seine Dissertation mit dem Titel „Masse, Mensch und Medium“.
Darin schreibt Furuya über Canetti: „Sein Buch
markiert die Umwandlung von der „Menschenmasse“ zum „Massenmenschen“, der die
Massengesellschaft und Massenkultur ausmacht.“
Diese Massengesellschaft und Massenkultur ist
ohne Massenmedien nicht denkbar, wie Furuya schreibt: „Wer die wirkliche
Demonstration organisieren oder aufhetzen möchte, ist auf die elektronischen
Medien angewiesen, und wer die Massendemonstration oder die Massenveranstaltung
in der Live-Sendung von Medien sieht, möchte sich daran beteiligen. Deswegen
ist es für die Macht unverzichtbar, das Bild von Massen zu kontrollieren, weil
es die Anziehungskraft auf das Publikum ausübt.“
Die Medienmasse und die wirkliche Masse auf der
Straße bedingen einander. Darüber hinaus erfüllen Medien für Canetti aber auch
die Funktion realer Massen, ohne dass diese sich tatsächlich physisch bilden
müssten. An einer Stelle in „Masse und Macht“ beschreibt er den Medienkonsumenten,
speziell den Zeitungsleser, als Teil einer Hetzmasse. Früher waren Hetzmassen
jene, die genussvoll einer Hinrichtung beiwohnten oder sich zusammenfanden, um
ein Opfer in den Tod zu treiben. Auch der moderne Medienkonsument ist für
Canetti Teil einer solchen Hetze. Mit dem einzigen Unterschied, dass er nicht
körperlich beteiligt ist.
Massenmedien und Medienmasse |
Das gilt heute, in Zeiten des Internets, und
das galt auch zu Canettis Zeit in den 1960er Jahren: „Man hat es nur, wie
alles, viel bequemer. Man ist für nichts verantwortlich, nicht fürs Urteil,
nicht für den Augenzeugen, nicht für seinen Bericht und auch nicht für die
Zeitung, die den Bericht gedruckt hat.“
So wird der Medienkonsument Teil einer modernen
Hetzmasse, die aus der Ferne und anhand von schrecklichen Nachrichten über den
Tod anderer triumphieren kann. Die Entfernung zu den Ereignissen lässt den
Medienkonsumenten abstumpfen, der Tod anderer ist für ihn nur eine gewöhnliche
Nachricht – Passivität und Immunität gegenüber dem Horror des Weltgeschehens.
Die Masse der Medienkonsumenten ist auch eine
unsichtbare Masse. Sie muss nicht körperlich anwesend sein, um über den anderen
zu triumphieren. Zu den unsichtbaren Massen zählte Canetti ursprünglich die
Masse der Toten, der Ahnen oder Geister und Teufel, die die Menschen bedrohen
und die durch die Religionen gezähmt werden müssen. der, die online Masse mit
der unsichtbaren Masse zu einigen.
Keine politische Debatte mehr ohne Diskussionen
in den sozialen Medien. Im Netz finden sich schnell und anonym Massen von Usern
zusammen. Online-Hetze, Cyber-Mobbing oder Shitstorms treffen einzelne Opfer
und treiben sie mitunter sogar in den Tod. Anonyme, quasi „unsichtbare“
User-Massen können heute für ganz reale Gefahren und Schäden sorgen - von der
digitalen Hetz-Kampagne über den Hack staatlicher Einrichtungen bis zum Fluten
vernetzter Systeme mit Datenmassen.
Für den japanischen Medientheoretiker Shinichi
Furuya kommt im digitalen Zeitalter noch etwas Entscheidendes hinzu: „Inzwischen
verwandelt sich die Menschenmasse in die unsichtbaren Datenmassen, die sowohl
für das Marketing des Unternehmens als auch für die institutionelle
beziehungsweise administrative Verwaltung von großer Bedeutung sind. Zugleich
besteht der Massenmensch als Quelle aus den Massendaten, die je nach
unterschiedlichen Zwecken in Datenbanken versammelt und verwendet werden
können. Damit wird das Individuum als Ungeteiltes in Datenmengen geteilt, die
nicht nur von der politischen, sondern von der kommerziellen Macht kontrolliert
und überwacht werden können.“
Diese Entwicklung hatte Canetti beinahe
prophetisch vorhergesagt. Im Epilog von „Masse und Macht“ schreibt er: „Wenn es
einen Glauben gibt, dem die lebenskräftigen Völker der Erde eins ums andere
verfallen, so ist es der Glaube an die Produktion, den modernen Furor der
Vermehrung. In diesem Punkte gleicht er, wenn auch nur oberflächlich, den
Universalreligionen, die auf jede Seele aus sind. Alle Menschen müssten eine
Art von idealer Gleichheit erlangen, nämlich als zahlungskräftige und willige
Käufer.“
„Der Mensch als reine Masse von Konsumenten -
eine Dystopie, vor der Canetti mahnte. Dieser Mensch ist nur noch von Belang,
insofern er all das Produzierte auch brav konsumiert. Seine Vermehrung dient
nur dazu, die sich vermehrende Produktion zu fördern. Mit der Digitalisierung
ist der Mensch im 21. Jahrhundert zudem selbst zur Datenmasse geworden - in
einem Ausmaß, das Canetti wohl nie geahnt hätte. Was der Mensch an Datenmengen
abwirft, wird von Konzernen und Politik ausgeschlachtet.
Cybermobbing |
Vielleicht kann man über diese neuen,
unsichtbaren Datenmassen ähnlich denken wie Canetti über die unsichtbaren
Massen früherer Generationen: einst waren es Teufel, Geister oder tote Ahnen,
die die Menschen bedrohten und von den Religionen gezähmt werden mussten. Heute
bedrohen uns die unsichtbaren Datenmassen. Was sie für uns bedeuten und was sie
aus uns machen sind zentrale gesellschaftliche Fragen.“
In „Masse und Macht“ hat Canetti gezeigt, wie
gefährlich ungezähmte Massen werden können, und wie schnell Massen zu
diktatorischen Zwecken missbraucht werden. Für Canetti waren Demokratie und
Parlamentarismus brüchige Errungenschaften. Die Frage nach dem tyrannischen
Machthaber hatte sich für ihn nicht erledigt.
„Masse und Macht“ ist wie ein Werkzeugkasten für unterschiedliche
Gedanken und Ideen, eine geschlossene Theorie liefert das Buch nicht. Aber es
enthält eine Warnung an die Menschheit: Die Beziehung der Menschen, der Politik
zum Tod ist nach wie vor die gleiche geblieben.
Zitate aus: Lukas Meyer-Blankenburg: Elias Canetti, „Masse und Macht“ neu entdeckt, SWR2 Wissen, Sendung vom 08.03.2018, Redaktion: Anja Brockert, Regie: Andrea Leclerque, Produktion, SWR 2018
Weitere Literatur: Elias Canetti, "Masse und Macht", Hanser Verlag, München 1994 - Elias Canetti, "Das autobiographische Werk", Verlag Zweitausendeins, Frankfurt a.M. 2001 - Elias Canetti, "Das Hörwerk 1953-1991: sämtliche Lesungen eigener Texte, Gespräche, Vorträge", Verlag Zweitausendeins, Frankfurt a.M. 2006 - Shinichi Furuya, "Masse, Macht und Medium", Transcript Verlag, Bielefeld 2017
Weitere Literatur: Elias Canetti, "Masse und Macht", Hanser Verlag, München 1994 - Elias Canetti, "Das autobiographische Werk", Verlag Zweitausendeins, Frankfurt a.M. 2001 - Elias Canetti, "Das Hörwerk 1953-1991: sämtliche Lesungen eigener Texte, Gespräche, Vorträge", Verlag Zweitausendeins, Frankfurt a.M. 2006 - Shinichi Furuya, "Masse, Macht und Medium", Transcript Verlag, Bielefeld 2017
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