Donnerstag, 5. April 2018

Elias Canetti und die Masse - Teil 2


Fortsetzung vom 29.03.2018

Im Jahre 1961 erschien Elias Canettis Buch „Masse und Macht“, eines der faszinierendsten und umstrittensten Bücher der Weltliteratur – bis heute.

Elias Canetti ist der Sohn sephardischer Juden. Er wird 1905 geboren und wächst er zunächst in Bulgarien und in England auf. Nach dem frühen Tod seines Vaters zieht der siebenjährige Junge mit seiner Mutter und den beiden Brüdern nach Wien. Dort lernt er innerhalb kürzester Zeit Deutsch. Mit gerade einmal 25 Jahren vollendet er sein Romandebüt „Die Blendung“ über den Büchersammler Peter Kien, der dem Irrsinn verfällt und sich mitsamt seiner Bibliothek verbrennt.

„Die Blendung“ wird ein internationaler Erfolg.
Canetti flieht 1938 vor den Nazis nach London, inzwischen ist er verheiratet, und widmet sich in den kommenden Jahrzehnten voll und ganz der Arbeit an „Masse und Macht“.

„Er beginnt, sich für verschiedenste Massen-Phänomene zu interessieren, sammelt historische Anekdoten und literarische Erzählungen von Massen-Ereignissen. Vor allem begeistern ihn die Mythen und Sagen unterschiedlichster Kulturen. Und er lässt seine eigenen Erfahrungen und Beobachtungen einfließen. Herauskommt, nach mehr als zwanzig Jahren Arbeit, ein ebenso umfangreiches wie ungewöhnliches Buch, reich an Gedanken, Bildern und Geschichten.

Aber auch eines, das sich bis heute einem eindeutigen Verständnis entzieht. Denn Canetti wollte ein, wie er es nannte, Menschheits-Buch schreiben. Das bedeutete für ihn: ein Buch gegen den Krieg und speziell gegen den Faschismus.

Als dann „Masse und Macht“ endlich 1961 erscheint, interessiert sich ausgerechnet die deutsche Öffentlichkeit kaum für das Buch. Das liegt zum einen am Thema, von dem die meisten nach dem Krieg nichts hören wollen. Es liegt vermutlich aber auch am Stil des Autors, mit dem die deutschen Akademiker und Feuilletonisten wenig anzufangen wissen. Den einen ist es nicht wissenschaftlich, den anderen nicht literarisch genug.

„Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes.“ So beginnt „Masse und Macht“. Ein markanter Anfangssatz - und eine kühne Behauptung. Denn Canetti postuliert: Der Mensch hat Angst davor, andere Menschen, Fremde, zu berühren. Er scheut den direkten Körperkontakt, versucht ihn im Alltag zu vermeiden und zieht sich, wenn möglich, in sein Haus oder seine Wohnung zurück. Allein in der Masse kann er diese Berührungsfurcht verlieren.

In den Worten Canettis: „Wenn er auf allen Seiten von anderen Menschen umgeben ist, so dass er eigentlich gar nicht mehr weiß, wer es ist, der ihn da bedrängt; in diesem Augenblick fürchtet er sich nicht mehr vor der Berührung durch andere. Das ist das Umschlagen seiner Berührungsfurcht.“

In diesem Moment, schreibt Canetti, streift der Einzelne seine Zwänge und Sorgen ab. Er hebt die Distanz zu anderen Menschen auf und wird mit ihnen zu einer Masse: „Und ich glaube einer der Gründe, warum Menschen gern zu Masse werden, sich gern in eine Masse begeben, ist die Erleichterung, die sie über dieses Umschlagen der Berührungsfurcht empfinden.“

Menschen werden nach Canetti deswegen zur Masse, weil sie in ihr Dichte spüren. Das heißt, das sie sonst terrorisierende Gefühl einer Hautgrenze wird in der Masse zu einem Lusterlebnis. Im Gegensatz zu anderen Theoretikern seiner Zeit versteht Canetti Masse auch positiv. Massen, wie etwa bei Sportveranstaltungen oder auf Festivals, können berauschend und befreiend wirken. In revolutionären Massen können Menschen Unterdrückungen abschütteln. Erste Bedingung dafür ist die Dichte einer Masse.

Die Dichte der Masse

Die Menschen, das ist die zweite Eigenschaft der Masse, werden zu Gleichen. Das heißt, die gesellschaftliche Struktur, die auf Ungleichheit, auf sozialen Unterschieden beruht, wird im Sinne einer Körper Sensation, einer sensationellen Erfahrung der Gleichheit aller, aufgehoben.

Canetti dazu: „Ein Kopf ist ein Kopf, ein Arm ist ein Arm - auf Unterschiede zwischen ihnen kommt es nicht an. Um dieser Gleichheit willen wird man zur Masse.“


(Fortsetzung folgt) 


Zitate aus: Lukas Meyer-Blankenburg: Elias Canetti, „Masse und Macht“ neu entdeckt, SWR2 Wissen, Sendung vom 08.03.2018, Redaktion: Anja Brockert, Regie: Andrea Leclerque, Produktion, SWR 2018


Weitere Literatur: Elias Canetti, "Masse und Macht", Hanser Verlag, München 1994  -  Elias Canetti, "Das autobiographische Werk", Verlag Zweitausendeins, Frankfurt a.M. 2001   -  Elias Canetti, "Das Hörwerk 1953-1991: sämtliche Lesungen eigener Texte, Gespräche, Vorträge", Verlag Zweitausendeins, Frankfurt a.M. 2006  -  Shinichi Furuya, "Masse, Macht und Medium", Transcript Verlag, Bielefeld 2017


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