Im Jahre 1961 erschien Elias Canettis Buch
„Masse und Macht“, eines der faszinierendsten und umstrittensten Bücher der
Weltliteratur – bis heute.
Elias Canetti |
Kurz nach seinem Erscheinen interviewt der berühmte
Psychoanalytiker und Schriftsteller Alexander Mitscherlich Elias Canetti für
den Bayerischen Rundfunk: „Wir haben mittlerweile die Masse nicht nur gesehen
in einer Großstadt, wo sie plötzlich eine Art von Terror-Regime entwickelt,
sondern wir haben sie in mehr welthistorischen Funktionen gesehen, in
zahlreichen großen politischen Bewegungen der letzten Jahrzehnte. So wird uns
heute wieder auferlegt, die Frage nach der Masse, nach ihrem Ursprung, nach
ihrer Struktur und nach ihrer weltgeschichtlichen Bedeutung neu zu stellen.“
Mitscherlich hat hörbar Schwierigkeiten mit dem
Buch. Das fängt schon bei dem Begriff der Masse an: „Was ist nun eigentlich
Masse und speziell: Wie versteht er Masse und welches sind die neuartigen
Gedanken, die er mitbringt?“
Für Canetti ist dieser Begriff gar nicht so
kompliziert: „Es liegt mir einmal daran, die Masse sozusagen von außen zu
zeigen, so wie sie einem Menschen erscheint, der sie beobachtet, der vielleicht
zufällig in sie hineingerät ohne an ihr beteiligt zu sein.
Ich will die verschiedenen Formen, die die
Masse annehmen kann, darstellen; (...) Ich glaube, dass es immer massenähnliche
Erscheinungen gegeben hat. Ich will die Masse auch von innen betrachten,
zeigen, was sie im Menschen anrichtet, der sich unter ihrer Einwirkung
befindet; ganz besonders aber wollte ich zeigen, wie sie mit Problemen der
Macht zusammenhängt, die in unserer Zeit ja eine große Rolle gespielt haben.“
Seit der Französischen Revolution hat der
Begriff „Masse“ Konjunktur. Man konnte hier gut erkennen, wozu aufbegehrende
Massen in der Lage sind. „Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts bildeten
sich mit der zunehmenden Industrialisierung neue Massen. Arbeiter rüttelten an
den bestehenden Verhältnissen, Aufstände und Revolutionen erschütterten Europa.
Mit dem Faschismus
entstand eine neue Bewegung, die die Massen in bis dahin ungeahnter Weise
mobilisierte und schließlich im Massenmord endete.“
Gustave Le Bon Psychologie der Massen (1895) |
Literarische Untersuchungen zur Masse sind um
die Jahrhundertwende äußerst populär. Gustave Le Bon veröffentlicht 1895 seine
Studie „Psychologie der Massen“. Sigmund Freud schreibt zwei Jahrzehnte später
über „Massenpsychologie und Ich-Analyse“. Kurz darauf, 1929, publiziert der
spanische Philosoph Ortega y Gasset „Der Aufstand der Massen“.
Für Canetti aber ist die Masse kein modernes
Phänomen. „Sie ist eine anthropologische Konstante. Der Mensch sucht und
braucht die Masse. Er ahmt darin die Tiere nach, die sich in Herden
zusammentun, aber auch Elemente der Natur wie Feuer und Wasser. Dieser eher
assoziative und essayistische Ansatz Canettis weicht von den wissenschaftlichen
Untersuchungen seiner Vorgänger ab. Er macht das Buch besonders - und für
manche Kritiker auch besonders problematisch.“
Das liegt nicht zuletzt daran, dass Canetti anthropologische,
ethnologische, philosophische und psychologische Überlegungen miteinander
verschränkt: „Dazu möchte ich sagen, dass ja das Erlebnis der Masse und der
Macht in unserem Jahrhundert ein so dringliches war, eines, von dem jeder so
unmittelbar betroffen war, dass man schon aus diesem Grund auf eine ganz andere
Art an die Bewältigung eines solchen Problems herangehen muss, als es
eigentlich nach den Prinzipien sauberer Einzel-Wissenschaft gegeben ist.“
Natürlich kennt Canetti die berühmten
Massen-Theoretiker seiner Zeit. Aber in „Masse und Macht“ erwähnt er sie mit
keinem Wort. Er will bei Null anfangen und herausfinden, warum Menschen zur
Masse werden. Auslöser ist eine persönliche Erfahrung, die Canetti als junger
Mann gemacht hatte: „Das war in Wien, in den 20er Jahren beim
Justizpalastbrand, wo er mit demonstriert hat als Student und das alles erlebt
hat. Da hat einfach eine protestierende Masse gegen ein Unrechtsurteil den
Justizpalast angezündet. Und das ist dann sehr brutal niedergeschlagen worden.
Also es gab von dem Wiener Polizeipräsidenten einen Schießbefehl, die haben
hundert Leute erschossen, zum Teil auch in die Masse hinein, ganz ungezielt.
Und Canetti hat das alles gesehen und war auf Seite dieser protestierenden
Masse und hat sich da mit treiben lassen und mit demonstriert.“
In seiner Autobiografie „Die Fackel im Ohr“ beschreibt
Canetti später diese Erfahrung mit folgenden Worten: „Ich wurde zu einem Teil
der Masse, ich ging vollkommen in ihr auf, ich spürte nicht den leisesten
Widerstand gegen das, was sie unternahm.“
Canetti ist offensichtlich fasziniert davon zu
erleben, wie er in der Masse aufgeht. Aber er sieht auch, wie sich vor seiner
Haustür immer öfter die bedrohlichen Massen der Nationalsozialisten versammeln.
(Fortsetzung folgt)
Zitate aus: Lukas Meyer-Blankenburg:
Elias Canetti, „Masse und Macht“ neu entdeckt, SWR2 Wissen, Sendung vom 08.03.2018,
Redaktion: Anja Brockert, Regie: Andrea Leclerque, Produktion, SWR 2018
Weitere Literatur: Elias Canetti,
"Masse und Macht", Hanser Verlag, München 1994 - Elias
Canetti, "Das autobiographische Werk", Verlag Zweitausendeins,
Frankfurt a.M. 2001 - Elias Canetti, "Das Hörwerk 1953-1991:
sämtliche Lesungen eigener Texte, Gespräche, Vorträge", Verlag
Zweitausendeins, Frankfurt a.M. 2006
- Shinichi Furuya, "Masse,
Macht und Medium", Transcript Verlag, Bielefeld 2017
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