Bei der Frage, ob es denn besser sei für einen
Fürsten, grausam oder mildtätig beziehungsweise gnädig zu sein, erfährt man,
dass auch diese Wertzuschreibungen nach der Auffassung des Autors relativ
waren. Cesare Borgia, so Machiavelli, galt gemeinhin als grausam. Er habe aber
doch die Provinz Romagna zusammengehalten, und zwar in Einigkeit, Frieden und
treuer Unterwürfigkeit, während die Florentiner es schändlicherweise geschehen
ließen, dass Pistoja zerstört wurde, nur um nicht als grausam zu gelten.
Cesare Borgia |
Unzeitige Milde, so Machiavelli, rufe zuweilen
große Unordnungen hervor, die Mord, Raub und Plünderungen erzeugten, was
eventuell ein ganzes Gemeinwesen treffe, während die Exekutionen der Fürsten
gegebenenfalls nur Einzelne träfen. Also ganz sicher, ja, ein Fürst dürfe auch
den Vorwurf der Grausamkeit keineswegs scheuen, um seine Untertanen in
Gehorsamkeit und Einigkeit zu erhalten.
Machiavelli schrieb seine Abhandlung über den
Fürsten, wie er selbst äußerte, "mit verkrüppelten Händen", also
unmittelbar nach seinen Folterungen, denen er in der Gefangenschaft nach dem
Anti-Medici-Putsch ausgesetzt war. Auch das möge man einbeziehen, wenn man den
radikalen Duktus des Buches bedenkt, ausgehend von seinem Autor. Einzubeziehen
ist aber auch die offenkundige Heuchelei seines Zeitalters, deren Herrscher im
Grunde genau diese Art Politik machten, die der Autor nur wiedergibt, während
sie diese aber mit pseudo-moralischen Konstrukten verbrämten, die allesamt aus
der Theologie kamen.
Die Zeit bedurfte dringend einer politischen
Neuorientierung, da auch die Geschichtskonzeptionen sich einem allmählichen
Säkularisierungsprozess unterzogen. Dieser zielte auf eine vorbehaltlose und
diesseitsgerichtete Erforschung der Gesetzmäßigkeiten, die sowohl den Gang der
Geschichte als auch die Gesetze der Politik und des Staatswesens prägten – mit
dem Ziel, sie am Ende beherrschbar zu machen.
Auch im Wandel vom mittelalterlichen
Ständestaat zum neuzeitlichen Flächenstaat war es weder möglich, die antiken
Staatstheorien, die in der Renaissance eine Wiedergeburt erlebten, eins zu eins
zu übernehmen, noch den mittelalterlichen Wertekanon mit seiner klar
gegliederten Weltordnung unverändert stehen und gelten zu lassen. Die neue
Dynamik, die namentlich von einem veränderten Menschenbild herrührte, passte in
die Systeme nicht mehr hinein – was der Autor hier schonungslos offenlegte.
Dabei ging es ihm aber ganz sichtbar auch um
ein Offenlegen der Scheinheiligkeit – weltlicher und geistlicher Macht
gleichermaßen. Machiavelli macht tabula rasa mit der christlichen Demut und dem
christlichen Tugendkatalog im Sinne von Glaube Liebe und Hoffnung, der obsolet
ist, um auf erfolgreiche moderne Staatskunst angewendet zu werden. Wenn dies in
den zeitgenössischen Fürstenspiegeln seitens der Humanisten noch immer getan
wurde – die Beschwörung eines christlich-platonischen Idealbildes, in dem sich
sämtliche Wunscheigenschaften des "guten Fürsten" spiegelten –, dann
war dies nach der Auffassung Machiavellis eigentlich Heuchelei.
Erasmus von Rotterdam |
Die berühmten Humanisten der Zeit, die sich für
solcherlei fürstliche Erziehungs-bemühungen hergaben, etwa Erasmus oder auch der
spätere englische Lordkanzler Sir Thomas More, waren im Allgemeinen frustriert,
weil die von ihnen belobhudelten und im besten Sinne ermutigten Fürsten am Ende
doch ihre durchaus unchristliche und idealfreie Politik machten: Eroberungs-
und Expansionspolitik, Kriegsführung, Pracht-entfaltung, Günstlingswirtschaft –
und sich gegen ihre sämtlichen Vorschläge reichlich immun zeigten.
Was sollte das also alles mit der Propagierung
der fürstlichen Mildtätigkeit, Großmut, Mäßigkeit, Weisheit, Besonnenheit,
Friedfertigkeit, wenn man doch wusste, dass die meisten Fürsten eher das
Gegenteil taten und waren und, sofern sie sich tatsächlich milde und
friedfertig gaben, strenggenommen nicht taugten für ihre Rolle als
Staatsführer?!
Die christliche Defensivmoral war so ungeeignet,
wie sie nur sein konnte, um in derart entfesselten Zeiten ein überantwortetes
Gemeinwesen vor Angriffen zu schützen und nach außen zu sichern. Und was das
Menschenbild anbelangt, so war der Staatstheoretiker Machiavelli weit mehr auf
der Linie des späteren Thomas Hobbes, der den englischen Liberalismus geprägt
hat, als des Sozialromantikers Jean-Jacques Rousseau, Urvater der europäischen
Linken.
Entsprechend waren auch die rabiaten Mittel des
Herrschers gerechtfertigt, wenn man sich in die innere Logik des Textes begab,
denn die Menschen verdienten es schließlich nicht anders; sie waren auch nicht
besser als ihre Machthaber, und sie wussten dies auch.
Wahrhaftigkeit und Hintersinn - je nach necesitá |
"Man darf nämlich gar wohl sagen",
meint Machiavelli, "alle Menschen sind undankbar, unbeständig, heuchlerisch,
furchtsam und eigennützig. Solange man ihnen Wohltaten erzeigt, ohne sie zu
brauchen, bieten sie Vermögen, Leben, Kinder und alles zum Dank an. [ ]
Brauchst du sie aber, dann empören sie sich und nichts ist dem, der
unbedachtsam und ohne sonstige Vorkehrungen auf ihr Wort baut, gewisser als
sein Verderben.
Man verdient wohl die Freundschaft derer, welche man durch
Wohltaten und Edelmut gewinnt, aber man besitzt sie nicht, und kann daher nie
im Notfall auf sie rechnen. Ohnehin wagen es die Menschen weniger, jene zu
beleidigen, welche sie fürchten, als jene, welche sie lieben. Liebe wird bloß
durch das Band des Anstands erhalten, welches die Menschen, da sie schlecht
sind, jedesmal zerreißen, wenn sie ihren Vorteil anderwärts finden; Furcht aber
gründet sich auf die Vorstellung eines zu erwartenden Übels, und diese hört
niemals auf."
Zitate aus: Sabine Appel: Gierig nach Macht - der Machiavellismus, SWR2 Wissen, Sendungen vom 5. und 12. November 2017
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