Luther war durchaus ein Wegweiser der Aufklärung
und der Bildung, insofern als er an der Mündigkeit des Menschen weit vor der
Aufklärung interessiert war. Selbstverständlich war das souveräne „Subjekt“,
das sich entschließt, sich seine Welt selbst zu erfinden, in der frühen Neuzeit
überhaupt noch nicht denkbar. Das galt übrigens auch für alle anderen
Humanisten und auch für die Renaissance-Philosophen.
So entstand Luthers Freiheitsforderung nicht aus unserer
heutigen Vorstellung des „autonomen Individuums“ heraus, sondern aus der Idee,
dass jeder Einzelne unmittelbar und unvertretbar vor Gott und seinem Gewissen
stehe.
Martin Luther |
Das ist rückblickend für die Geschichte der Aufklärung und
der Erfindung des Bürgertums nicht unerheblich, dass Luther nicht in Ständen
dachte, sondern den Gedanken vertrat, dass Gott alle an ihren spezifischen Ort
beruft, auch in die Berufen. Die entscheidende Frage ist dann „Wo stellt Gott
mich hin?“ und eben nicht „In welchem Stand bin ich geboren?“ Und das ist
wiederum eine Idee, die später dann von den großen Aufklärern im 18.Jahrhundert
aufgenommen werden, die dann sowas wie eine frühbürgerliche Ordnung vorprägen.
Das würde bedeuten: Auf dem Weg zum gebildeten, mündigen
Bürger haben der katholische Mönch Martin Luther und der evangelische Philosoph
Immanuel Kant dasselbe Ziel. Sie kommen nur von unterschiedlichen
Ausgangspunkten: Auf der einen Seite steht Martin Luthers unvertretbare Gewissensverantwortung
– „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ – auf der anderen Seite Immanuel
Kants kategorischer Imperativ – „Handle nur nach der Maxime, von der du wollen
kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“
Die Behauptung, Luther habe eine herausgehobene Position in
der Bildungs- und in der Aufklärungsgeschichte, ist also durchaus zutreffend.
Ausgesprochen glücklich war der Umstand, dass Luther mit
Melanchthon einen kongenialen Partner hatte, mit dem er sich hervorragend
verstand. Es war Melanchthon, der dafür sorgte, dass humanistische
Bildungsauffassungen mit in die Reformation Eingang gefunden haben.
Phillip Melanchthon |
Aber was das Eigen-ständige Luthers war: Dass das alles auch
das Volk erreichen sollte, das Evangelium fürs Volk, und dass das Volk gebildet
sein soll! Was er mit hineingebracht hat in diese ganze Bildungsbewegung war
etwas Nicht-Elitäres, etwas Emanzipatives. Man könnte sagen: Was die politische
Freiheit für die Französische Revolution war, das ist die religiöse Freiheit
für die Reformation.
Nicht unterschätzten darf man gleichwohl das Interesse der
deutschen Fürsten, die sich nicht nur einfach „von Rom“ lossagen wollten – nicht
zuletzt, um das Eigentum der Kirchen und Klöster an sich zu ziehen. Daher genoss
Luther deren Schutz. Die Kritik an Luther wendet ein, dass er im Gegenzug die
Religion an die Fürsten verpfändet. Aus dem mittelalterlichen Gegensatz von
Staat und Kirche wird bei Luther nun die Staatskirche der Neuzeit. Luther ruft
im Interesse der Fürsten zum Kreuzzug gegen die Bauern auf. Mit Demokratie hat
Luther offensichtlich nichts am Hut.
Man muss allerdings unterscheiden zwischen der frühen Phase
Luthers, wo er offen war gegenüber Widerstand und Widerspruch und dem späten
Luther, der sehr desillusioniert und frustriert war. Am Anfang war die
Reformation ja eine kirchliche Erneuerungsbewegung zurück zum „ursprünglichen
Christentum“. Daraus entwickelte sich dann sowas wie eine Fürstenreformation,
d.h. plötzlich ist die Obrigkeit im Spiel. Nun geht es um Ordnungsgefüge, um
Macht und um innere Sicherheit.
Vielleicht darf man einfach nicht vergessen, dass Luther natürlich
von seinem Weltbild her noch im Mittelalter verhaftet war.
Heute gibt es das Grundrecht auf Gewissensfreiheit. Sucht
man bei Martin Luther und der Reformation nach Samenkörnern für die später
heranreifende Aufklärung, dann kommt unweigerlich der Vorwurf, dass die
politische Verwirklichung der Gewissensfreiheit und die daraus abgeleiteten
Menschenrechte jahrhundertelang oft genug gegen die Kirchen durchgeboxt werden
mussten! Gegen die katholische bis tief ins 20.Jahrhundert hinein; aber 1789
auch gegen die evangelisch-calvinistische und 1848 gegen die
evangelisch-lutherische.
Die Idee der Menschenrechte verdankt sich auch Impulsen der Reformation |
Und dennoch verdankt sich die Idee der Menschenrechte Impulsen
der Reformation. Oft kamen die Impulse von Minderheitenkirchen, von
Vertriebenenkirchen, die dann in den Vereinigten Staaten oder sonst wo neu
anfangen mussten, z.B. die Mennoniten und Waldenser. Die haben schon sehr früh verstanden,
dass das eine Überlebensfrage wird, dass sie als Minderheiten anerkannt sind.
Hier liegt die Verbindung zu Luther und seiner besonderen
Sicht des Menschen: Es gibt keinen Menschen, der vom Menschsein ausgeschlossen
ist! Es gibt keine Eigenschaft, die den Menschen in besonderer Weise zu seinem
Menschsein in voller Würde befähigt, sondern diese Würde trifft auf alle
Menschen zu, in allen Formen, zu Beginn des Lebens, am Ende des Lebens.
Luther hatte ein sehr realistisches Verhältnis zum Menschen,
weder will er etwas schönreden, noch etwas schlechtreden. Luther versteht den
Menschen ganz realistisch als jemanden, der hin und her gerissen ist zwischen Gefühlen
und seinem klugen Verstand, überwältigt von negativen Energien und der
Bereitschaft, „ein netter Nachbar zu sein.“ Als Menschen haben wir ganz ambivalente
Möglichkeiten: Zerstörerische und großartig schöpferische Möglichkeiten.
Luther als Wegbereiter der Gewissensfreiheit und
bürgerlicher Freiheiten? Die ganze Reformation, „geht uns voraus“, meint
Joachim Gauck.
Zitate aus: Andreas Malessa: Luther - Wegbereiter
der Gewissensfreiheit?, SRW2 Wissen, Sendung vom 16. März 2017
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen