Bertrand Russell (1872 - 1970) |
„Philosophie“ bedeutet bekanntlich „Liebe zur Weisheit“ –
und als solche müssen wir sie uns als Teil der Allgemeinbildung aneignen. Diese
Ansicht vertritt zumindest der britische Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell.
Natürlich sei die Philosophie als Allgemeinbildung nicht
identisch mit der der Philosophen vom Fach, schließlich würde man nicht nur in
der Philosophie, sondern auch auf allen anderen akademischen Wissensgebieten zwischen
kulturell Wertvollem und reinem Fachwissen unterscheiden:
„Historiker mögen den
Ausgang von Sennacheribs erfolgloser Expedition 689 v. Chr. diskutieren; die
Nichthistoriker aber brauchen den Unterschied zwischen dieser und seinem
erfolgreichen Zug drei Jahre früher nicht zu kennen. Gräzisten vom Fach mögen
eine umstrittene Lesart in einem Aeschylusdrama mit Gewinn erörtern, aber
solche Dinge sind nicht für einen, der neben einem arbeitsreichen Alltag zu
einem gewissen Verständnis der Errungenschaften der Griechen gelangen will. In
ähnlicher Weise müssen die Männer, die ihr Leben der Philosophie widmen, sich
mit Fragen auseinandersetzen, die der gebildete Laie mit Recht ignoriert, wie
z. B. den Unterschieden in der Universalientheorie bei Thomas v. Aquin und Duns
Scotus, oder den Merkmalen, die eine Sprache besitzen muss, soll sie, ohne
sinnlos zu werden, ein Ausdrucksmittel über sich selbst sein. Solche Fragen
gehören zur rein fachlichen Seite der Philosophie, und ihre Erörterung hat an
dem Beitrag der Philosophie zur Allgemeinkultur keinen Teil.“
Als Gegengewicht zur Spezialisierung sollte die akademische
Erziehung Russell zufolge vor allem darauf abzielen, soviel von den kulturell
wertvollen Aspekten des Geschichts-, Literatur- und Philosophiestudiums zu
vermitteln, als die Zeit erlaubt. So müsse es einem jungen Menschen, der nicht
Griechisch kann, leicht gemacht werden, durch Übersetzungen ein gewisses, wenn auch
unvoll-kommenes Verständnis dessen zu erwerben, was die Griechen geleistet
haben.
Das Studium der Philosophie gründet demnach auf dem Glauben,
dass das Wissen ein Gut für sich ist, selbst wenn das, was man weiß,
schmerzlich ist. „Wer vom Geist der Philosophie durchdrungen ist – er sei
Philosoph vom Fach oder nicht – wird wünschen, dass seine Überzeugungen so
wahrheitsgetreu seien, als er sie nur gestalten kann, und wird das Wissen
lieben, das Verweilen im Irrtum hassen.
Daher muss die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit den
Themen der Philosophie zu einer Schärfung der eigenen Urteilskraft anleiten,
denn „solange der Mensch nicht gelernt hat, bei Mangel an Beweisen mit seinem
Urteil zurückzuhalten, wird er von selbstsicheren Propheten irregeführt werden,
und seine Führer werden höchstwahrscheinlich ignorante Fanatiker oder aber
betrügerische Scharlatane sein.“
Natürlich sei Ungewissheit grundsätzlich schwer zu ertragen –
doch das gelte auch von den meisten übrigen Tugenden: „Zur Aneignung jeder
Tugend gibt es eine eigene Disziplin; die beste Disziplin, um sich
Zurückhaltung im Urteil anzueignen, ist die Philosophie.“
Wichtig sei es gleichwohl, dass die Philosophie einem
positiven Zweck dienen solle und nicht bloß einen bloßen Skeptizismus, „denn so
schädlich der Dogmatiker ist, so unnütz ist der Skeptiker.“
Für Russell ist beides, der Dogmatismus und der Skeptizismus
in gewissem Sinne absolute Philosophien, denn der erste ist völlig überzeugt
von seinem Wissen, der andere ist völlig überzeugt von seinem Nichtwissen. Was
die Philosophie beseitigen müsse, ist die Annahme absoluter Gewissheit, sei es
nun die des Wissens oder des Nichtwissens.
Das Wissen sei gerade kein festumrissenes Konzept. Anstatt
zu sagen „Ich weiß das“ sollte man lieber „Ich weiß etwas ziemlich sicher“
sagen. Im Gegensatz zur Mathematik sei dieser Vorbehalt insbesondere bei Themen
der praktischen Philosophie unbedingt notwendig, weil dieses Wissen um
praktische Dinge nun einmal arithmetischer Gewissheit und Genauigkeit entbehren
würde.
Wissen ist kein fest umrissenes Konzept ... |
„Behaupte ich etwa `Demokratie ist gut´, so muss ich
zunächst zugeben, dass ich das nicht so sicher weiß wie, dass zwei mal zwei
vier ist, und ferner, dass `Demokratie´ ein etwas unklarer Begriff ist, den ich
nicht genau bestimmen kann. Daher sollten wir sagen: `Ich bin ziemlich sicher,
dass es gut ist, wenn ein Regierungssystem einige jener Merkmale besitzt, die
den Verfassungen Englands und Amerikas gemeinsam sind´, oder so ähnlich. Und
eines unserer Lehr-und Bildungsziele sollte es sein, einer solchen Feststellung
von der Rednertribüne aus mehr Wirkung zu sichern als dem üblichen politischen
Schlagwort.“
Aber die Erkenntnis, dass das gesamte Wissen mehr oder
weniger unsicher ist, genüge allein nicht. Notwendig sei es daher, nach der
besten Hypothese zu handeln, ohne dogmatisch an sie zu glauben.
Daher habe die Philosophie neben einem theoretischen vor
allem auch ein praktisches Ziel. Schon in der Antike war bei den meisten
Philosophen eine Theorie des Universums eng verquickt mit einer Lehre, wie man
sein Leben am besten einrichten solle. So entrüsteten sich Sokrates und Plato über
die Sophisten, weil diese gerade keine ethischen Ziele verfolgten.
Soll die Philosophie aber im Leben der Menschen eine
ernsthafte Rolle spielen, so darf sie Russell zufolge nicht ablassen, für
irgendeine Lebensführung einzutreten: „Sie übernimmt damit eine Aufgabe, die
früher die Religion erfüllte; doch mit gewissen Unterschieden. Der wichtigste
ist, dass es hier keine Berufung auf die Autorität gibt, sei es die der
Überlieferung oder eines heiligen Buches. Der zweitwichtigste ist, dass ein
Philosoph nicht versuchen sollte, eine Sekte zu gründen.
Russell ist der festen Überzeugung, dass die Philosophie den
jungen Menschen gewisse Dinge schenken könne, die ihn zu einem viel
wertvolleren Menschen und Staatsbürger machen werden:
Philosophie könne den Menschen an exaktes und sorgfältiges
Denken gewöhnen, nicht allein in der Mathematik und den Naturwissenschaften,
sondern auch in Fragen von weitreichender praktischer Bedeutung.
Philosophie könne der Auffassung vom Sinn und Zweck des
Lebens eine unpersönliche Weite und Tiefe verleihen.
Philosophie heißt "groß denken" ... |
Philosophie könne dem Einzelnen einen gerechten Maßstab an
die Hand geben für sich selbst im Verhältnis zur Gesellschaft, für das
Verhältnis des heutigen Menschen zu seinen Vorgängern und Nachfahren, und für
die ganze Menschheits-geschichte im Verhältnis zum astronomischen Kosmos.
Indem die Philosophen den Menschen „groß denken lehrt, hilft
sie ihm die Ängste und Nöte der Gegenwart überwinden und schenkt ihm soviel
heitere Gelassenheit, als ein feinfühliger Mensch in unserer zerquälten und
unsicheren Welt nur erringen kann.“
Zitate aus: Bertrand Russell: Unpopuläre
Betrachtungen, Zürich 2009 (Europa Verlag)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen