Noch immer hält sich hartnäckig die Idee, der zufolge
gewisse Menschengruppen sittlich-moralisch besser bzw. schlechter sind als
andere. Diese Ansicht tritt in sehr unterschiedlichen Formen auf, von denen
sich gleichwohl keine einzige verstandesmäßig begründen lässt. Dieser Meinung
jedenfalls ist Bertrand Russell.
Beispiele aus der Geschichte belegen dieses Phänomen: „Lao-Tse
bewunderte `die reinen Menschen von ehedem´, die vor dem Beginn der
konfuzianischen Sophisterei lebten. Tacitus und Madame de Stadl bewunderten die
Deutschen, weil sie keinen Kaiser hatten. Locke hielt viel vom `intelligenten
Amerikaner´, weil ihn kartesische Spitzfindigkeiten nicht irremachten.“
Unverdorbener Naturmensch: Der edle Wilde |
Eine sehr seltsame Spielart dieser Bewunderung für bestimmte
Menschen-gruppen, denen die Bewunderer nicht selbst angehören, ist der Glaube an
die höhere Tugend der Unterdrückten.
So eroberten im achtzehnte Jahrhundert amerikanische Siedler
das Land der Indianer, man machte die Bauern zu armen Schwerarbeitern und
führte die Gräuel des frühen Industrialismus ein, „schwelgte aber gleichzeitig
in der Verherrlichung des `edlen Wilden´ und der `einfachen Chronik der Armen´.
Tugend, so hieß es, war an den Höfen nicht zu finden; aber
Hofdamen konnten sie, indem sie sich als Schäferinnen herausputzten, beinahe
erringen. Und was das männliche Geschlecht betraf: `Selig, wer sich mit der
kargen Väterscholle kann bescheiden!´“
Auch in der französischen Revolution „wurde die höhere
Tugend der Armen zu einer Frage der Parteizugehörigkeit, und sie ist es seitdem
geblieben.“ Für die Reaktionäre wurden die Armen zum `Pöbel´ oder `Mob´. Die
Liberalen hingegen idealisierten nach wie vor den armen Landmann, während
sozialistische und kommunistische Intellektuelle es mit dem städtischen
Proletariat ebenso machten – eine Mode, die vor allem im zwanzigsten
Jahrhundert Bedeutung gewann.
Der griechische Freiheitskampf ... Wir alle wollen wie Byron sein! |
Im neunzehnten Jahrhundert schließlich „ersetzte der
Nationalismus den edlen Wilden durch den Patrioten eines unterdrückten Volkes.“
So galten die Griechen bis zu ihrer Befreiung von den Türken, die Ungarn bis
zum Ausgleich von 1867, die Italiener bis 1870 und die Polen bis nach dem
ersten Weltkrieg in romantischer Weise als „begabte und poetische Völker, die
zu idealistisch gesinnt waren, als dass sie es in dieser bösen Welt zu etwas
bringen konnten.“ Diese Völker errangen eins nach dem anderen ihre
Unabhängigkeit, „und es stellte sich heraus, dass sie nicht anders waren als alle
anderen auch.“
Die letzte bedeutsame Variante betrifft die rückhaltlose Bewunderung
für das Proletariat und seine angebliche moralische Überlegenheit. Diese Bewunderung
ist relativ modern: „Wenn man im achtzehnten Jahrhundert das Lob der `Armen´
sang, so dachte man dabei immer an die Armen auf dem Lande. Jeffersons
Demokratie hörte beim städtischen Pöbel auf; er wünschte, dass Amerika ein Land
der Ackerbauer bleibe.“
Die Bewunderung des Proletariats gehöre Russell nach „wie
die von Staudämmen, Kraftwerken und Flugzeugen zur Ideologie des
Maschinen-zeitalters. Menschlich betrachtet, hat sie so wenig für sich wie der
Glaube an die Zauberkraft der Kelten, die slawische Seele, die Intuition der
Frauen und die Unschuld der Kinder.
Proletarische Wohnverhältnisse in Berlin Ende des 19. Jh. |
Wäre es wirklich so, dass schlechte Ernährung, unzulängliche
Bildung, Mangel an Luft und Sonne, ungesunde Wohnverhältnisse und Überarbeitung
bessere Menschen hervorbringen als gute Ernährung, frische Luft, angemessene
Schul- und Wohnverhältnisse und ein vernünftiges Maß an Freiheit, dann bräche
die ganze Forderung nach wirtschaftlichem Wiederaufbau in sich zusammen und wir
dürften uns freuen und frohlocken, dass ein so hoher Prozentsatz der
Bevölkerung jene Vorteile genießt, welche die Tugend fördern.“
Aber obwohl dies Argument sich förmlich aufdrängt, halten es
doch viele sozialistische und kommunistische Intellektuelle für unerlässlich,
sich den Anschein zu geben, als fänden sie die Proletarier liebenswerter als
andere Menschen, während sie gleichzeitig ihre Absicht verkünden, jene
Verhältnisse zu beseitigen, die nach ihrer Lehre allein gute Menschen hervorbringen
können.
Zitate
aus: Bertrand Russell: Unpopuläre
Betrachtungen, Zürich 2009 (Europa Verlag)
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