Donnerstag, 22. September 2016

Bertrand Russell und die vermeintlich höhere Tugend der Unterdrückten

Noch immer hält sich hartnäckig die Idee, der zufolge gewisse Menschengruppen sittlich-moralisch besser bzw. schlechter sind als andere. Diese Ansicht tritt in sehr unterschiedlichen Formen auf, von denen sich gleichwohl keine einzige verstandesmäßig begründen lässt. Dieser Meinung jedenfalls ist Bertrand Russell.

Beispiele aus der Geschichte belegen dieses Phänomen: „Lao-Tse bewunderte `die reinen Menschen von ehedem´, die vor dem Beginn der konfuzianischen Sophisterei lebten. Tacitus und Madame de Stadl bewunderten die Deutschen, weil sie keinen Kaiser hatten. Locke hielt viel vom `intelligenten Amerikaner´, weil ihn kartesische Spitzfindigkeiten nicht irremachten.“

Unverdorbener Naturmensch:
Der edle Wilde
Eine sehr seltsame Spielart dieser Bewunderung für bestimmte Menschen-gruppen, denen die Bewunderer nicht selbst angehören, ist der Glaube an die höhere Tugend der Unterdrückten.

So eroberten im achtzehnte Jahrhundert amerikanische Siedler das Land der Indianer, man machte die Bauern zu armen Schwerarbeitern und führte die Gräuel des frühen Industrialismus ein, „schwelgte aber gleichzeitig in der Verherrlichung des `edlen Wilden´ und der `einfachen Chronik der Armen´.

Tugend, so hieß es, war an den Höfen nicht zu finden; aber Hofdamen konnten sie, indem sie sich als Schäferinnen herausputzten, beinahe erringen. Und was das männliche Geschlecht betraf: `Selig, wer sich mit der kargen Väterscholle kann bescheiden!´“

Auch in der französischen Revolution „wurde die höhere Tugend der Armen zu einer Frage der Parteizugehörigkeit, und sie ist es seitdem geblieben.“ Für die Reaktionäre wurden die Armen zum `Pöbel´ oder `Mob´. Die Liberalen hingegen idealisierten nach wie vor den armen Landmann, während sozialistische und kommunistische Intellektuelle es mit dem städtischen Proletariat ebenso machten – eine Mode, die vor allem im zwanzigsten Jahrhundert Bedeutung gewann.

Der griechische Freiheitskampf ... Wir alle wollen wie Byron sein!

Im neunzehnten Jahrhundert schließlich „ersetzte der Nationalismus den edlen Wilden durch den Patrioten eines unterdrückten Volkes.“ So galten die Griechen bis zu ihrer Befreiung von den Türken, die Ungarn bis zum Ausgleich von 1867, die Italiener bis 1870 und die Polen bis nach dem ersten Weltkrieg in romantischer Weise als „begabte und poetische Völker, die zu idealistisch gesinnt waren, als dass sie es in dieser bösen Welt zu etwas bringen konnten.“ Diese Völker errangen eins nach dem anderen ihre Unabhängigkeit, „und es stellte sich heraus, dass sie nicht anders waren als alle anderen auch.“

Die letzte bedeutsame Variante betrifft die rückhaltlose Bewunderung für das Proletariat und seine angebliche moralische Überlegenheit. Diese Bewunderung ist relativ modern: „Wenn man im achtzehnten Jahrhundert das Lob der `Armen´ sang, so dachte man dabei immer an die Armen auf dem Lande. Jeffersons Demokratie hörte beim städtischen Pöbel auf; er wünschte, dass Amerika ein Land der Ackerbauer bleibe.“

Die Bewunderung des Proletariats gehöre Russell nach „wie die von Staudämmen, Kraftwerken und Flugzeugen zur Ideologie des Maschinen-zeitalters. Menschlich betrachtet, hat sie so wenig für sich wie der Glaube an die Zauberkraft der Kelten, die slawische Seele, die Intuition der Frauen und die Unschuld der Kinder.

Proletarische Wohnverhältnisse in Berlin Ende des 19. Jh.

Wäre es wirklich so, dass schlechte Ernährung, unzulängliche Bildung, Mangel an Luft und Sonne, ungesunde Wohnverhältnisse und Überarbeitung bessere Menschen hervorbringen als gute Ernährung, frische Luft, angemessene Schul- und Wohnverhältnisse und ein vernünftiges Maß an Freiheit, dann bräche die ganze Forderung nach wirtschaftlichem Wiederaufbau in sich zusammen und wir dürften uns freuen und frohlocken, dass ein so hoher Prozentsatz der Bevölkerung jene Vorteile genießt, welche die Tugend fördern.“

Aber obwohl dies Argument sich förmlich aufdrängt, halten es doch viele sozialistische und kommunistische Intellektuelle für unerlässlich, sich den Anschein zu geben, als fänden sie die Proletarier liebenswerter als andere Menschen, während sie gleichzeitig ihre Absicht verkünden, jene Verhältnisse zu beseitigen, die nach ihrer Lehre allein gute Menschen hervorbringen können.

Zitate aus: Bertrand Russell: Unpopuläre Betrachtungen, Zürich 2009 (Europa Verlag)


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