Donnerstag, 16. Juni 2016

Matthias Burchardt und die Krise des selbstgesteuerten Lernens - Teil 2



Im zweiten Teil seiner Sendung zur Krise des selbstgesteuerten Lernens landet Burchardt schließlich beim erkenntnistheoretischen Hintergrund der neuen Lernkultur, denn das hier verwendete Vokabular entstammt dem technischen Regelkreis der Kybernetik. Was ist damit gemeint?

Schüler als Trivialmaschiene in der Kybernetik

Kybernetik bezeichnet die technische Verschränkung von Mess- und Regelfunktionen. Dies kann man am Beispiel eines Heizungsthermostats erläutern. Ohne Thermostat müsste man die Heizung jeweils selbst an- oder abschalten, wenn es zu warm oder zu kalt ist. Mittels Regeltechnik kann der Nutzer einmalig eine Zieltemperatur (Soll-Wert) einstellen, die dann durch Selbstregulation erreicht bzw. gehalten werden soll. Eine Verrechnungsstelle gleicht zu diesem Zweck den vom Messfühler erhobenen Ist- mit dem Sollwert ab und hemmt beim Erreichen des Sollwertes den weiteren Warmwasserzulauf bzw. öffnet ihn, sobald der Sollwert unterschritten ist. Damit gelingt es dem System, selbstregulierend auf variable Außenbedingungen zu reagieren und die Raumtemperatur konstant zu halten.

Entscheidend sind dabei nicht nur die einzelnen Strukturelemente des Messens und der Steuerung, sondern auch deren informationelle Verknüpfung durch eine Feedbackschleife, denn das kybernetische System gewinnt nicht nur Informationen über die externen Bedingungen (z.B. die Raumtemperatur) oder wirkt durch Steuerung auf diese ein, sondern speist auch die Informationen über die Resultate des eigenen Wirkens wieder in das System ein.“

Was hier abstrakt klingt, lässt sich nun relativ schlicht auf den Lerner übertragen: „Wie ein kleiner Lernroboter navigiert der selbstgesteuerte Lerner über die Klippen der Lernumgebungen, die ihm durch Lernpakete und Wochenpläne Aufgaben mit auf den Weg geben. Er steuert dabei die Ziele an, die im Raster vorgegeben sind. Er vergleicht Ist- und Soll-Werte seiner Kompetenzen, wählt und reflektiert seine Lernstrategien, bis er die Lernziele erreicht. Defizite in der Selbststeuerung sollen mittels Feedback in einem Coaching-Gespräch beseitigt werden.“

Schüler oder Lernroboter ?
Das Problem aber liegt darin, dass es etwas vollkommen anderes ist, selbstreguliert Motivation herzustellen zu müssen, als seine Motivation „aus einem reizvollen Stoff oder einer pädagogischen Beziehung zu einer fordernden und ermutigenden Person zu schöpfen. Der selbstregulierte Lerner hat sich im Extremfall auch für monotone Inhalte im beziehungsfreien Raum zu begeistern.“

So stellt Burchardt fest, dass der selbstgesteuerte Lerner ist kein Modell ist, das beschreibt, wie Kinder lernen, sondern ein Modell, nach dem „Kinder ... erst zum selbstgesteuerten Lerner umerzogen werden [sollen]. Es handelt sich um ein anti-humanistisches, im Wortsinne un-menschliches Modell, weil es vom Kind verlangt, sich wie eine kybernetische Maschine zu verhalten.

Dabei werden wesentliche Momente des Mensch-Seins, die traditionell als Kernbestände von Bildung galten, verkürzt oder gar verstümmelt: Selbsterkenntnis, wie sie schon das Orakel von Delphi forderte, ist etwas anderes als das Messen der eigenen Leistungsdaten. Urteilskraft, die zu üben uns der Philosoph Immanuel Kant aufgegeben hat, bedeutet nicht, Soll- und Ist-Werte miteinander abzugleichen.

Sprache, die etwa für Humboldt eine Weltansicht bildet, kann nicht reduziert werden auf ein Signalsystem, das Steuerungsimpulse und Messwerte kommuniziert. Würdigung oder Kritik geschehen doch als personale Begegnung in Auseinandersetzung mit einer Sache, der technische (!) Begriff des Feedbacks vermag dies kaum abzubilden.

Lernen schließlich ist etwas ganz anderes als der strategische Erwerb und die Optimierung von Anpassungsfunktionen. Und das pädagogische Ziel der Mündigkeit schließlich beschreibt etwas anderes als Selbstregulation. In der Summe wird deutlich, dass die zwischenmenschliche und insbesondere die pädagogische Wirklichkeit durch eine kybernetische Beschreibung zwangsläufig verfremdet wird.“

Der Gedanke, selbstbestimmtes Handeln „durch technisches Steuern zu ersetzen, hat seine Vorgeschichte im Zweiten Weltkrieg, wo die Kybernetik in ihrem strategischen und wissenschaftlichen Wert entdeckt hat: Norbert Wiener, der als Vater dieses Modells gilt, konstruierte die `Predictor Machine´, `eine Maschine zur Vorhersage und Kontrolle der Positionen feindlicher Flugzeuge zum Zweck ihrer Vernichtung.´“

Der Einsatz von Kybernetik und „die Konstruktion kybernetischer Maschinen und die Erschließung und Verarbeitung der militärischen, ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit im Medium der Information erwiesen sich als kriegsentscheidende Faktoren.“ Dabei zeigte sich die Überlegenheit der Kybernetik auch nicht nur in der Produktion von effektiven Waffen bzw. in der effizienten Nutzung von Ressourcen, „sondern auch im Bereich der Aufklärung (Überwachung, Spionage, Dechiffrierung) und der kommunikativen Vernetzung.“

Es waren schließlich die sogenannten Macy-Konferenzen, in denen sich zwischen 1946 bis 1953 „die diskursive Entgrenzung der Kybernetik als Wissenschaft“ vollzog.

Die Verteidiger der Kybernetik erhoben „fortan einen theoretischen Totalanspruch“ und die Kybernetik wurde als Universaltechnik gepriesen. „Von der Steuerung der Mondlandefähre und der Regulation der Sauerstoffsättigung des Blutes, über das Bildungswesen bis hin zum Zubereiten einer Mahlzeit – alles sollte dem Regelkreis unterliegen. Damit wurde auch die Grenze von Natur und Kultur nivelliert und der Bereich des Politischen für den Zugriff der Soziokybernetik erschlossen.“

Die Illusion der Freiheit bei absoluter Kontrolle ...
So entwarf beispielsweise der Psychologe Kurt Lewin, einer der Teilnehmer der Macy-Konferenzen, „ein kybernetisches Steuerungsmodell für offene Gesellschaften, in welchem einerseits die Illusion der Freiheit aufrechterhalten wird, andererseits mittels Regeltechniken absolute Kontrolle herrscht:

"In vielen Bereichen des sozialen Management […] fehlen Wegweiser, die anzeigen, wo genau wir stehen und in welche Richtung wir uns mit welcher Geschwindigkeit bewegen. In der Folge sind die Akteure ihrer selbst unsicher […]. Sie sind außerstande zu 'lernen'. In einem Bereich, in dem objektive Leistungsstandards fehlen, kann kein Lernen stattfinden. […] Eine effiziente Steuerung sozialen Handelns setzt voraus, daß Verfahren zur Tatsachenfeststellung entwickelt werden, die es erlauben, Beschaffenheit und Position des sozialen Ziels sowie Richtung und Ausmaß der Bewegung, die aus einer gegebenen Handlung folgen, mit ausreichender Genauigkeit zu bestimmen. Um effektiv zu sein, muß diese Erhebung des Ist-Zustandes mit dem Ablauf des Handelns verbunden sein: Sie muß Teil eines Feedback-Systems sein, das eine Aufklärungsabteilung der Organisation mit jenen Abteilungen verbindet, welche die Handlungen ausführen."

In den „Zeiten von Big Data und Digitaler Totalüberwachung“, so stellt Burchardt abschließend fest, passt die Aufforderung zur Selbststeuerung auf eine zynische Weise ideal zum Abbau der sozialen Solidaritäts- und Sicherungssysteme: „So wie der Selbstgesteuerte Lerner schonend mit der Ressource Lehrer umgeht, so fällt der selbstgesteuerte Bürger der Gemeinschaft nicht zur Last: Die Themen seiner sozialen Absicherung, seiner Bildung, seiner Gesundheit sind allein sein Problem. Arbeitslosigkeit, Krankheit, Armut sind dann Konsequenzen mangelhafter Selbststeuerung, die er selbst optimieren muss.“
 
Das Herstellen kohärenter Überzeugungen ist letztlich doch recht übersichtlich ... ?!?!?!?
Auf diese Weise aber ist der selbstgesteuerte Mensch ein Zwilling des `Unternehmerischen Selbst´. „Selbststeuerung unter dem beschleunigten Ansturm von Informationen und Handlungsoptionen bei gleichzeitigem Wegfall kultureller, gemeinschaftlicher oder geschichtlicher Verwurzelung ist ein Nährboden für Burnout und Depression.“


Zitate aus: Matthias Burchardt: “Wir machen alles alleine. Die Krise selbstgesteuerten Lernens“, SWR2 Aula, Sendung vom Sonntag, 13. März 2016, Das Manuskript gibt es online unter: http://www.swr.de/-/id=16882210/property=download/nid=660374/1obdni3/swr2-wissen-20160313.pdf, als Podcast unter: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/aula.xml   -   Weitere Literatur: Höfer, Christoph, Madelung, Petra: Lehren und Lernen für die Zukunft. Unterrichtsentwicklung in selbstständigen Schulen. Troisdorf 2006.

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