Fortsetzung von „Matthias Burchardt und die Krise des selbstgesteuerten Lernens – Teil 1“
Im zweiten Teil seiner Sendung zur Krise des
selbstgesteuerten Lernens landet Burchardt schließlich beim erkenntnistheoretischen
Hintergrund der neuen Lernkultur, denn das hier verwendete Vokabular entstammt
dem technischen Regelkreis der Kybernetik. Was ist damit gemeint?
Schüler als Trivialmaschiene in der Kybernetik |
Kybernetik bezeichnet die technische Verschränkung von Mess-
und Regelfunktionen. Dies kann man am Beispiel eines Heizungsthermostats
erläutern. Ohne Thermostat müsste man die Heizung jeweils selbst an- oder
abschalten, wenn es zu warm oder zu kalt ist. Mittels Regeltechnik kann der
Nutzer einmalig eine Zieltemperatur (Soll-Wert) einstellen, die dann durch Selbstregulation
erreicht bzw. gehalten werden soll. Eine Verrechnungsstelle gleicht zu diesem
Zweck den vom Messfühler erhobenen Ist- mit dem Sollwert ab und hemmt beim
Erreichen des Sollwertes den weiteren Warmwasserzulauf bzw. öffnet ihn, sobald
der Sollwert unterschritten ist. Damit gelingt es dem System, selbstregulierend
auf variable Außenbedingungen zu reagieren und die Raumtemperatur konstant zu
halten.
Entscheidend sind dabei nicht nur die einzelnen
Strukturelemente des Messens und der Steuerung, sondern auch deren
informationelle Verknüpfung durch eine Feedbackschleife, denn das kybernetische
System gewinnt nicht nur Informationen über die externen Bedingungen (z.B. die
Raumtemperatur) oder wirkt durch Steuerung auf diese ein, sondern speist auch
die Informationen über die Resultate des eigenen Wirkens wieder in das System
ein.“
Was hier abstrakt klingt, lässt sich nun relativ schlicht
auf den Lerner übertragen: „Wie ein kleiner Lernroboter navigiert der selbstgesteuerte
Lerner über die Klippen der Lernumgebungen, die ihm durch Lernpakete und
Wochenpläne Aufgaben mit auf den Weg geben. Er steuert dabei die Ziele an, die
im Raster vorgegeben sind. Er vergleicht Ist- und Soll-Werte seiner
Kompetenzen, wählt und reflektiert seine Lernstrategien, bis er die Lernziele
erreicht. Defizite in der Selbststeuerung sollen mittels Feedback in einem
Coaching-Gespräch beseitigt werden.“
Schüler oder Lernroboter ? |
Das Problem aber liegt darin, dass es etwas vollkommen
anderes ist, selbstreguliert Motivation herzustellen zu müssen, als seine
Motivation „aus einem reizvollen Stoff oder einer pädagogischen Beziehung zu
einer fordernden und ermutigenden Person zu schöpfen. Der selbstregulierte
Lerner hat sich im Extremfall auch für monotone Inhalte im beziehungsfreien
Raum zu begeistern.“
So stellt Burchardt fest, dass der selbstgesteuerte Lerner
ist kein Modell ist, das beschreibt, wie Kinder lernen, sondern ein Modell,
nach dem „Kinder ... erst zum selbstgesteuerten Lerner umerzogen werden [sollen].
Es handelt sich um ein anti-humanistisches, im Wortsinne un-menschliches Modell,
weil es vom Kind verlangt, sich wie eine kybernetische Maschine zu verhalten.
Dabei werden wesentliche Momente des Mensch-Seins, die
traditionell als Kernbestände von Bildung galten, verkürzt oder gar
verstümmelt: Selbsterkenntnis, wie sie schon das Orakel von Delphi forderte,
ist etwas anderes als das Messen der eigenen Leistungsdaten. Urteilskraft, die
zu üben uns der Philosoph Immanuel Kant aufgegeben hat, bedeutet nicht, Soll-
und Ist-Werte miteinander abzugleichen.
Sprache, die etwa für Humboldt eine Weltansicht bildet, kann
nicht reduziert werden auf ein Signalsystem, das Steuerungsimpulse und
Messwerte kommuniziert. Würdigung oder Kritik geschehen doch als personale
Begegnung in Auseinandersetzung mit einer Sache, der technische (!) Begriff des
Feedbacks vermag dies kaum abzubilden.
Lernen schließlich ist etwas ganz anderes als der strategische
Erwerb und die Optimierung von Anpassungsfunktionen. Und das pädagogische Ziel
der Mündigkeit schließlich beschreibt etwas anderes als Selbstregulation. In
der Summe wird deutlich, dass die zwischenmenschliche und insbesondere die pädagogische
Wirklichkeit durch eine kybernetische Beschreibung zwangsläufig verfremdet
wird.“
Der Gedanke, selbstbestimmtes Handeln „durch technisches
Steuern zu ersetzen, hat seine Vorgeschichte im Zweiten Weltkrieg, wo die
Kybernetik in ihrem strategischen und wissenschaftlichen Wert entdeckt
hat: Norbert Wiener, der als Vater dieses Modells gilt, konstruierte die
`Predictor Machine´, `eine Maschine zur Vorhersage und Kontrolle der Positionen
feindlicher Flugzeuge zum Zweck ihrer Vernichtung.´“
Der Einsatz von Kybernetik und „die Konstruktion
kybernetischer Maschinen und die Erschließung und Verarbeitung der
militärischen, ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit im
Medium der Information erwiesen sich als kriegsentscheidende Faktoren.“ Dabei
zeigte sich die Überlegenheit der Kybernetik auch nicht nur in der Produktion
von effektiven Waffen bzw. in der effizienten Nutzung von Ressourcen, „sondern
auch im Bereich der Aufklärung (Überwachung, Spionage, Dechiffrierung) und der kommunikativen
Vernetzung.“
Es waren schließlich die sogenannten Macy-Konferenzen, in
denen sich zwischen 1946 bis 1953 „die diskursive Entgrenzung der Kybernetik
als Wissenschaft“ vollzog.
Die Verteidiger der Kybernetik erhoben „fortan einen theoretischen
Totalanspruch“ und die Kybernetik wurde als Universaltechnik gepriesen. „Von
der Steuerung der Mondlandefähre und der Regulation der Sauerstoffsättigung des
Blutes, über das Bildungswesen bis hin zum Zubereiten einer Mahlzeit – alles
sollte dem Regelkreis unterliegen. Damit wurde auch die Grenze von Natur und
Kultur nivelliert und der Bereich des Politischen für den Zugriff der
Soziokybernetik erschlossen.“
Die Illusion der Freiheit bei absoluter Kontrolle ... |
So entwarf beispielsweise der Psychologe Kurt Lewin, einer der
Teilnehmer der Macy-Konferenzen, „ein kybernetisches Steuerungsmodell für
offene Gesellschaften, in welchem einerseits die Illusion der Freiheit aufrechterhalten
wird, andererseits mittels Regeltechniken absolute Kontrolle herrscht:
"In vielen Bereichen des sozialen Management […] fehlen
Wegweiser, die anzeigen, wo genau wir stehen und in welche Richtung wir uns mit
welcher Geschwindigkeit bewegen. In der Folge sind die Akteure ihrer selbst unsicher
[…]. Sie sind außerstande zu 'lernen'. In einem Bereich, in dem objektive Leistungsstandards
fehlen, kann kein Lernen stattfinden. […] Eine effiziente Steuerung sozialen
Handelns setzt voraus, daß Verfahren zur Tatsachenfeststellung entwickelt
werden, die es erlauben, Beschaffenheit und Position des sozialen Ziels sowie
Richtung und Ausmaß der Bewegung, die aus einer gegebenen Handlung folgen, mit
ausreichender Genauigkeit zu bestimmen. Um effektiv zu sein, muß diese Erhebung
des Ist-Zustandes mit dem Ablauf des Handelns verbunden sein: Sie muß Teil
eines Feedback-Systems sein, das eine Aufklärungsabteilung der Organisation mit
jenen Abteilungen verbindet, welche die Handlungen ausführen."
In den „Zeiten von Big Data und Digitaler Totalüberwachung“,
so stellt Burchardt abschließend fest, passt die Aufforderung zur
Selbststeuerung auf eine zynische Weise ideal zum Abbau der sozialen
Solidaritäts- und Sicherungssysteme: „So wie der Selbstgesteuerte Lerner
schonend mit der Ressource Lehrer umgeht, so fällt der selbstgesteuerte Bürger
der Gemeinschaft nicht zur Last: Die Themen seiner sozialen Absicherung, seiner
Bildung, seiner Gesundheit sind allein sein Problem. Arbeitslosigkeit, Krankheit,
Armut sind dann Konsequenzen mangelhafter Selbststeuerung, die er selbst
optimieren muss.“
Auf diese Weise aber ist der selbstgesteuerte Mensch ein
Zwilling des `Unternehmerischen Selbst´. „Selbststeuerung unter dem
beschleunigten Ansturm von Informationen und Handlungsoptionen bei gleichzeitigem
Wegfall kultureller, gemeinschaftlicher oder geschichtlicher Verwurzelung ist
ein Nährboden für Burnout und Depression.“
Zitate aus: Matthias Burchardt: “Wir machen alles alleine. Die Krise selbstgesteuerten Lernens“, SWR2 Aula, Sendung vom Sonntag, 13. März 2016, Das Manuskript gibt es online unter: http://www.swr.de/-/id=16882210/property=download/nid=660374/1obdni3/swr2-wissen-20160313.pdf, als Podcast unter: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/aula.xml - Weitere Literatur: Höfer, Christoph, Madelung, Petra: Lehren und Lernen für die Zukunft. Unterrichtsentwicklung in selbstständigen Schulen. Troisdorf 2006.
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