Donnerstag, 2. Juni 2016

Matthias Burchardt und die Krise des selbstgesteuerten Lernens - Teil 1


Vorbemerkung: Ich bin ein Anhänger des selbstgesteuerten Lernens! Der Grund ist ganz einfach: Selbstgesteuertes Lernen ist eine von vielen wichtigen Strategien innerhalb des weiten Feldes der Lernkulturen – aber eben nicht die einzige, weder die einzig mögliche noch die einzig sinnvolle. Daher teile ich viele der von Matthias Burchardt gemachten Beobachtungen - und zugleich teile ich sie nicht.

Zu Beginn seiner Sendung stellt Burchardt fest, dass das selbstgesteuerte Lernen heutzutage als Innovation verkauft wird, „mit der man in Zeiten der Digitalisierung, in Zeiten, in denen man das Lernen lernen soll, überleben kann. Das selbstgesteuerte Lernen schickt den traditionellen Lehrer in Rente und setzt auf den Lernbegleiter und Coach, der Schüler wird zum Manager seiner selbst, der eigenständig seine Lernfortschritte dokumentiert und evaluiert, der sich seine Unterrichtspakete selbst zusammenstellt.“

Die Argumente für die neue Lernkultur des selbstgesteuerten Lernens lauten folgendermaßen:
  • Lernbegleiter/innen sind besser als Lehrer/innen.
  • Selbstgesteuertes Lernen ist besser als Unterricht.
  • Heterogen gemischte Gruppen sind besser als eine äußere Differenzierung nach Leistung.
  • Durch die neue Lernkultur werden soziale Ungleichheiten aufgehoben.
  • Selbstgesteuertes Lernen bringt bessere Lernergebnisse.

Ein modern klingendes Fachvokabular unterfüttert das Konzept selbstgesteuerten Lernens. Begriffe wie "Lernateliers", "Lernbüros", "Lernzeit", "aktive Pause", "individuelles Arbeiten", "Teamarbeit", "Coaching" oder "Rhythmisierung" versprechen „eine optimierte Pädagogisierung der kindlichen Leistungsfähigkeit.“

Neue Lernkultur - Neue Terminologie

Teilweise kann Burchardt einen realsatirischen Unterton in der Darstellung des selbstgesteuerten Lernens nicht vermeiden: „Um die Lernfortschritte der Kinder zu ermitteln, werden diese in Kompetenzrastern verzeichnet: Auf einer Matrix kleben farbige Punkte, die ganz individuell anzeigen, wo sich das einzelne Kind momentan befindet und welches Kompetenzziel es erreichen soll. Dazu benötigen die Kinder Lernstrategien.

Sie sind angehalten, ein Lerntagebuch zu führen, in dem sie sich selbst evaluieren. Sie sollen sich hinsichtlich ihrer Motivation und der angewandten Techniken optimieren, sollen Tagesziele formulieren, ihren Zeitaufwand dokumentieren, Erfolge und Misserfolge der Woche niederschreiben. Auf diese Weise soll das Lernen möglichst transparent und überprüfbar werden.

Lehrer und Lehrerinnen heißen an diesen Schulen `Lernbegleiter´ oder `Lernbegleiterinnen´, da sie weitgehend in den Hintergrund treten. Sie erarbeiten und arrangieren stattdessen das Lernmaterial, die sogenannten Lernpakete, und kontrollieren, ob die Schüler und Schülerinnen ihr Arbeitspensum erfüllen. In Coaching-Einheiten können sie dem Selbstlerner ein ganz individuelles Feedback bezüglich seiner Lernproduktivität geben und auch Hemmnisse im Bereich der Motivation beseitigen.“

Nun gilt diese Form der Lernkultur mittlerweile unter Politikern als „ein Allheilmittel gegen sozialpolitische Probleme und Erziehungswissenschaftler sehen in ihr die Einlösung reformpädagogischer Utopien von der individuellen Freiheit des Lernens in sozialer Gemeinschaft.“

Kinder als Bewohner neuer Lernwelten
Nicht nur die Lehrkräfte erhalten eine neue Rolle, auch die Schüler und Schülerinnen „werden umgewandelt zu selbstgesteuerten oder -organisierten Lernern. Auf sie wird abgeladen, was eigentlich in die Zuständigkeit und auch die Verantwortung der Lehrer und Lehrerinnen fällt. Sie müssen nicht nur für das Lernen selbst, sondern auch für die Organisation des Lernens aufkommen.“

Kinder also als „Bewohner der neuen Lernwelten“? Solche selbständig Lernende sollen in der Lage sein, „ihr eigenes Lernen zu regulieren, sich selbständig Lernziele zu setzen, dem Inhalt und Ziel angemessene Techniken und Strategien auszuwählen und sie auch einzusetzen. Ferner halten sie ihre Motivation aufrecht, bewerten die Zielerreichung während und nach Abschluss des Lernprozesses und korrigieren – wenn notwendig – die Lernstrategie. Sie sind in der Lage, ihre Lernziele und Lernstrategien auch in komplexen sozialen Beziehungen gemeinsam mit anderen Personen zu entwickeln, umzusetzen und kritisch zu hinterfragen. "

An dieser Stelle kommt Burchardt zum Grundwiderspruch des selbständigen Lernens. Auch wenn das Theorem des selbständigen Lernens scheinbar an die gute alte Tradition von Aufklärung, Mündigkeit und Selbständigkeit anknüpft, so wird hier vergessen, dass das „Lernen von Selbständigkeit und selbständiges Lernen“ zwei grundsätzlich verschiedene Dinge sind:

„Natürlich gibt es vieles, was Kinder ohne explizite Belehrung durch Erwachsene lernen können. Gleichwohl muss bezweifelt werden, dass das Ziel der Selbständigkeit allein auf dem Wege des selbständigen Lernens erreicht werden kann. Um es auf den Punkt zu bringen: Es bedarf auch der fachlichen und persönlichen Autorität des Lehrers oder der Lehrerin, damit die Selbständigkeit der Schüler und Schülerinnen gedeihen kann.“

Zudem müsse Burchardt zufolge überhaupt erst zu klären, was den das „Lernen“ ausmacht. Die Verteidiger des selbständigen Lernens „stellen sich aber gar nicht die Frage, was Lernen tatsächlich ist, sondern formulieren stattdessen ein `Leitbild´(...) von dem, was Lernen sein soll.

Mit anderen Worten: Der hier beschriebene Typus von Schüler oder Schülerin und der Stil des Lernens existieren nicht, sondern sollen in den Einrichtungen erst systematisch produziert werden.

Kinder sollen "Lernen lernen", schallt es durch die Schulen – eine zunächst absurde Formulierung, da ja immer schon vorausgesetzt wird, was als Ergebnis versprochen wird, nämlich: Lernen können.“

"Lernen lernen" – eine absurde Formulierung, da ja immer schon vorausgesetzt wird, was als Ergebnis versprochen wird, nämlich: Lernen können.

Im Rahmen der oben skizzierten politischen Programmatik soll das Lernen also „für und durch die die Neue Lernkultur umprogrammiert werden.“ Denn: Wenn das Kind keine Schüler mehr sein darf, sondern sich in einen Lerner verwandeln muss, „wie sieht dann sein Innenleben aus? Es ähnelt einer Schaltzentrale aus der Roboter-Technik. Schließlich soll er in der Lage sein, das eigene `Lernen [zu] regulieren, [...] sich selbstständig Lernziele zu setzen, dem Inhalt und Ziel angemessene Techniken und Strategien auszuwählen und sie auch einzusetzen.´ (Höfer/Madelung 2006, 159). Die Lerner – heißt es weiter – `halten […] ihre Motivation aufrecht, bewerten die Zielerreichung während und nach Abschluss des Lernprozesses und korrigieren – wenn notwendig – die Lernstrategie.´ (ebd. 19).“

(Fortsetzung folgt)

Zitate aus: Matthias Burchardt: “Wir machen alles alleine. Die Krise selbstgesteuerten Lernens“, SWR2 Aula, Sendung vom Sonntag, 13. März 2016, Das Manuskript gibt es online unter: http://www.swr.de/-/id=16882210/property=download/nid=660374/1obdni3/swr2-wissen-20160313.pdf, als Podcast unter: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/aula.xml   -   Weitere Literatur: Höfer, Christoph, Madelung, Petra: Lehren und Lernen für die Zukunft. Unterrichtsentwicklung in selbstständigen Schulen. Troisdorf 2006.

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