Vorbemerkung: Ich bin ein Anhänger des selbstgesteuerten
Lernens! Der Grund ist ganz einfach: Selbstgesteuertes Lernen ist eine von vielen wichtigen Strategien
innerhalb des weiten Feldes der Lernkulturen – aber eben nicht die einzige, weder
die einzig mögliche noch die einzig sinnvolle. Daher teile ich viele der von
Matthias Burchardt gemachten Beobachtungen - und zugleich teile ich sie nicht.
Zu Beginn seiner Sendung stellt Burchardt fest, dass das selbstgesteuerte
Lernen heutzutage als Innovation verkauft wird, „mit der man in Zeiten der Digitalisierung,
in Zeiten, in denen man das Lernen lernen soll, überleben kann. Das selbstgesteuerte
Lernen schickt den traditionellen Lehrer in Rente und setzt auf den Lernbegleiter
und Coach, der Schüler wird zum Manager seiner selbst, der eigenständig seine
Lernfortschritte dokumentiert und evaluiert, der sich seine Unterrichtspakete
selbst zusammenstellt.“
Die Argumente für die neue Lernkultur des selbstgesteuerten
Lernens lauten folgendermaßen:
- Lernbegleiter/innen sind besser als Lehrer/innen.
- Selbstgesteuertes Lernen ist besser als Unterricht.
- Heterogen gemischte Gruppen sind besser als eine äußere Differenzierung nach Leistung.
- Durch die neue Lernkultur werden soziale Ungleichheiten aufgehoben.
- Selbstgesteuertes Lernen bringt bessere Lernergebnisse.
Ein modern klingendes Fachvokabular unterfüttert das Konzept
selbstgesteuerten Lernens. Begriffe wie "Lernateliers", "Lernbüros",
"Lernzeit", "aktive Pause", "individuelles
Arbeiten", "Teamarbeit", "Coaching" oder "Rhythmisierung"
versprechen „eine optimierte Pädagogisierung der kindlichen Leistungsfähigkeit.“
Neue Lernkultur - Neue Terminologie |
Teilweise kann Burchardt einen realsatirischen Unterton in
der Darstellung des selbstgesteuerten Lernens nicht vermeiden: „Um die
Lernfortschritte der Kinder zu ermitteln, werden diese in Kompetenzrastern verzeichnet:
Auf einer Matrix kleben farbige Punkte, die ganz individuell anzeigen, wo sich
das einzelne Kind momentan befindet und welches Kompetenzziel es erreichen
soll. Dazu benötigen die Kinder Lernstrategien.
Sie sind angehalten, ein Lerntagebuch zu führen, in dem sie
sich selbst evaluieren. Sie sollen sich hinsichtlich ihrer Motivation und der
angewandten Techniken optimieren, sollen Tagesziele formulieren, ihren
Zeitaufwand dokumentieren, Erfolge und Misserfolge der Woche niederschreiben.
Auf diese Weise soll das Lernen möglichst transparent und überprüfbar werden.
Lehrer und Lehrerinnen heißen an diesen Schulen `Lernbegleiter´ oder `Lernbegleiterinnen´, da sie
weitgehend in den Hintergrund treten. Sie erarbeiten und arrangieren
stattdessen das Lernmaterial, die sogenannten Lernpakete, und kontrollieren, ob
die Schüler und Schülerinnen ihr Arbeitspensum erfüllen. In Coaching-Einheiten
können sie dem Selbstlerner ein ganz individuelles Feedback bezüglich seiner
Lernproduktivität geben und auch Hemmnisse im Bereich der Motivation
beseitigen.“
Nun gilt diese Form der Lernkultur mittlerweile unter
Politikern als „ein Allheilmittel gegen sozialpolitische Probleme und
Erziehungswissenschaftler sehen in ihr die Einlösung reformpädagogischer
Utopien von der individuellen Freiheit des Lernens in sozialer Gemeinschaft.“
Kinder als Bewohner neuer Lernwelten |
Nicht nur die Lehrkräfte erhalten eine neue Rolle, auch die Schüler
und Schülerinnen „werden umgewandelt zu selbstgesteuerten oder -organisierten
Lernern. Auf sie wird abgeladen, was eigentlich in die Zuständigkeit und auch
die Verantwortung der Lehrer und Lehrerinnen fällt. Sie müssen nicht nur für
das Lernen selbst, sondern auch für die Organisation des Lernens aufkommen.“
Kinder also als „Bewohner der neuen Lernwelten“? Solche
selbständig Lernende sollen in der Lage sein, „ihr eigenes Lernen zu
regulieren, sich selbständig Lernziele zu setzen, dem Inhalt und Ziel angemessene
Techniken und Strategien auszuwählen und sie auch einzusetzen. Ferner halten
sie ihre Motivation aufrecht, bewerten die Zielerreichung während und nach
Abschluss des Lernprozesses und korrigieren – wenn notwendig – die Lernstrategie.
Sie sind in der Lage, ihre Lernziele und Lernstrategien auch in komplexen
sozialen Beziehungen gemeinsam mit anderen Personen zu entwickeln, umzusetzen
und kritisch zu hinterfragen. "
An dieser Stelle kommt Burchardt zum Grundwiderspruch des
selbständigen Lernens. Auch wenn das Theorem des selbständigen Lernens
scheinbar an die gute alte Tradition von Aufklärung, Mündigkeit und
Selbständigkeit anknüpft, so wird hier vergessen, dass das „Lernen von
Selbständigkeit und selbständiges Lernen“ zwei grundsätzlich verschiedene Dinge
sind:
„Natürlich gibt es vieles, was Kinder ohne explizite Belehrung
durch Erwachsene lernen können. Gleichwohl muss bezweifelt werden, dass das
Ziel der Selbständigkeit allein auf dem Wege des selbständigen Lernens erreicht
werden kann. Um es auf den Punkt zu bringen: Es bedarf auch der fachlichen und
persönlichen Autorität des Lehrers oder der Lehrerin, damit die Selbständigkeit
der Schüler und Schülerinnen gedeihen kann.“
Zudem müsse Burchardt zufolge überhaupt erst zu klären, was
den das „Lernen“ ausmacht. Die Verteidiger des selbständigen Lernens „stellen
sich aber gar nicht die Frage, was Lernen tatsächlich ist, sondern formulieren
stattdessen ein `Leitbild´(...) von dem, was Lernen sein soll.
Mit anderen Worten: Der hier beschriebene Typus von Schüler
oder Schülerin und der Stil des Lernens existieren nicht, sondern sollen in den
Einrichtungen erst systematisch produziert werden.
Kinder sollen "Lernen lernen", schallt es durch
die Schulen – eine zunächst absurde Formulierung, da ja immer schon
vorausgesetzt wird, was als Ergebnis versprochen wird, nämlich: Lernen können.“
"Lernen lernen" – eine absurde Formulierung, da ja immer schon vorausgesetzt wird, was als Ergebnis versprochen wird, nämlich: Lernen können. |
Im Rahmen der oben skizzierten politischen Programmatik soll
das Lernen also „für und durch die die Neue Lernkultur umprogrammiert werden.“
Denn: Wenn das Kind keine Schüler mehr sein darf, sondern sich in einen Lerner
verwandeln muss, „wie sieht dann sein Innenleben aus? Es ähnelt einer
Schaltzentrale aus der Roboter-Technik. Schließlich soll er in der Lage sein,
das eigene `Lernen [zu] regulieren, [...] sich selbstständig Lernziele zu
setzen, dem Inhalt und Ziel angemessene Techniken und Strategien auszuwählen
und sie auch einzusetzen.´ (Höfer/Madelung 2006, 159). Die Lerner – heißt es
weiter – `halten […] ihre Motivation aufrecht, bewerten die Zielerreichung
während und nach Abschluss des Lernprozesses und korrigieren – wenn notwendig –
die Lernstrategie.´ (ebd. 19).“
(Fortsetzung folgt)
Zitate aus: Matthias Burchardt: “Wir machen
alles alleine. Die Krise selbstgesteuerten Lernens“, SWR2 Aula, Sendung vom Sonntag,
13. März 2016, Das Manuskript gibt es online unter: http://www.swr.de/-/id=16882210/property=download/nid=660374/1obdni3/swr2-wissen-20160313.pdf,
als Podcast unter: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/aula.xml - Weitere Literatur: Höfer, Christoph, Madelung,
Petra: Lehren und Lernen für die Zukunft. Unterrichtsentwicklung in
selbstständigen Schulen. Troisdorf 2006.
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