Sonntag, 14. Januar 2024

Josef Kraus und die Fallgruben und Verirrungen der Bildungspolitik

Das Buch „Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt“ von Josef Kraus ist nach eigenen Angaben eine „eine – bisweilen grimmige – Untersuchung der Trümmer und Ruinen, die deutsche Bildungspolitik und deutsche Bildungswissenschaften hinterlassen haben.“, denn aus den seit den 60er Jahren vollmundig angekündigten Reformen sind schlechthin Deformationen geworden – ob diese Bildung nun einem „radikalen Egalisierungswahn“ unterwarfen oder später den „Neugründungsmythen deutscher Bildungspolitik“, die unter den Namen „Pisa“ und „Bologna“ bekannt wurden.

Josef Kraus (*1949): Lehrer, Psychologe und von 1987 bis 2017 Präsident des Deutschen Lehrerverbands

Während diejenigen, die mit der Pisa-Flagge durch die Bildungslandschaften tapsen, weiterhin – und scheinbar völlig unbeeindruckt von gegenteiligen Ergebnissen der Bildungsforschung – die Einheits- und Gesamtschule anpreisen und zugleich das „gegliederte, begabungs- und leistungsorientierte Schulwesen“ auf den Müllhaufen der Geschichte verdammen wollen, so verkündigen diejenigen, die im Namen von „Bologna“ unterwegs sind, dass nun – mit Bachelor, Master, Workloads und Credit Points - endlich Effizienz, Mobilität, Modularisierung, Kompatibilität, Praxistauglichkeit, »Employability« Einzug in das Bildungssystem Eingang gefunden hat.

 

Für Kraus ist es eine wirklich verblüffende Situation: „Da können Bildungsexperimente, die immer zugleich Experimente an Schutzbefohlenen sind, noch so völlig scheitern, sie werden dennoch durchgezogen oder – wie etwa im Fall der Gesamtschule mit ihrer durchschlagenden Erfolglosigkeit – in neuem Gewand unter dem Etikett `Gemeinschaftsschule´ präsentiert. Damit und mit kuriosen Lehrplanreformen kann man ein Schulwesen innerhalb (…) von fünf Jahren an die Wand fahren (…) Hier scheint zu gelten, was Peter Sloterdijk feststellte: `Macht ist das Vermögen, die Tatsachen in die Flucht zu schlagen.´“

 

Für Kraus sind es vor allem fünf Fallgruben, in die die „bildungspolitischen Schlaumeier“ stets hineintapsen:

 

Eine dieser Fallen ist die Egalitäts-Falle. „Das ist die Ideologie, dass alle Menschen, Strukturen, Werte und Inhalte gleich bzw. gleich gültig seien. Das ist auch die Ideologie, dass es keine verschiedenen Schulformen, keine verschiedenen Begabungen, keine verschiedenen Fächer sowie keine bestimmten Werte geben dürfe.“ 

 

Gleichheit oder Gleichmacherei?

 

Eine zweite Falle sei die Hybris-Falle, also der „aus dem Marxismus (`Der neue Mensch wird gemacht´) und dem Behaviorismus (`Der neue Mensch ist konditionierbar!´) abgeleitete Wahn, jeder könne total gesteuert und zu allem `begabt´ werden.“

 

Eine dritte Falle wäre die „Falle der Spaß-, Erleichterungs- und Gefälligkeits-pädagogik. Diese tut – angestrengt und sehr bemüht – so, als ob Schule immer nur cool sein könne und ja alles tun müsse, dass sich Kinder doch ja nicht langweilen.“ 

 

Eine vierte Falle schließlich ist die Quoten-Falle. „Das ist die planwirtschaftliche Vermessenheit, es müssten möglichst alle das Abiturzeugnis bekommen und es dürften möglichst wenige oder gar keine Schüler sitzenbleiben. Dabei müsste doch eigentlich klar sein: Wenn alle Abitur haben, hat keiner mehr Abitur!“

 

Schließlich die fünfte, die Beschleunigungs-Falle. „Das ist die Vision, man könne mit einer immer noch früheren Einschulung in immer weniger Schuljahren und mit immer weniger Unterrichtsstunden zu besser gebildeten jungen Leuten und zu einer gigantisch gesteigerten Abiturienten- und Akademikerquote kommen.“

 

Natürlich sind diese Fallgruben je nach Bundesland unterschiedlich stark ausgeprägt, aber in jedem Fall drohen durch diese falschen Maßstäbe „Individualität, Leistung, Anstrengungsbereitschaft, natürliche Reifung und Qualität zu versinken.“ Und dennoch würde munter „drauflos re- und deformiert. Reformen über Reformen werden in den Sand gesetzt, ohne Produkthaftung von Seiten derjenigen, die all dies inszeniert haben. Dass die allermeisten Reformen eben gerade denen schaden, denen sie zugutekommen sollten, nämlich den sozial Schwächsten, wird verdrängt. Die Kinder aus  `gutem´ Hause bekommen die Verirrungen der Schulpolitik durch elterliches Zutun kompensiert, die Kinder aus `bildungsfernen Elternhäusern aber bleiben in ihren `restringierten Codes´, in ihren Herkunftsmilieus eingekerkert.“ 

 

So richtig gut sieht der Turm fon Piesa auch nicht aus ...

Die Folge ist eine unfruchtbare und verödete Bildungslandschaft, „weil ihre Grundlage erodiert. Die misslungenen, aber offiziell dennoch für erfolgreich erklärten Reformen sind wie ein Eingriff in die Ökologie von Bildung mit all ihren Folgen bis hin zum Verlust an Artenvielfalt, zum Beispiel Schularten-Vielfalt. Man könnte auch sagen: Diese Bildungsnation wird von den einen willentlich, von anderen naiverweise an die Wand gefahren – brav assistiert von den meisten Parteien, von den meisten Bildungsforschern, von moralisierenden Schwätzern, von diversen Stiftungen sowie von manch karriereorientiertem Lehrer und Schulleiter.“

 

Solch eine Entwicklung fällt nicht vom Himmel. Hinter der dargestellten Entwicklung und ihren Fallgruben erkennt Kraus verschiedene Grundhaltungen – er nennt sie „mentale und intellektuelle Verirrungen“, die sich fatal auf die Bildungspolitik auswirken: 

 

Eine solche Verirrung ist beispielsweise: „Deutsche sind gerne Gesinnungs-ethiker. Gleichheit, Gerechtigkeit, Kuscheligkeit – so lauten die pädagogischen Glaubens- und Gesinnungsbekenntnisse. Immer und immer wieder werden sie mantramäßig vorgebetet, ohne Rücksicht auf die Folgen solcher Haltungen.“

 

Wie Max Weber in seiner Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik herausgearbeitet hat, fühle sich der Gesinnungs-ethiker nur dafür verantwortlich, „dass die Flamme der reinen Gesinnung nicht erlösche. Der Verantwortungsethiker dagegen bedenke stets die Motive und Ergebnisse seines Handelns.“ So gehe es vielen in der deutschen Bildungsdebatte nicht um „eine rationale Verantwortungsethik, nicht um das qua Bildung und Erziehung behutsam Machbare, sondern um die reine Gesinnung. Jedenfalls gehören die Deutschen zu den Weltmeistern der `political correctness´ und der `educational correctness´ mit ihren Denkverboten, Denkgeboten, Tabus, mit ihren Euphemismen, mit ihren Hui- und Pfui-Begriffen gerade in der Pädagogik.“

 

Eine weitere Verirrung ist für Kraus das egalitäre Denken, wenngleich dieses nicht einer gewissen Paradoxie entbehrt: „Dieselben Leute, die ständig von Gleichheit, Gerechtigkeit, Kindgemäßheit reden, betreiben unter Einflüsterung der Wirtschaft und der OECD eine Ökonomisierung von Bildung. Alles an `Bildung´ soll messbar, nützlich, verwertbar sein. Der Mensch wird zum `Humankapital´ und damit verdinglicht.“

 

"Heute versteht es sich von selbst, dass auch das Erziehungswesen in den Komplex der Wirtschaft gehört ..."

Schon 1961 hatte die OECD, „die ja auch für die Pisa-Testerei verantwortlich zeichnet, in einem Grundsatzpapier festgehalten: `Heute versteht es sich von selbst, dass auch das Erziehungswesen in den Komplex der Wirtschaft gehört, dass es genauso notwendig ist, Menschen für die Wirtschaft vorzubereiten wie Sachgüter und Maschinen. Das Erziehungswesen steht nun gleichwertig neben Autobahnen, Stahlwerken und Kunstdüngerfabriken. Wir können nun, ohne zu erröten und mit gutem ökonomischen Gewissen versichern, dass die Akkumulation von intellektuellem Kapital der Akkumulation von Realkapital an Bedeutung vergleichbar – auf lange Dauer vielleicht sogar überlegen – ist.´“

 

Ein weiterer Kardinalfehler des aktuellen Diskurses über Bildung sei schließlich deren „Infantilisierung durch Psychologisierung“ – wobei das, was in die Pädagogik hereingenommen wird, „triviale Alltagspsychologie und damit Banalisierung von Psychologie“ ist. „Alle Pädagogik soll offenbar vom zerbrechlichen Kind, dessen permanenter Traumatisierbarkeit, dessen Gegenwartsperspektive und dessen unmittelbaren Bedürfnissen her gedacht werden. Dem Kind, dem Schüler soll bloß nichts zugemutet werden, es könnte ja frustriert, demotiviert, ja traumatisiert werden. Dass man Kinder damit in einer Käseglocke und in einer ewigen Gegenwart einschließt und ihnen die Zukunft raubt, scheint nicht zu zählen. Statt ihnen ein bisschen etwas zuzumuten, weil man ihnen ja eigentlich mehr zutrauen kann, werden unsere Kinder von einem Teil der Eltern, von den `Helikoptereltern´, rundum `gepampert´.“

 

Josef Kraus geht es mit diesem Buch „um Diagnosen und Analysen. Für abgehobene Visionen, die nicht schulreif sind und es nicht werden können, bin ich nicht zu haben. Auch deshalb nicht, weil Visionen mit ihren Perfektionismusvorstellungen etwas Destruktives an sich haben; sie verhindern nämlich, dass das real (!) Beste aus einer Situation gemacht wird.“

 

Dass sich Kraus sich da und dort „einer durchaus kräftigen Rhetorik“ bedient, hat seinen Grund darin, dass es ihm auch darum geht, „Misstrauen zu säen gegenüber vermeintlichen bildungspolitischen Göttern. Die wollen ihr Ding drehen, und sie scheren sich nicht um den Willen des Volkes. Sie mögen Runde Tische einbestellen. Aber es ist oft nur eine Inszenierung, die nach Demokratie ausschauen soll (…) Das muss man sich nicht gefallen lassen.“

 

Dafür braucht es Mut, wie schon vor zweieinhalb Jahrtausenden „Perikles gesagt hat: `Zum Glück brauchst du Freiheit, zur Freiheit brauchst du Mut.´“

 

Zitate aus: Josef Kraus: Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt. Und was Eltern jetzt wissen müssen, München 2017 (Herbig)

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