Dass alle Menschen – wirklich alle! – gleich sein sollen, galt die längste Zeit in der Menschheitsgeschichte als vollkommen absurd. In ihrem Buch „Demokratie – Eine deutsche Affäre“ erzählt die Historikerin Hedwig Richter, wie diese revolutionäre Idee aufkam, allmählich Wurzeln schlug, auch in Deutschland, und gerade hier so radikal verworfen und so selbstverständlich wieder zur Norm wurde wie nirgends sonst. In der Einleitung zu ihrem Buch beschreibt sie den Begriff und das Phänomen „Demokratie“ mit Hilfe von vier Thesen.
Demokratiegeschichte ist häufig ein Projekt von Eliten (These 1)
Demokratie lässt sich nicht notwendig beschreiben als ein Anliegen des „Volkes“, als eine „von unten“ erkämpfte Herrschaftsform. „Demokratie-geschichte ist nicht immer, aber häufig ein Projekt von Eliten. (…) In ihrem Alltag um 1800 hatten die Menschen der unteren Schichten meistens wenig Muße und kaum Ressourcen, um über Gleichheit und Mitbestimmung nachzudenken. Das änderte sich erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts.“ Richter warnt deshalb davor, Demokratiegeschichte einseitig als Revolutionsgeschichte zu interpretieren und den Reformbewegungen zu wenig Beachtung zu schenken, nicht zuletzt, weil gewaltförmige Wandlungsprozesse eher zu Diktaturen führen und friedfertige Reformen mehr Potential zur Demokratisierung aufweisen. Demokratie-geschichte ist daher wesentlich „eine Geschichte der Reformen, die oft von diesen Eliten angestoßen werden.“
Demokratiegeschichte ist immer auch die Geschichte ihrer Einschränkung (These 2)
Auch wenn es vorrangig die Eliten waren, die sich für Demokratisierung eingesetzt haben, so waren es nicht nur ethische Beweggründe oder gar ein aufklärerischer Impuls, der sie angetrieben hat, sondern durchaus auch ein egoistisches Interesse. „Demokratie kann beispielsweise der Disziplinierung der Bürger dienen. Von Anfang an achteten Eliten zudem darauf, dass es nicht zu einer `Tyrannei der Mehrheit´ kam.“ In der liberalen Demokratietradition steht daher der Gedanke im Mittelpunkt, dass möglichst eine stabile „Balance der Mächte erreicht wird, ein System von checks and balances, in dem die Freiheit des Individuums geschützt und sein Streben nach Glück möglich ist.“
Demokratiegeschichte ist wesentlich eine Geschichte des Körpers, seiner Misshandlung, seiner Pflege, seines Darbens – und seiner Würde (These 3)
Gleichheit und Freiheit lassen sich nur so lange verkündigen, solange Menschen – und damit eben auch und vor allem deren Körper – nicht misshandelt werden. Demokratisierung wird damit zu einer „politische Geschichte des Körpers, die analysiert, wie Erfahrungen mit dem Körper und Vorstellungen vom Leib Macht und Herrschaft durchdringen und verändern, wie sich Demokratisierung durch Körper und an Körpern zum Ausdruck bringt (…) Menschen, die nicht über ihren eigenen Körper herrschten, etwa Sklaven oder Frauen, wurden von Gleichheitsvorstellungen in der Regel ganz selbstverständlich ausgeschlossen.“
Richter weist unmissverständlich darauf hin: „Für die „Internalisierung einer Vorstellung wie Gleichheit reicht eine abstrakte Idee nicht aus; damit die universale Gleichheit `self-evident´ wurde, wie in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung festgehalten, musste sie inkorporiert und gefühlt werden.“ Demokratiegeschichte wird damit unweigerlich auch zu einer Geschichte der Gefühle und der Vorstellungswelten
Natürlich behauptet Richter damit nicht, dass die Geschichte der Demokratie selbstverständlich auch Ideengeschichte und Politik- und Parteiengeschichte sei, doch öffne der „Fokus auf die Gefühlswelten und auf den Körper“ einen neuen Blick für die Komplexität der Demokratiegeschichte: „Diese Perspektive schließt ökonomische und demographische Entwicklungen mit ein, die große Masse der Menschen wird sichtbarer, die hungernden Bauern etwa oder die schuftenden Frauen.“
Denn entscheidend für die Entwicklung von Demokratie war immer auch deren „Fähigkeit zur Skandalisierung: dass Armut nicht mehr als gottgegeben und unvermeidbar galt, dass Foltern und Quälen Gefühle der Abscheu hervorriefen, dass Ungleichheit als Unrecht empfunden wurde.“
Demokratiegeschichte ist eine internationale Geschichte (These 4)
Für Richter ist offensichtlich, dass die „nationalen Erzählungen“ nicht aus-reichen, um die Entwicklung der Demokratie zu beschreiben. Vielmehr entstand die moderne Demokratie im internationalen, genauer, im nordatlantischen Raum.
Dabei ist die Beziehung zwischen Demokratie, Nation und Internationalität durchaus spannungsreich: „Der Nationalgedanke war für die Popularisierung der Gleichheitsidee ausschlaggebend, und seit Demokratie zum globalen Heilsversprechen geworden ist, bildet sie den Kern nationaler Identitäten.“
So sei es nicht verwunderlich, dass die meisten westlichen Staaten ihre Geschichte als nationale Demokratiewerdung erzählen, in enger Verbindung mit nationalen Schlüsselereignissen und Mythen.
Dies werde in besonderer Weise am Beispiel Deutschlands mehr als deutlich: „Die Transnationalität von Demokratie und die selbstverständliche Einbettung Deutschlands in diese Geschichte wird an dem Diktum deutlich, das der amerikanische Präsident Abraham Lincoln 1863 aufgegriffen hat und das bis heute als prägnante Formel von Demokratie gilt: `government of the people, by the people, and for the people´. Bereits ein halbes Jahrhundert vorher hatte Ernst Moritz Arndt, der wie viele Intellektuelle am Beginn des 19. Jahrhunderts die Zukunft in der `Demokratie´ sah, 1814 erklärt: `Die besten Kaiser und Könige und alle edlen Menschen haben ja auch immer nur bekannt, daß sie für das Volk da sind und für das Volk und mit dem Volke regieren.´
Die Formel selbst hat weitere Vorläufer, darunter die 1791 von Claude Fauchet formulierte Sentenz: „Tout pour le peuple, tout par le peuple, tout au peuple“ (dt. „Alles für das Volk, alles vom Volk, alles für das Volk“), oder auch den Satz „Rex per populum et propter populum existat, nec absque Populo consistere possit“ (dt. Der König existiert durch das Volk und für das Wohl des Volkes und kann nicht ohne das Volk existieren“) aus dem Traktat „Strafgericht wider die Tyrannen“ (lat. Vindicae contra tyrannos), erschienen 1575 unter dem Pseudonym Stephanus Iunius Brutus Celta.
Ausgabe des Vindicae von 1579 |
Dennoch: Intellektuelle und Wissenschaftler haben immer wieder auf den utopischen und fiktiven Charakter von Demokratie hingewiesen. Gerade weil Demokratie auch Wirklichkeiten erzeugt und (nationale) Identitäten stiftet, deshalb sei jede vermeintlich historische Darstellung letztlich nur Erzählungen, „für die wir einen Plot wählen und in denen wir Bösewichte und Heldinnen auftreten lassen; wir setzen einen Anfang und schreiben auf ein Ende hin – ein geglücktes oder ein böses, in diesem Fall ein offenes.“
So sei die Geschichte der Demokratie „eine Modernisierungserzählung, deren Stoff Fiktionen, Wahrheiten und auch Zufälle sind. Sie ist eine leidenschaftliche, optimistische Chronologie von Fehlern und Lernprozessen, in deren Herz der Zivilisationsbruch des Holocaust steckt. Es ist keine geradlinige Geschichte, deren Ende feststeht. Ganz im Gegenteil. Die Affäre geht weiter. Die nächste Staffel folgt.“
Zitate aus: Hedwig Richter: Demokratie: Eine deutsche Affäre, München 2023 (C.H. Beck)
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