An der Bewertung der Freiheit scheiden sich seit Jahrhunderten die Geister. Der philosophische Freiheitsbegriff befindet
sich in einer ständigen Diskussion und
unterliegt damit auch einem permanenten Wandel. Das Problem wird noch dadurch
erschwert, dass sich im Begriff der Freiheit gleichzeitig psychologische,
soziale, kulturelle, politische und rechtliche Dimensionen überschneiden.
Dennoch gehört Freiheit zu den zentralen
Begriffen der Philosophie und Ideengeschichte. Insbesondere, wenn wir versuchen
unser eigenes Leben zu beurteilen, dann dürfen wir nicht nur unsere
tatsächliche materielle Lebensführung betrachten, sondern müssen ebenso unsere
Freiheit berücksichtigen, zwischen verschiedenen Lebensstilen wählen zu können.
Die Freiheit, über unser Lebens selbst zu bestimmen, ist daher ein
fundamentaler Aspekt der Lebensqualität
Amartya Sen (* 3.11.1933) |
Auch in der „Theorie der Gerechtigkeit“ von Amartya Sen steht der Begriff der Freiheit im Zentrum der Beurteilung einer
Gesellschaft und der Einschätzung von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit.
Freiheit ist für Sen kostbar aus mindestens
zwei Gründen. Erstens gibt uns Freiheit mehr Chancen, unsere Ziele zu verfolgen – die Dinge, die wir hoch
schätzen. Sie unterstützt uns zum Beispiel bei der Entscheidung, so zu leben,
wie wir möchten, und beim Streben nach den Zielen, die wir erreichen wollen.
Zweitens können wir aber dem Entscheidungsprozess
selbst Bedeutung beimessen. So wollen wir bei allen unseren Entscheidungen
sicher sein, dass wir nicht in eine Lebenslage gezwungen werden, weil andere
Druck auf uns ausüben (256).
Aus diesen Gründen stellt Amartya Sen den Begriff
der Freiheit in das Zentrum seines sogenannten Befähigungs- oder
Capability-Ansatzes.
„In diesem Ansatz wird der individuelle
Vorteil gemessen an der Befähigung einer Person, die Dinge zu tun, die sie mit
gutem Grund hochschätzt. Hat eine Person geringere Befähigung – weniger reale
Chancen – als eine andere, die Dinge zu tun, die sie mit Grund hoch bewertet,
wird ihr Vorteil niedriger eingeschätzt“ (259)
Der Schwerpunkt beim Capability-Ansatz liegt also
auf der tatsächlichen Freiheit einer Person, dieses oder jenes zu tun – Dinge,
die ihr (und vielleicht nur ihr) wichtig sind.
Freiheit umfasst daher neben der Abwesenheit
von Hindernissen (passive Freiheit), vor allem auch die Möglichkeit, nach
eigenen Wünschen zu handeln (aktive Freiheit). Freiheit ist für Sen daher ein
normatives Ziel, ein Zweck an sich. Eine Gesellschaft ist für ihn umso
gerechter, je mehr ihrer Mitglieder über Befähigung- oder
Verwirklichungschancen (capabilities) verfügen.
„Der Befähigungsansatz konzentriert sich auf
das Menschenleben und nicht auf irgendwelche für sich stehenden zweckdienlichen
Daten, etwa die Einkommensquellen oder Verbrauchsgüter, über die eine Person
verfügt, Daten, die vor allem in wirtschaftswissenschaftlichen Untersuchungen
häufig als Hauptkriterien für den Erfolg von Menschen gelten“ (261).
Das Ziel des Capability Approaches ist also
letztlich, die Gerechtigkeit nicht nur mit dem Einkommen, dem Besitz, mit
Privilegien und Macht als eindimensionalen Maßstäben zu erfassen, wie es vielfach
üblich ist. Im Vordergrund steht die Frage, was der Mensch für ein gutes,
gelingendes Leben benötigt. Materielle Güter und Ressourcen werden für diesen
Zweck nur als - allerdings wichtige - Mittel und nicht als Selbstzweck
betrachtet.
Aristoteles |
Schon Aristoteles hatte in der Nikomachischen Ethik mit großer Klarheit
argumentiert: „Der Reichtum ist gewiss nicht das gesuchte oberste Gut. Denn er
ist nur ein Nutzwert: Mittel für andere Zwecke“ (1096a).
Amartya Sen dagegen geht es bei seinem Ansatz
um Befähigungen, über die der Mensch verfügen muss, damit er sein Leben
erfolgreich gestalten kann.
Dazu ein Beispiel von Sen: „Auch wenn
zwischen zwei Personen hinsichtlich ihrer realisierten Funktionsweisen ´Gleichstand`
herrscht, können sich dahinter immer noch signifikante Unterschiede zwischen
den Vorteilen der einen und der anderen Person verbergen (…) Vergleicht man zum
Beispiel den Hunger und die Unterernährung zweier Menschen, kann jemand, der
aus religiösen oder politischen Gründen freiwillig fastet, genauso an
Unterernährung und Nahrungsmangel leiden wie das Opfer einer Hungersnot … und
dennoch kann die Befähigung der gut situierten Person, die das Fasten gewählt hat, viel größer sein als die
Chancen derjenigen, die unfreiwillig aus Armut und Not Hunger leidet“ (264).
Der Befähigungsansatz verknüpft die Idee der
Befähigung mit dem Vorhandensein von substantieller Freiheit und schreibt so
der tatsächlichen Fähigkeit einer Person, die verschiedenen Dinge zu tun, die ihr
wichtig sind, eine zentrale Rolle zu.
Der Capability-Ansatz konzentriert sich also
auf das Leben, das Menschen tatsächlich führen können, und nicht auf ihre
Ressourcen. Er bestätigt damit ausdrücklich, dass die Mittel für ein befriedigendes Menschenleben nicht selbst Ziele des guten Lebens sind – genau darauf
kam es auch Aristoteles an.
(Quelle: Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung) |
So richtet Sen schließlich den Blick auf die instrumentellen
Funktionen der Freiheit. Diese dienen den Menschen als Mittel, das Ziel der
Freiheit, d.h. die Verwirklichungschancen sicherzustellen. Zu den
instrumentellen Freiheiten zählen neben den politische Freiheiten (Kritik,
Widerspruch, Wahlrecht) auch ökonomische Ressourcen,
sowie soziale Chancen (Bildung, Gesundheit), soziale Sicherheiten
(Arbeitslosenversicherung, Sozialhilfe, Mindestlöhne) und die von ihm
sogenannten Transparenzgarantien (vor allem Pressefreiheit).
Es ist das Verdienst Sens, den Begriff der
Freiheit auf seine ursprüngliche Grundbedeutung zurückgeführt zu haben: Freiheit
als Befähigung oder Chance, ohne Zwang zwischen verschiedenen Möglichkeiten
oder Präferenzen wählen und entscheiden zu können. So verstanden beschreibt Freiheit
einen fundamentalen Zustand der Autonomie des Individuums.
Zitate
aus: Amartya Sen: Die Idee der Gerechtigkeit, München
2010 (C.H.Beck) -- Aristoteles: Ethik, München 1991 (dtv)
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