Freitag, 31. August 2012

Amartya Sen und der Capability-Ansatz

An der Bewertung der Freiheit scheiden sich seit Jahrhunderten die Geister. Der philosophische Freiheitsbegriff befindet sich in einer ständigen Diskussion und unterliegt damit auch einem permanenten Wandel. Das Problem wird noch dadurch erschwert, dass sich im Begriff der Freiheit gleichzeitig psychologische, soziale, kulturelle, politische und rechtliche Dimensionen überschneiden.

Dennoch gehört Freiheit zu den zentralen Begriffen der Philosophie und Ideengeschichte. Insbesondere, wenn wir versuchen unser eigenes Leben zu beurteilen, dann dürfen wir nicht nur unsere tatsächliche materielle Lebensführung betrachten, sondern müssen ebenso unsere Freiheit berücksichtigen, zwischen verschiedenen Lebensstilen wählen zu können. Die Freiheit, über unser Lebens selbst zu bestimmen, ist daher ein fundamentaler Aspekt der Lebensqualität

Amartya Sen (* 3.11.1933)
Auch in der „Theorie der Gerechtigkeit“ von Amartya Sen steht der Begriff der Freiheit im Zentrum der Beurteilung einer Gesellschaft und der Einschätzung von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit.

Freiheit ist für Sen kostbar aus mindestens zwei Gründen. Erstens gibt uns Freiheit mehr Chancen, unsere Ziele zu verfolgen – die Dinge, die wir hoch schätzen. Sie unterstützt uns zum Beispiel bei der Entscheidung, so zu leben, wie wir möchten, und beim Streben nach den Zielen, die wir erreichen wollen. Zweitens können wir aber dem Entscheidungsprozess selbst Bedeutung beimessen. So wollen wir bei allen unseren Entscheidungen sicher sein, dass wir nicht in eine Lebenslage gezwungen werden, weil andere Druck auf uns ausüben (256).

Aus diesen Gründen stellt Amartya Sen den Begriff der Freiheit in das Zentrum seines sogenannten Befähigungs- oder Capability-Ansatzes.

„In diesem Ansatz wird der individuelle Vorteil gemessen an der Befähigung einer Person, die Dinge zu tun, die sie mit gutem Grund hochschätzt. Hat eine Person geringere Befähigung – weniger reale Chancen – als eine andere, die Dinge zu tun, die sie mit Grund hoch bewertet, wird ihr Vorteil niedriger eingeschätzt“ (259)

Der Schwerpunkt beim Capability-Ansatz liegt also auf der tatsächlichen Freiheit einer Person, dieses oder jenes zu tun – Dinge, die ihr (und vielleicht nur ihr) wichtig sind.

Freiheit umfasst daher neben der Abwesenheit von Hindernissen (passive Freiheit), vor allem auch die Möglichkeit, nach eigenen Wünschen zu handeln (aktive Freiheit). Freiheit ist für Sen daher ein normatives Ziel, ein Zweck an sich. Eine Gesellschaft ist für ihn umso gerechter, je mehr ihrer Mitglieder über Befähigung- oder Verwirklichungschancen (capabilities) verfügen.

„Der Befähigungsansatz konzentriert sich auf das Menschenleben und nicht auf irgendwelche für sich stehenden zweckdienlichen Daten, etwa die Einkommensquellen oder Verbrauchsgüter, über die eine Person verfügt, Daten, die vor allem in wirtschaftswissenschaftlichen Untersuchungen häufig als Hauptkriterien für den Erfolg von Menschen gelten“ (261).

Das Ziel des Capability Approaches ist also letztlich, die Gerechtigkeit nicht nur mit dem Einkommen, dem Besitz, mit Privilegien und Macht als eindimensionalen Maßstäben zu erfassen, wie es vielfach üblich ist. Im Vordergrund steht die Frage, was der Mensch für ein gutes, gelingendes Leben benötigt. Materielle Güter und Ressourcen werden für diesen Zweck nur als - allerdings wichtige - Mittel und nicht als Selbstzweck betrachtet.

Aristoteles
Schon Aristoteles hatte in der Nikomachischen Ethik mit großer Klarheit argumentiert: „Der Reichtum ist gewiss nicht das gesuchte oberste Gut. Denn er ist nur ein Nutzwert: Mittel für andere Zwecke“ (1096a).

Amartya Sen dagegen geht es bei seinem Ansatz um Befähigungen, über die der Mensch verfügen muss, damit er sein Leben erfolgreich gestalten kann. 

Dazu ein Beispiel von Sen: „Auch wenn zwischen zwei Personen hinsichtlich ihrer realisierten Funktionsweisen ´Gleichstand` herrscht, können sich dahinter immer noch signifikante Unterschiede zwischen den Vorteilen der einen und der anderen Person verbergen (…) Vergleicht man zum Beispiel den Hunger und die Unterernährung zweier Menschen, kann jemand, der aus religiösen oder politischen Gründen freiwillig fastet, genauso an Unterernährung und Nahrungsmangel leiden wie das Opfer einer Hungersnot … und dennoch kann die Befähigung der gut situierten Person, die das Fasten gewählt hat, viel größer sein als die Chancen derjenigen, die unfreiwillig aus Armut und Not Hunger leidet“ (264).

Der Befähigungsansatz verknüpft die Idee der Befähigung mit dem Vorhandensein von substantieller Freiheit und schreibt so der tatsächlichen Fähigkeit einer Person, die verschiedenen Dinge zu tun, die ihr wichtig sind, eine zentrale Rolle zu.

Der Capability-Ansatz konzentriert sich also auf das Leben, das Menschen tatsächlich führen können, und nicht auf ihre Ressourcen. Er bestätigt damit ausdrücklich, dass die Mittel für ein befriedigendes Menschenleben nicht selbst Ziele des guten Lebens sind – genau darauf kam es auch Aristoteles an.

(Quelle: Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung)
So richtet Sen schließlich den Blick auf die instrumentellen Funktionen der Freiheit. Diese dienen den Menschen als Mittel, das Ziel der Freiheit, d.h. die Verwirklichungschancen sicherzustellen. Zu den instrumentellen Freiheiten zählen neben den politische Freiheiten (Kritik, Widerspruch, Wahlrecht) auch ökonomische Ressourcen, sowie soziale Chancen (Bildung, Gesundheit), soziale Sicherheiten (Arbeitslosenversicherung, Sozialhilfe, Mindestlöhne) und die von ihm sogenannten Transparenzgarantien (vor allem Pressefreiheit)

Es ist das Verdienst Sens, den Begriff der Freiheit auf seine ursprüngliche Grundbedeutung zurückgeführt zu haben: Freiheit als Befähigung oder Chance, ohne Zwang zwischen verschiedenen Möglichkeiten oder Präferenzen wählen und entscheiden zu können. So verstanden beschreibt Freiheit einen fundamentalen Zustand der Autonomie des Individuums.

Zitate aus: Amartya Sen: Die Idee der Gerechtigkeit, München 2010 (C.H.Beck)  --  Aristoteles: Ethik, München 1991 (dtv)


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