Donnerstag, 17. Februar 2022

Mark Lilla und die Kritik der Identitätspolitik


Für Ralph Schneider und die vielen Gespräche 
über die Fallstricke des Identitären

Der us-amerikanische Politikwissenschaftler und Publizist Mark Lilla (* 1956) ist seit 2007 Professor für Ideengeschichte an der Columbia University in New York City. Er gilt als einer der schärfsten Kritiker der Identitätspolitik in den USA. Sein Essay mit dem Titel „The End of Identity Liberalism“, der am 2016 in der New York Times erschien, hat starke Gegenreaktionen ausgelöst und ist ein gutes Beispiel für die Vehemenz, mit der Identitätsbewegte mittlerweile den politischen Diskurs prägen. 

Mark Lilla und seine Kriitk an der Identitätspolitik (2017)


Nach Lilla gibt es zwei Arten von Identitätspolitik. „Einmal die alte Identitätspolitik, bei der es sich tatsächlich um eine Form der Interessenpolitik handelt. Bei der frühen Bürgerrechtsbewegung oder der frühen Frauen- oder Homosexuellen-bewegung wurden Menschen mobilisiert, die das gemeinsame Ziel hatten, für ihre Interessen innerhalb unserer politischen Institutionen zu kämpfen. Ihnen ging es darum, innerhalb unserer Institutionen langfristig etwas zu bewegen.“ 

Seit den 1980er Jahren aber habe sich schrittweise die Ausrichtung auf das Indi-viduum verschoben, weg von gemeinsamen Eigenschaften und einer Vorstellung davon, wie wir zusammen eine gemeinsame Agenda verfolgen können. So ginge es in der aktuellen Identitätspolitik „mehr um Selbstentfaltung, Selbstbehauptung und Selbstfindung. Somit ist der politische Horizont junger Leute, die in dieser Atmosphäre aufwachsen, auf Themen beschränkt, die die zufällige Definition ihrer Identität betreffen.“

Dies habe Lilla zufolge zu einer Art „innerer narzisstischer Wende“ geführt, „die von Gleichgültigkeit begleitet ist und vom Unverständnis dessen, wie sich politisch tatsächlich langfristig etwas erreichen lässt. Diese Wendung nach innen und die damit einhergehende Radikalisierung haben zu einer sehr subjektivierten Politik geführt.“

Über politische Ziele und Positionen könne man mit anderen diskutieren, eigene Argumente und Gründe vorbringen. Wenn aber die politische Position aus der Frage erwächst, wie man sich im Intimleben definiert und wie man seine subjektiven Erfahrungen begreift, wird man kein großes Interesse daran entwickeln, sich mit Leuten auseinanderzusetzen, die sehr kritisch sind. „Man wird dann sehr sensibel, sieht sein Ich angegriffen, nicht seine Argumente oder seine politische Haltung. Sobald das passiert, werden Menschen gleichgültig und wenden sich nicht nur von der praktischen Politik ab, sondern werden auch in politischen Debatten intolerant.“

Für Lilla ist genau diese Haltung - die subjektive Wende in der Politik - einer der Gründe für die teilweise hysterisch geführten politischen Debatten an US-Universitäten, wenn es darum geht, kritische Leute zum Schweigen zu bringen oder die vehement vorgetragene Forderung nach „Safe Spaces".

Aber auch das schulische Bildungssystem ist schon längst nicht mehr frei von identitären Elementen. Kindern würde schon in sehr jungen Jahren ihre „Identität“ vermittelt. So habe der Staat New York Curricula-Empfehlungen für Programme ab der Grundschule veröffentlicht. „Ein Vorschlag ist, dass die Kinder ein Tagebuch über ihre Identität führen – im Kindergarten, ab sechs Jahren. Jedes Jahr fügen sie Dinge hinzu, sodass ein kleines Leseheftchen darüber entsteht, wie sie verschie-dene Aspekte ihrer Identität entdeckt haben, ihren ethnischen Hintergrund, später ihr Geschlecht usw..“ 

Identität wird immer stärker als „das geheime innere Ich“ konstruiert, „als der kleine Homunkulus, der das wahre Ich bildet und aus all dem Beiwerk besteht, das man beliebig mitnehmen oder fallenlassen kann. Diese Identitäten sollen beschützt und kultiviert und nicht angegriffen werden.“

Identität, "der kleine Homunkulus, der das wahre Ich bildet"
oder auch "das geheime, innere Ich"

Lilla interpretiert auch die Wahlniederlage von Hillary Clinton gegen Donald Trump im Jahr 2016 unter dem Einfluss der Identitätspolitik. Hillary Clinton sei „hinge-gangen und hat über all die Gruppen gesprochen, die zu den Lieblingen der Demokratischen Partei gehören – bestimmte Minderheiten, Gendergruppen, Frauen usw. (…)Aber sie hat allerhand Menschen im Land außen vorgelassen. Rund 20 Prozent der US-Amerikaner halten sich selbst für Evangelikale – sie hat Religion in dieser Weise überhaupt nicht erwähnt. Ungefähr 37 Prozent des Landes liegen im Süden – sie hat den Süden nie direkt angesprochen. Am Ende hatte sie eine kleine Sammlung bevorzugter Identitäten und hat andere ausgelassen. Wenn man die ganze Zeit über diese Gruppen spricht, ist es unvermeidlich, dass Leute, die zu keiner dieser Gruppen gehören, sich entweder ausgeschlossen fühlen (deshalb sollte man besser jeden erwähnen) oder ein Gruppenbewusstsein entwickeln, sofern sie keines haben – wenn jeder zu einer Gruppe gehört, dann müssen sie das auch tun.“

Natürlich sei es in einem demokratisch verfassten politischen System normal, dass es verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Interessen gibt. Man könne allerdings auch über Interessen sprechen, ohne das Wort Identität auch nur in den Mund zu nehmen. „Afroamerikaner haben einige gemeinsame Anliegen und das ist ziemlich normal. Es ist wichtig, dass die Leute in die alltägliche politische Arbeit einbezogen werden. Dazu gehört: einer Partei beitreten, Kompromisse schließen und eine Rhetorik finden, die Wähler anzieht. Es ist außerdem notwendig, allgemeine Prinzipien zu formulieren, die für verschiedene Gruppen in unterschiedlicher Weise gelten. Es kommt darauf an, dass sich alle an diese Prinzipien gebunden fühlen.“ 

Für Lilla geht es bei seiner Kritik an der Identitätspolitik ebenfalls darum, zwei grundlegende politische Prinzipien wieder ins Bewusstsein zu rufen. „Eines ist gesellschaftliche Solidarität, das andere gleicher Schutz durch das Gesetz.“ „Am Beispiel eines arbeitslosen Fabrikarbeiters in Ohio, dessen Kind opiatsüchtig ist und dessen Wohnort den Bach runter geht, lässt sich Solidarität erklären: Solidarität bedeutet, dass wir sie unterstützen. Weil Bürger keine totgefahrenen Tiere am Straßenrand sind. Andererseits gibt es den schwarzen Autofahrer, der die Nase voll davon hat, ständig von der Polizei angehalten zu werden, weil er schwarz ist. Ihm kann man erklären, dass das Prinzip des gleichen Schutzes durch das Gesetz auch für ihn gilt. Unterschiedliche Gruppen haben also verschiedene Interessen und Anliegen, aber die allgemeine Botschaft gilt für alle.“

Lilla selbst stellt sich in die Tradition des Art bürgerschaftlichen Liberalismus, d.h. einer Form des Liberalismus, „der auf der Vorstellung basiert, dass wir alle Bürger sind. Und als Bürger steht uns nicht nur etwas zu, sondern wir haben auch Pflichten gegenüber anderen Bürgern. Es handelt sich um eine bürgerschaftliche Pflicht. 

Bei der Individualisierung und Atomisierung unserer Gesellschaften und bei der Individualisierung unserer politischen Rhetorik fällt der gesamte Bereich der Verpflichtungen hinten runter. Es fehlt der Ansatz, dass man in einer Gesellschaft sowohl Pflichten als auch Rechte hat.“


Zitate aus: Johannes Richardt (Hg.): Die sortierte Gesellschaft. Zur Kritik der Identitätspolitik, Frankfurt 2018

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