Bertrand Russell (1872 - 1970) |
Für den Mathematiker und Philosophen Bertrand Russell ist „Macht“
die primäre Triebkraft menschlichen Handelns und damit der entscheidende Faktor
der Geschichte. Diese Überzeugung vertritt Russell zumindest in seiner
grundlegenden Abhandlung, die mit dem schlichten Titel „Power“ erstmals 1938 in
London und in deutscher Übersetzung 1947 veröffentlicht wurde.
Russell beschreibt und analysiert Macht in ihren
verschiedenen Erscheinungsweisen, darunter auch die verschiedenen Formen von »nackter«
Gewalt, das heißt „von einer Art Macht, die keinerlei Zustimmung vonseiten des
Untertanen beinhaltet. Von solcher Art ist die Macht des Schlächters über die
Schafe, einer eingedrungenen Armee über eine besiegte Nation und der Polizei über
entdeckte Verschwörer. Die Macht der katholischen Kirche über Katholiken ist
traditionell, aber ihre Gewalt über Ketzer, die verfolgt werden, ist nackt. Die
Macht des Staates über loyale Bürger ist traditionell, seine Gewalt über
Rebellen jedoch ist nackt.“
Besondere Aufmerksamkeit schenkt Russell in diesem
Zusammenhang den antiken Tyranneien von Syrakus, „weil sie sowohl eines der
vollkommensten Beispiele für nackte Gewalt bieten als auch Plato beeinflussten,
der mit dem älteren Dionys in Streit geriet und aus dem jüngeren einen Schüler
zu machen suchte.“ Ein besonders anschauliches Beispiel ist die Laufbahn
des Agathokles, eines Zeitgenossen Alexanders des Großen, der von 361 bis 289
vor Christi Geburt lebte und während der letzten achtundzwanzig Jahre seines
Lebens Tyrann von Syrakus war.
Syrakus war die größte griechische Stadt, vielleicht die
größte Stadt am Mittelländischen Meer. Auch in Syrakus, wie in jeder anderen
griechischen Polis, begünstigten die Reichen die Oligarchie und die Armen die
Demokratie. Wenn die Parteigänger der Demokratie siegten, machte ihr Führer
gewöhnlich sich selbst zum Tyrannen.
Zeichnung einer Büste, die vermutlich Agathokles darstellt Musei Vaticani, Sala dei Busti |
Agathokles war ein Mann von niederer Abstammung, der Sohn
eines Töpfers. „Seiner Schönheit wegen wurde er der Favorit eines reichen
Syrakusers mit Namen Demas, der ihm all sein Geld vermachte und dessen Witwe er
heiratete.“ Nachdem Agathokles sich dann auch noch im Krieg ausgezeichnet
hatte, glaubten viele, er würde nun die Tyrannei anstreben. Er wurde daher
nicht nur aus Syrakus verbannt, sondern es wurde zusätzlich angeordnet, dass er
auf seiner Reise ermordet werden sollte.
Agathokles jedoch sah dieses Komplott voraus, wechselte mit
einem Armen die Kleider, der dann fälschlich von den gemieteten Mördern getötet
wurde. Agathokles sammelte hierauf im Innern von Sizilien ein Heer, was die
Syrakuser so erschreckte, dass sie mit ihm einen Vertrag schlossen: Er wurde
wieder aufgenommen und leistete im Tempel der Ceres den Eid, dass er nichts zum
Schaden der Demokratie unternehmen würde.
Die Regierung von Syrakus scheint zu dieser Zeit eine
Mischung von Demokratie und Oligarchie gewesen zu sein. Es gab einen Rat der
Sechshundert, der aus den reichsten Leuten bestand. Agathokles nahm sich der
Sache der Armen gegen diese Oligarchen an. Im Lauf einer Unterredung mit
vierzig von ihnen stachelte er die Soldaten auf und ließ alle vierzig ermorden.
Darauf führte er das Heer in die Stadt und befahl ihm, die Häuser der
Sechshundert zu plündern. Dies geschah, und außerdem massakrierte man Bürger,
die aus ihren Häusern kamen, um zu sehen, was da geschehe.
Der antike Historiker Diodorus schrreibt: „Ja, die in die
Tempel, unter den Schutz der Götter flüchteten, selbst sie waren nicht sicher;
sondern die Frömmigkeit gegen die Götter wurde von der Grausamkeit der Menschen
geschändet: und all das wagten Griechen gegen Griechen im eigenen Land und
Verwandte gegen Verwandte mitten im Frieden ohne Achtung gegen die Gesetze der
Natur oder der Sippe der Götterverehrung frevelhaft zu begehen: auf welche
Nachricht nicht nur Freunde, sondern sogar Feinde und jeder vernünftige
Mann das Elend dieser Entarteten nur bemitleiden konnte.“
Nach einem zweitägigen Massaker rief Agathokles schließlich
die Volksversammlung zusammen, klagte die Oligarchen an und sagte, er werde die
Stadt von allen Freunden der Monarchie reinigen, er selbst aber werde sich ins
Privatleben zurückziehen.
Das Volk aber wollten ihn weiterhin an der Macht haben, und
er wurde zum alleinigen Befehlshaber ernannt. Dabei spielten individuelle
Interesses häufig ein größeres Gewicht als die Sorge und das Gemeinwohl, wie
Diodorus feststellt: „Viele von den Ärmeren, von jenen, die Schulden hatten,
waren mit der Revolution sehr zufrieden“, denn Agathokles versprach
Schulderlass und Landverteilung für die Armen.
Agathokles Macht und die Anwendung nackter Gewalt über überdauerte
all diese Missetaten. Er eroberte weitere Städte in Sizilien, darunter Segesta,
tötete alle ärmeren Männer der Stadt und folterte die Reichen, bis sie das
Versteck ihrer Schätze verrieten. Die jungen Frauen und Kinder verkaufte er als
Sklaven.
Der Hera-Tempel in Segesta (Sizilien) |
Trotz aller „Erfolge“ war sein Privatleben alles andere als glücklich.
Seine Frau hatte mit seinem Sohn eine Affäre, einer seiner Enkel ermordete den
anderen und brachte später einen Diener des alten Tyrannen dazu, Agathokles Zahnstocher
zu vergiften.
Als Agathokles sah, dass er sterben müsse, war seine letzte
Handlung, den Senat zusammenzurufen und Rache gegen seinen Enkel zu fordern.
Aber sein Gaumen war durch das Gift so wund geworden, dass er nicht mehr
sprechen konnte. Die Bürger erhoben sich, er wurde - bevor er tot war - auf
seinen Begräbnisscheiterhaufen befördert, seine Güter wurden eingezogen, und
die Demokratie wurde, wie man sagt, wiederhergestellt.
Für Russell zeigt dieses historische Beispiel, dass nackte Gewalt
in der Regierung einer Gemeinschaft, die nicht fremden Eroberern unterworfen
ist, unter zwei verschiedenen Gruppen von Umständen auftritt. Zunächst einmal
dort, wo zwei oder mehr fanatische Ideologien um den obersten Rang im
Wettstreit liegen. Diese Form wird gemeinhin als „revolutionäre Gewalt“
bezeichnet. Weiterhin kommt es zu nackter Gewalt, wenn alle traditionellen
Ansichten im Verfall begriffen sind, ohne dass andere neue sie ersetzt haben,
so dass persönlichem Ehrgeiz keine Grenzen gesetzt sind.
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