„Elemente und Ursprünge
totaler Herrschaft“ (1955 auf Deutsch erschienen) ist das vielleicht
wichtigste, in jedem Fall umfangreichste Buch von Hannah Arendt. Auf insgesamt
1015 Seiten rekonstruiert sie einerseits die Entwicklung des Antisemitismus im
18. und 19. Jahrhundert sowie das Aufkommen des Rassismus und des Imperialismus
im 19. und frühen 20. Jahrhundert, andererseits entwirft sie eine umfassende
Theorie des Totalitarismus, aufbauend auf den beiden historischen Formen
totaler Herrschaft, dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus.
Arendt kommt am ihres
Werkes zu dem Ergebnis, dass es sich bei der totalen Herrschaft um „eine neue,
noch nie dagewesene Staatsform“ handelt, d.h., „dass sie auf einer menschlichen
Erfahrung gegründet ist, die nie zuvor zur Grundlage menschlichen
Miteinanderlebens gemacht worden ist, die politisch sozusagen noch niemals
produktiv geworden ist“ (944).
Totale Herrschaft - Eine neue Staatsform |
Die Originalität totalitärer
Herrschaftsapparate wird zunächst schon darin deutlich, dass die Urteile über
Staaten und Regierungen seit den Theorien der Antike auf der Unterscheidung
zwischen gesetzmäßiger Regierung und tyrannisch-gesetzloser Willkür beruhen.
Im Totalitarismus nun
tritt an die Stelle des positiv gesetzten Rechts das `Gesetz der Geschichte´
oder das `Recht der Natur´. Schon Engels hatte in seiner Grabrede auf Karl Marx
folgende Worte gebraucht: „Just as Darwin
discovered the law of development of organic life, so Marx discovered the law
of development of human history“ (951, Anm.1). Die Geschichte oder die Natur
ist demnach „eine
Art von Instanz, wie sie das positive Recht, das immer nur konkrete
Ausgestaltung einer höheren Autorität zu sein behauptet, selbst braucht und auf
die es sich als Quelle seiner Legitimität immer irgendwie beruft“ (947).
Arendt beobachtet, dass
das Wort `Gesetz´ in der totalitären Sprache seine Bedeutung grundlegend geändert
hat: „Es deutet nicht mehr auf des Zaun des Gesetzes hin, dessen relative
Stabilität den Raum der Freiheit schafft und behütet, in welchem menschliche
Bewegungen und Handlungen stattfinden und sich abspielen; sondern es bezeichnet
vorerst und wesentlich eine Bewegung. (…) So braucht totalitäre Herrschaft den
Terror, um die Prozesse von Geschichte oder Natur loszulassen und ihre
Bewegungsgesetze in der menschlichen Gesellschaft durchzusetzen“ (953).
Arendt entwickelt die
Idee des Totalitarismus als neuer Staatsform in bewusster Nachfolge Montesquieus,
der in seinem Werk „Vom Geist der Gesetze“ bekanntlich zwischen den
Staatsformen Monarchie, Republik und Tyrannis unterschied.
Danach hat die Monarchie
ihr Wesen in gesetzlicher Regierung, in der die Macht in den Händen eines einzigen
Monarchen liegt. „Gehandelt wird in ihr nach dem Prinzip der Ehre, das auf dem
Wunsch nach Auszeichnung beruht“ (954). Die Republik wiederum hat ihr Wesen in
verfassungsmäßiger Regierung, in der die Macht in den Händen des Volkes liegt.
„Gehandelt wird in ihr nach dem Prinzip der Tugend, das auf der Liebe zur
Gleichheit beruht“ (954). Die Tyrannis schließlich hat ihr Wesen in gesetzloser
Herrschaft, „in der Macht von der Willkür eines einzelnen ausgeübt wird; ihr
Prinzip des Handelns ist die Furcht“ (954).
Das Wesen totalitärer
Herrschaft aber ist Arendt nach der Terror, „der aber nicht willkürlich und
nicht nach den Regeln des Machthungers eines einzelnes (wie in der Tyrannis),
sondern in Übereinstimmung mit außermenschlichen Prozessen und ihren
natürlichen oder geschichtlichen Gesetzen vollzogen wird. Als solcher ersetzt
er den Zaun des Gesetzes, in dessen Umhegung Menschen in Freiheit sich bewegen
können, durch ein eisernes Band, das die Menschen so stabilisiert, dass jede
freie, unvorhergesehene Handlung ausgeschlossen wird“ (955).
Terror: Das Wesen totalitärer Herrschaft
(© by Klemens ETZ)
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Es lässt sich bei den
totalitären Regimes gut beobachten, dass jede Gewaltherrschaft die Zäune der
Gesetze dem Erdboden gleichmachen muss. „Totalitärer Terror, sofern er dies in
seinen Anfangsstadien auch tut, unterscheidet sich nicht prinzipiell von
anderen Formen der Tyrannis. Nur dass dieser nicht den willkürlich-tyrannischen
Willen eines einzelnen über die ihres Schutzes beraubten und zu Ohnmacht
verdammten Menschen loslassen will, noch die despotische Macht eines einzigen gegen
alle anderen, noch, und am allerwenigsten, die Anarchie eines Krieges aller
gegen alle“ (957).
Während sich die
Tyrannis mit der Gesetzlosigkeit begnügt, setzt der totale Terror an die Stelle
der Zäune des Gesetzes und der gesetzmäßig etablierten und geregelten Kanäle
menschlicher Kommunikation ein eisernes Band, das alle so eng aneinander
schließt, dass nicht nur der Raum der Freiheit, wie er in verfassungsmäßigen
Staaten zwischen den Bürgern existiert, sondern auch „die Wüste der
Nachbarlosigkeit und des gegenseitigen Misstrauens, die der Tyrannis
eigentümlich ist, verschwindet, und es ist, als seien alle zusammengeschmolzen
in ein einziges Wesen von gigantischen Ausmaßen“ (957f).
Die Furcht wiederum entsteht
in der Tyrannei dadurch, dass der Raum der Freiheit, den die Gesetze umhegten,
von der Willkür des Tyrannen in eine Wüste verwandelt ist. Aber selbst in der Wüste
gibt es noch ein Minimum menschlichen Kontakts, „sie bewahrt noch eine Spur
jenes Raumes, den menschliche Freiheit braucht, um wirklich zu werden. In ihre
bewegen sich Menschen noch und begegnen einander, beraten von den Prinzipien
der Furcht und des Misstrauens. Furcht und Misstrauen können aber keine
Ratgeber mehr sein, wenn unter totalitärer Herrschaft der Terror beginnt, seine
Opfer nach objektiven Merkmalen, ohne allen Bezug auf irgendwelche Gedanken
oder Handlungen der Betroffenen, auszuwählen“ (960).
Wenn der Terror das
Wesen der totalitären Herrschaft ist, dann rechnet sie strenggenommen überhaupt
nicht mehr mit handelnden Menschen und kann daher auch kein eigentliches
Prinzip des Handelns, auch nicht das der Furcht, gebrauchen.
"Vier Beine gut - Zwei Beine schlecht" |
An seine Stelle eines
Handlungsprinzips setzt der Totalitarismus ihre „wissenschaftliche
Weltanschauung“, also etwas, das mit dem menschlichen Willen zum Handeln nichts
mehr zu tun hat, dafür aber die Menschen lehrt, die Bewegungsgesetze zu
verstehen, „die der Terror vollstreckt und die ja angeblich von Geschichte und
Natur über eine ihnen ausgelieferte Menschheit ohnehin verhängt worden sind“
(961).
So ist das vielleicht
wichtigste Merkmal des Totalitarismus der Anspruch auf totale Welterklärung,
der nicht nur die totale Erklärung alles geschichtlich sich Ereignenden verspricht,
also die totale Erklärung des Vergangenen, totales Sich-Auskennen im Gegenwärtigen
und verlässliches Vorhersagen des Zukünftigen, sondern als ideologisches Denken
auch und vor allem völlig unabhängig von aller konkreten Erfahrung ist"
(964).
Arendt erkennt das
eigentliche Wesen der Ideologie darin, aus einer Idee eine Prämisse zu machen,
aus einer Einsicht in das, was gegenwärtig ist, eine Voraussetzung für das, was
sich in der Zukunft zwangsläufig ereignen soll. Werden aber die Aussagen der
Ideologie bzw. wissenschaftlichen Weltanschauung buchstäblich ernst genommen,
dann entstehen Konsequenzen, „von denen sich der gesunde Menschenverstand, der
sich an der Wirklichkeit auch dann orientiert, wenn er von ihr gelegentlich
irregeführt wird, nichts hatte träumen lassen" (967).
Dasjenige, was nach
Montesquieu den Geist der Gesetze "in einer jeden politischen Formation
garantiert, ist die Grunderfahrung, aus der das jeweils verschiedene Prinzip
öffentlichen Handelns entspringt und die als solche das Gemeinsame ist, was
Struktur der Staatsform Im Anschluss an Montesquieu sieht Arendt die politisch
ausschlaggebende gemeinsame Grunderfahrung aller Menschen in einer Republik die
Erfahrung, dass alle Menschen gleich sind. „Dieser Gleichheit entsprechen
republikanische Gesetze, und aus der Liebe zu ihr, die Tugend ist, entspringt
republikanisches Handeln.“
Gleichheit: Die Grunderfahrung in der Republik |
Gleichheit in einer
Republik aber meint weder Gleichheit aller Menschen vor Gott und auch nicht die
Gleichheit allen menschlichen Schicksals vor dem Tod, sondern die Gleichheit
menschlicher Stärke. „Dass wir gleich geboren werden, heißt politisch nur, dass
wir - bei aller Verschiedenheit der Anlagen - von Natur mit gleicher Stärke
ausgestattet sind. (Gleichheit konnte Hobbes daher im Leviathan als eine 'equality of ability' zu töten
definieren.) Die Grunderfahrung der Republik ist das Zusammensein mit gleich
starken Mitbürgern; die republikanische Tugend, die das öffentliche Leben in
ihr durchwaltet, ist die Freude, nicht allein zu sein; denn nur weil wir von
Natur gleich, mit gleicher Kraft begabt sind, sind wir miteinander zusammen.
allein sein heißt immer, zu existieren ohne seinesgleichen" (971f).
In einer Monarchie ist
die politisch ausschlaggebende Grunderfahrung die Erfahrung, „dass wir durch
Geburt einer vom anderen verschieden und auf eine natürliche Weise voneinander
und voreinander ausgezeichnet sind. Der Liebe zur Auszeichnung, die Ehre ist,
muss die monarchische Gesetzgebung gerecht werden, denn sie bestimmt das
Handeln in einer Monarchie. Im Zusammensein mit anderen, aber auch im Kampf mit
ihnen kann sich der Einzelne auszeichnen und zu dem kommen, „was jeder wahrhaft
sein eigen nennen darf; die Ehre, die das öffentliche Leben in ihr durchwaltet,
ist die Freude, dies Eigene gefunden und in öffentlicher Anerkennung bestätigt
zu haben" (972).
Ehre: Die Grunderfahrung in der Monarchie |
Wenn Arendt dieses
Schema auf die totalitäre Herrschaft anwendet, dann tut sie dies zunächst unter
Zuhilfenahme der Tyrannis, als derjenigen „Staatsform, mit der die totalitäre
Herrschaft zweifellos am meisten Ähnlichkeit hat" (973).
In der Tyrannis steht
die „Furcht als Prinzip öffentlich-politischen Handelns in engstem Zusammenhang
mit jener Grundangst, die wir alle in Situationen völliger Ohnmacht erfahren
haben, nämlich in Situationen, in denen wir aus gleich welchen Gründen nicht
handeln können“ (973).
Die Grunderfahrung
menschlichen Zusammenseins, die in totalitärer Herrschaft politisch realisiert
wird, ist die Erfahrung der Verlassenheit:
„Verlassenheit entsteht, wenn aus gleich welchen personalen Gründen ein Mensch
aus dieser Welt hinausgestoßen wird, oder wenn aus gleich welchen geschichtlich-politischen
Gründen diese gemeinsam bewohnte Welt auseinander bricht und die miteinander
verbundenen Menschen plötzlich auf sich selbst zurückwirft. (…) In der
Verlassenheit sind Menschen wirklich allein, nämlich verlassen nicht nur von
anderen Menschen und der Welt, sondern auch von dem Selbst, das zugleich
jedermann in der Einsamkeit sein kann. So sind sie unfähig, den Zwiespalt der
Einsamkeit zu realisieren, und unfähig, die eigenen, von den anderen nicht mehr
bestätigte Identität mit sich selbst aufrechtzuerhalten. In dieser
Verlassenheit gehen Selbst und Welt, und das heißt echte Denkfähigkeit und
echte Erfahrungsfähigkeit, zugleich zugrunde“ (977).
Verlassenheit: Die Grunderfahrung im Totalitarismus |
Was den modernen
Menschen dabei so leicht in die totalitären Bewegungen jagt und sie so gut
vorbereitet für die totalitäre Herrschaft, ist für Arendt die überall
zunehmende Verlassenheit. „Es ist, als breche alles, was Menschen miteinander
verbindet, in der Krise zusammen, so dass jeder von jedem verlassen und auf
nichts mehr Verlass ist. Das eiserne Band des Terrors, mit dem der totalitäre
Herrschaftsapparat die von ihm organisierten Massen in eine entfesselte
Bewegung reißt, erscheint so als ein letzter Halt und die `eiskalte Logik´, mit
der totalitäre Gewalthaber ihre Anhänger auf das Ärgste vorbereiten, als das
einzige, woraus wenigstens noch Verlass ist“ (978).
Arendt gibt zu, dass Furcht
eigentlich gar kein Prinzip des Handels ist, sondern nichts anderes ist als die
Verzweiflung, nicht handeln zu können. „Innerhalb des politischen Bereichs ist
sie eine Art antipolitisches Prinzip. Darum meint Montesquieu, dass die von ihr
beseelte Tyrannis die einzige Staatsform sei, die an sich selbst zugrunde geht,
die den Kern des eigenen Verderbens in sich trägt. Es bedarf äußerer Umstände,
um Monarchien zu Fall zu bringen oder Republiken zu verderben; bei der Tyrannis
ist dies Verhältnis genau umgekehrt: sie verdankt ihren Bestand immer nur
äußeren Umständen; sich selbst überlassen, geht sie an sich selbst zugrunde“
(973).
Ausgehend von der aus
der Antike herrührenden Einsicht erklärt Arendt, dass insbesondere die Staatsformen,
die auf der Gleichheit ihrer Bürger beruhen, in besonders großer Gefahr stehen,
in Tyranneien umzuschlagen: „Wenn die republikanischen Gesetze, deren Sinn
immer ist, die natürliche Kraft jedes einzelnen Bürgers so zu begrenzen, dass
Raum bleibt für die als gleich angesetzte Stärke seiner Mitbürger,
zusammenbrechen, entsteht ein Chaos“ (973f).
Wäre also totalitäre
Herrschaft nichts anderes als eine moderne Form der Tyrannei, so würde sie sich
ebenso damit zufriedengeben, die politische Sphäre der Menschen zu zerstören,
also ihr Handeln zu verwehren und Ohnmacht zu erzeugen. Totalitäre Herrschaft aber
wird wahrhaft total in dem Augenblick – und sie pflegt sich dieser Leistung
auch immer gebührend zu rühmen –, „wenn sie das privat-gesellschaftliche Leben
der ihr Unterworfenen in das eiserne Band des Terrors spannt. Dadurch zerstört
sie einerseits alle nach Fortfall der politisch-öffentlichen Sphäre noch
verbleibenden Beziehungen zwischen Menschen und erzwingt andererseits, dass die
also völlig Isolierten und voneinander Verlassenen zu politischen Aktionen
(wiewohl natürlich nicht zu echtem politischen Handeln) wieder eingesetzt
werden können“ (975).
Totale Herrschaft raubt den Menschen ihre Fähigkeit zum Handeln |
Auf diese Weise raubt totalitäre
Herrschaft den Menschen nicht nur ihre Fähigkeit zu handeln, „sondern macht sie
im Gegenteil, gleichsam als seien sie alle wirklich nur ein einziger Mensch,
mit unerbittlicher Konsequenz zu Komplizen aller von dem totalitären Regime
unternommenen Aktionen und begangenen Verbrechen“ (975).
Zitate aus: Hannah Arendt: Elemente und
Ursprünge totaler Herrschaft, München 2009 (piper)
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