Donnerstag, 25. Dezember 2014

Hannah Arendt und der Totalitarismus -Teil 7: Totale Herrschaft - Eine neue Staatsform

„Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1955 auf Deutsch erschienen) ist das vielleicht wichtigste, in jedem Fall umfangreichste Buch von Hannah Arendt. Auf insgesamt 1015 Seiten rekonstruiert sie einerseits die Entwicklung des Antisemitismus im 18. und 19. Jahrhundert sowie das Aufkommen des Rassismus und des Imperialismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert, andererseits entwirft sie eine umfassende Theorie des Totalitarismus, aufbauend auf den beiden historischen Formen totaler Herrschaft, dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus.

Arendt kommt am ihres Werkes zu dem Ergebnis, dass es sich bei der totalen Herrschaft um „eine neue, noch nie dagewesene Staatsform“ handelt, d.h., „dass sie auf einer menschlichen Erfahrung gegründet ist, die nie zuvor zur Grundlage menschlichen Miteinanderlebens gemacht worden ist, die politisch sozusagen noch niemals produktiv geworden ist“ (944).

Totale Herrschaft - Eine neue Staatsform
Die Originalität totalitärer Herrschaftsapparate wird zunächst schon darin deutlich, dass die Urteile über Staaten und Regierungen seit den Theorien der Antike auf der Unterscheidung zwischen gesetzmäßiger Regierung und tyrannisch-gesetzloser Willkür beruhen.

Im Totalitarismus nun tritt an die Stelle des positiv gesetzten Rechts das `Gesetz der Geschichte´ oder das `Recht der Natur´. Schon Engels hatte in seiner Grabrede auf Karl Marx folgende Worte gebraucht: „Just as Darwin discovered the law of development of organic life, so Marx discovered the law of development of human history“ (951, Anm.1). Die Geschichte oder die Natur ist demnach „eine Art von Instanz, wie sie das positive Recht, das immer nur konkrete Ausgestaltung einer höheren Autorität zu sein behauptet, selbst braucht und auf die es sich als Quelle seiner Legitimität immer irgendwie beruft“ (947).

Arendt beobachtet, dass das Wort `Gesetz´ in der totalitären Sprache seine Bedeutung grundlegend geändert hat: „Es deutet nicht mehr auf des Zaun des Gesetzes hin, dessen relative Stabilität den Raum der Freiheit schafft und behütet, in welchem menschliche Bewegungen und Handlungen stattfinden und sich abspielen; sondern es bezeichnet vorerst und wesentlich eine Bewegung. (…) So braucht totalitäre Herrschaft den Terror, um die Prozesse von Geschichte oder Natur loszulassen und ihre Bewegungsgesetze in der menschlichen Gesellschaft durchzusetzen“ (953).

Arendt entwickelt die Idee des Totalitarismus als neuer Staatsform in bewusster Nachfolge Montesquieus, der in seinem Werk „Vom Geist der Gesetze“ bekanntlich zwischen den Staatsformen Monarchie, Republik und Tyrannis unterschied.

Danach hat die Monarchie ihr Wesen in gesetzlicher Regierung, in der die Macht in den Händen eines einzigen Monarchen liegt. „Gehandelt wird in ihr nach dem Prinzip der Ehre, das auf dem Wunsch nach Auszeichnung beruht“ (954). Die Republik wiederum hat ihr Wesen in verfassungsmäßiger Regierung, in der die Macht in den Händen des Volkes liegt. „Gehandelt wird in ihr nach dem Prinzip der Tugend, das auf der Liebe zur Gleichheit beruht“ (954). Die Tyrannis schließlich hat ihr Wesen in gesetzloser Herrschaft, „in der Macht von der Willkür eines einzelnen ausgeübt wird; ihr Prinzip des Handelns ist die Furcht“ (954).

Das Wesen totalitärer Herrschaft aber ist Arendt nach der Terror, „der aber nicht willkürlich und nicht nach den Regeln des Machthungers eines einzelnes (wie in der Tyrannis), sondern in Übereinstimmung mit außermenschlichen Prozessen und ihren natürlichen oder geschichtlichen Gesetzen vollzogen wird. Als solcher ersetzt er den Zaun des Gesetzes, in dessen Umhegung Menschen in Freiheit sich bewegen können, durch ein eisernes Band, das die Menschen so stabilisiert, dass jede freie, unvorhergesehene Handlung ausgeschlossen wird“ (955).

Terror: Das Wesen totalitärer Herrschaft
(© by Klemens ETZ)
Es lässt sich bei den totalitären Regimes gut beobachten, dass jede Gewaltherrschaft die Zäune der Gesetze dem Erdboden gleichmachen muss. „Totalitärer Terror, sofern er dies in seinen Anfangsstadien auch tut, unterscheidet sich nicht prinzipiell von anderen Formen der Tyrannis. Nur dass dieser nicht den willkürlich-tyrannischen Willen eines einzelnen über die ihres Schutzes beraubten und zu Ohnmacht verdammten Menschen loslassen will, noch die despotische Macht eines einzigen gegen alle anderen, noch, und am allerwenigsten, die Anarchie eines Krieges aller gegen alle“ (957).

Während sich die Tyrannis mit der Gesetzlosigkeit begnügt, setzt der totale Terror an die Stelle der Zäune des Gesetzes und der gesetzmäßig etablierten und geregelten Kanäle menschlicher Kommunikation ein eisernes Band, das alle so eng aneinander schließt, dass nicht nur der Raum der Freiheit, wie er in verfassungsmäßigen Staaten zwischen den Bürgern existiert, sondern auch „die Wüste der Nachbarlosigkeit und des gegenseitigen Misstrauens, die der Tyrannis eigentümlich ist, verschwindet, und es ist, als seien alle zusammengeschmolzen in ein einziges Wesen von gigantischen Ausmaßen“ (957f).

Die Furcht wiederum entsteht in der Tyrannei dadurch, dass der Raum der Freiheit, den die Gesetze umhegten, von der Willkür des Tyrannen in eine Wüste verwandelt ist. Aber selbst in der Wüste gibt es noch ein Minimum menschlichen Kontakts, „sie bewahrt noch eine Spur jenes Raumes, den menschliche Freiheit braucht, um wirklich zu werden. In ihre bewegen sich Menschen noch und begegnen einander, beraten von den Prinzipien der Furcht und des Misstrauens. Furcht und Misstrauen können aber keine Ratgeber mehr sein, wenn unter totalitärer Herrschaft der Terror beginnt, seine Opfer nach objektiven Merkmalen, ohne allen Bezug auf irgendwelche Gedanken oder Handlungen der Betroffenen, auszuwählen“ (960).

Wenn der Terror das Wesen der totalitären Herrschaft ist, dann rechnet sie strenggenommen überhaupt nicht mehr mit handelnden Menschen und kann daher auch kein eigentliches Prinzip des Handelns, auch nicht das der Furcht, gebrauchen.

"Vier Beine gut - Zwei Beine schlecht"
An seine Stelle eines Handlungsprinzips setzt der Totalitarismus ihre „wissenschaftliche Weltanschauung“, also etwas, das mit dem menschlichen Willen zum Handeln nichts mehr zu tun hat, dafür aber die Menschen lehrt, die Bewegungsgesetze zu verstehen, „die der Terror vollstreckt und die ja angeblich von Geschichte und Natur über eine ihnen ausgelieferte Menschheit ohnehin verhängt worden sind“ (961).

So ist das vielleicht wichtigste Merkmal des Totalitarismus der Anspruch auf totale Welterklärung, der nicht nur die totale Erklärung alles geschichtlich sich Ereignenden verspricht, also die totale Erklärung des Vergangenen, totales Sich-Auskennen im Gegenwärtigen und verlässliches Vorhersagen des Zukünftigen, sondern als ideologisches Denken auch und vor allem völlig unabhängig von aller konkreten Erfahrung ist" (964).

Arendt erkennt das eigentliche Wesen der Ideologie darin, aus einer Idee eine Prämisse zu machen, aus einer Einsicht in das, was gegenwärtig ist, eine Voraussetzung für das, was sich in der Zukunft zwangsläufig ereignen soll. Werden aber die Aussagen der Ideologie bzw. wissenschaftlichen Weltanschauung buchstäblich ernst genommen, dann entstehen Konsequenzen, „von denen sich der gesunde Menschenverstand, der sich an der Wirklichkeit auch dann orientiert, wenn er von ihr gelegentlich irregeführt wird, nichts hatte träumen lassen" (967).

Dasjenige, was nach Montesquieu den Geist der Gesetze "in einer jeden politischen Formation garantiert, ist die Grunderfahrung, aus der das jeweils verschiedene Prinzip öffentlichen Handelns entspringt und die als solche das Gemeinsame ist, was Struktur der Staatsform Im Anschluss an Montesquieu sieht Arendt die politisch ausschlaggebende gemeinsame Grunderfahrung aller Menschen in einer Republik die Erfahrung, dass alle Menschen gleich sind. „Dieser Gleichheit entsprechen republikanische Gesetze, und aus der Liebe zu ihr, die Tugend ist, entspringt republikanisches Handeln.“

Gleichheit: Die Grunderfahrung in der Republik
Gleichheit in einer Republik aber meint weder Gleichheit aller Menschen vor Gott und auch nicht die Gleichheit allen menschlichen Schicksals vor dem Tod, sondern die Gleichheit menschlicher Stärke. „Dass wir gleich geboren werden, heißt politisch nur, dass wir - bei aller Verschiedenheit der Anlagen - von Natur mit gleicher Stärke ausgestattet sind. (Gleichheit konnte Hobbes daher im Leviathan als eine 'equality of ability' zu töten definieren.) Die Grunderfahrung der Republik ist das Zusammensein mit gleich starken Mitbürgern; die republikanische Tugend, die das öffentliche Leben in ihr durchwaltet, ist die Freude, nicht allein zu sein; denn nur weil wir von Natur gleich, mit gleicher Kraft begabt sind, sind wir miteinander zusammen. allein sein heißt immer, zu existieren ohne seinesgleichen" (971f).

In einer Monarchie ist die politisch ausschlaggebende Grunderfahrung die Erfahrung, „dass wir durch Geburt einer vom anderen verschieden und auf eine natürliche Weise voneinander und voreinander ausgezeichnet sind. Der Liebe zur Auszeichnung, die Ehre ist, muss die monarchische Gesetzgebung gerecht werden, denn sie bestimmt das Handeln in einer Monarchie. Im Zusammensein mit anderen, aber auch im Kampf mit ihnen kann sich der Einzelne auszeichnen und zu dem kommen, „was jeder wahrhaft sein eigen nennen darf; die Ehre, die das öffentliche Leben in ihr durchwaltet, ist die Freude, dies Eigene gefunden und in öffentlicher Anerkennung bestätigt zu haben" (972).

Ehre: Die Grunderfahrung in der Monarchie
Wenn Arendt dieses Schema auf die totalitäre Herrschaft anwendet, dann tut sie dies zunächst unter Zuhilfenahme der Tyrannis, als derjenigen „Staatsform, mit der die totalitäre Herrschaft zweifellos am meisten Ähnlichkeit hat" (973).

In der Tyrannis steht die „Furcht als Prinzip öffentlich-politischen Handelns in engstem Zusammenhang mit jener Grundangst, die wir alle in Situationen völliger Ohnmacht erfahren haben, nämlich in Situationen, in denen wir aus gleich welchen Gründen nicht handeln können“ (973).

Die Grunderfahrung menschlichen Zusammenseins, die in totalitärer Herrschaft politisch realisiert wird, ist die Erfahrung der Verlassenheit: „Verlassenheit entsteht, wenn aus gleich welchen personalen Gründen ein Mensch aus dieser Welt hinausgestoßen wird, oder wenn aus gleich welchen geschichtlich-politischen Gründen diese gemeinsam bewohnte Welt auseinander bricht und die miteinander verbundenen Menschen plötzlich auf sich selbst zurückwirft. (…) In der Verlassenheit sind Menschen wirklich allein, nämlich verlassen nicht nur von anderen Menschen und der Welt, sondern auch von dem Selbst, das zugleich jedermann in der Einsamkeit sein kann. So sind sie unfähig, den Zwiespalt der Einsamkeit zu realisieren, und unfähig, die eigenen, von den anderen nicht mehr bestätigte Identität mit sich selbst aufrechtzuerhalten. In dieser Verlassenheit gehen Selbst und Welt, und das heißt echte Denkfähigkeit und echte Erfahrungsfähigkeit, zugleich zugrunde“ (977).

Verlassenheit: Die Grunderfahrung im Totalitarismus
Was den modernen Menschen dabei so leicht in die totalitären Bewegungen jagt und sie so gut vorbereitet für die totalitäre Herrschaft, ist für Arendt die überall zunehmende Verlassenheit. „Es ist, als breche alles, was Menschen miteinander verbindet, in der Krise zusammen, so dass jeder von jedem verlassen und auf nichts mehr Verlass ist. Das eiserne Band des Terrors, mit dem der totalitäre Herrschaftsapparat die von ihm organisierten Massen in eine entfesselte Bewegung reißt, erscheint so als ein letzter Halt und die `eiskalte Logik´, mit der totalitäre Gewalthaber ihre Anhänger auf das Ärgste vorbereiten, als das einzige, woraus wenigstens noch Verlass ist“ (978).

Arendt gibt zu, dass Furcht eigentlich gar kein Prinzip des Handels ist, sondern nichts anderes ist als die Verzweiflung, nicht handeln zu können. „Innerhalb des politischen Bereichs ist sie eine Art antipolitisches Prinzip. Darum meint Montesquieu, dass die von ihr beseelte Tyrannis die einzige Staatsform sei, die an sich selbst zugrunde geht, die den Kern des eigenen Verderbens in sich trägt. Es bedarf äußerer Umstände, um Monarchien zu Fall zu bringen oder Republiken zu verderben; bei der Tyrannis ist dies Verhältnis genau umgekehrt: sie verdankt ihren Bestand immer nur äußeren Umständen; sich selbst überlassen, geht sie an sich selbst zugrunde“ (973).

Ausgehend von der aus der Antike herrührenden Einsicht erklärt Arendt, dass insbesondere die Staatsformen, die auf der Gleichheit ihrer Bürger beruhen, in besonders großer Gefahr stehen, in Tyranneien umzuschlagen: „Wenn die republikanischen Gesetze, deren Sinn immer ist, die natürliche Kraft jedes einzelnen Bürgers so zu begrenzen, dass Raum bleibt für die als gleich angesetzte Stärke seiner Mitbürger, zusammenbrechen, entsteht ein Chaos“ (973f).

Wäre also totalitäre Herrschaft nichts anderes als eine moderne Form der Tyrannei, so würde sie sich ebenso damit zufriedengeben, die politische Sphäre der Menschen zu zerstören, also ihr Handeln zu verwehren und Ohnmacht zu erzeugen. Totalitäre Herrschaft aber wird wahrhaft total in dem Augenblick – und sie pflegt sich dieser Leistung auch immer gebührend zu rühmen –, „wenn sie das privat-gesellschaftliche Leben der ihr Unterworfenen in das eiserne Band des Terrors spannt. Dadurch zerstört sie einerseits alle nach Fortfall der politisch-öffentlichen Sphäre noch verbleibenden Beziehungen zwischen Menschen und erzwingt andererseits, dass die also völlig Isolierten und voneinander Verlassenen zu politischen Aktionen (wiewohl natürlich nicht zu echtem politischen Handeln) wieder eingesetzt werden können“ (975).

Totale Herrschaft raubt den Menschen ihre Fähigkeit zum Handeln

Auf diese Weise raubt totalitäre Herrschaft den Menschen nicht nur ihre Fähigkeit zu handeln, „sondern macht sie im Gegenteil, gleichsam als seien sie alle wirklich nur ein einziger Mensch, mit unerbittlicher Konsequenz zu Komplizen aller von dem totalitären Regime unternommenen Aktionen und begangenen Verbrechen“ (975).

Zitate aus: Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 2009 (piper)


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