Gedenkbriefmarke zum 100. Geburtstag Bobbios |
Für Ralf Dahrendorf ist Noberto Bobbio ein “öffentlicher
Intellektueller”, also jemand, der seinen Beruf darin sieht, nicht nur an
den vorherrschenden öffentlichen Diskussionen der Zeit teilzunehmen, sondern auch
deren Thematik zu bestimmen und ihre Richtung zu prägen.
Bobbio zufolge ist jeder Fortschritt der Menschheit stets
damit verbunden, die Menschenwürde unter den jeweils sich verändernden
Bedingungen institutionell zu schützen und jede Bedrohung der individuellen
Freiheit abzuwehren.
Von dieser Feststellung geht Bobbio aus, um seine Position
in der Frage der Menschenrechte zu beschreiben. Entscheidend sei der aus dem naturrechtlichen Denken
stammende Gedanke, demzufolge das Individuum und auf keinen Fall das Kollektiv der
Ausgangspunkt der Rechtslehre ist.
John Locke wird hier zur wichtigsten Quelle auch
für die ersten Gesetzgeber, die sich an den Menschenrechten orientierten. Im
Gegensatz zur Wolfsnatur des Menschen in der Konzeption des Naturzustandes bei
Hobbes, geht John Locke davon aus, dass der Naturzustand ein „Zustand vollkommener Freiheit“ ist, in dem
die Menschen innerhalb der Grenzen des Naturgesetzes frei handeln können, „ohne dabei jemanden um Erlaubnis zu bitten oder
vom Willen eines anderen abhängig zu sein.“ (Locke, Zweite Abhandlung, §4).
Lockes naturrechtlicher Ansatz ist Bobbio zufolge die Voraussetzung
für eine „individualistische Konzeption der Gesellschaft“ und damit auch des
Staates, im Gegensatz zu einer „organizistischen Auffassung, nach der das Ganze
höher steht als die einzelnen Teile“ (51).
Die organizistische Auffassung des Staates sieht Bobbio schon
in den antiken Werken der Staatsphilosopie: Sowohl in Platons „Nomoi“, als auch in Cicero „De legibus“
besteht „die vorrangige Aufgabe des Gesetzes, zu begrenzen, nicht zu befreien,
die Freiheitsräume zu beschränken, nicht sie auszuweiten, den krummen Baum
geradezurichten, nicht ihn wild wachsen zu lassen“ (48). Unter Androhung
irdischer und himmlischer Strafen soll erwünschtes Verhalten erreicht und
unerwünschtes Verhalten vermieden werden. „Gerecht“ ist ein Staat erst dann,
wenn „Jeder das Seine“ tut, wenn jeder Teil des Staatsorganismus die ihm
naturgemäß zugewiesene Aufgabe erfüllt.
Die individualistische Auffassung des Staates dagegen hat
sich nur sehr allmählich durchgesetzt, „denn sie wurde meist als Quell von
Unordnung, Zwietracht und Bruch mit der bestehenden Ordnung angesehen“ (51f)
Für Bobbio bedeutet „Individualismus“, dass an
erster Stelle das Individuum steht, das schon für sich genommen einen Wert
darstellt - erst dann kommt der Staat. In der Folge bedeutet dies, dass der
Staat für das Individuum gemacht ist und nicht umgekehrt.
Unter dieser Perspektive muss auch das Verhältnis von
Rechten und Pflichten definiert werden: „Für die Individuen kommen von nun an
die Rechte an erster Stelle und erst dann die Pflichten, für den Staat hingegen
zuerst die Pflichten und dann die Rechte.“ (53)
Der Begriff „Individualismus“ beschreibt also vor allem die von äußerer
Beeinflussung freie Entfaltung des Individuums. Als „gerecht“ kann ein Staat
gelten, wenn jeder Mensch seine Bedürfnisse befriedigen und seine
selbstgewählten Ziele im Leben einschließlich des Wunsches, glücklich zu sein, verfolgen
kann.
Der Gedanke, dass jedes Individuum als autonomes und prinzipiell gleichwertiges Wesen mit allen anderen Individuen auf der gleichen Ebene steht, bildet auch die Grundlage des demokratischen Prinzips "one man, one vote."
Demokratie aber ist jene Herrschaftsform, in der alle Bürger die Freiheit haben, über ihre Angelegenheiten selbst zu entscheiden, verbunden mit der Macht, dies auch durchzusetzen.
Menschenrechte sind damit genau die fundamentalen, unveräußerlichen und unverletzlichen Rechte, die diese individuelle Freiheit und Macht garantieren und schützen.
Die Anerkennung der Individuen als Rechtssubjekte, das
Primat des Rechts über die Pflicht führt nun letztlich dazu, auch die einzelnen
Menschenrechte nicht nur als noble Wunschvorstellungen zu begreifen, sondern als positives Recht.
In dem Maße, wie die Menschenrechte ins positive Recht integriert werden, werden sie zu tatsächlichen und angewandten Rechten - deren Geltung gleichwohl nur auf der Ebene des Einzelstaates garantiert werden kann.
Dabei handelt es nicht nur um die Rechte, die dem Individuum als ökonomischem Subjekt zustehen - etwa als Inhaber von Rechten über Dinge und als Träger von Fähigkeiten, nicht nur um die Freiheitsrechte, sondern auch um die sogenannten öffentlichen Rechte, die charakteristisch für den Rechtsstaat sind.
In dem Maße, wie die Menschenrechte ins positive Recht integriert werden, werden sie zu tatsächlichen und angewandten Rechten - deren Geltung gleichwohl nur auf der Ebene des Einzelstaates garantiert werden kann.
Dabei handelt es nicht nur um die Rechte, die dem Individuum als ökonomischem Subjekt zustehen - etwa als Inhaber von Rechten über Dinge und als Träger von Fähigkeiten, nicht nur um die Freiheitsrechte, sondern auch um die sogenannten öffentlichen Rechte, die charakteristisch für den Rechtsstaat sind.
In diesen Gedanken zeigt sich der liberale Geist Bobbios,
dem jenes Verständnis von Freiheit zugrunde liegt, nach dem die Menschen ihr Leben
eigenständig und selbstverantwortlich führen wollen – und der Staat die Aufgabe
habe, eben dies zu garantieren.
Zitate aus: Noberto Bobbio: Das Zeitalter der Menschenrechte. Ist Toleranz durchsetzbar?, Berlin 2007 (Wagenbach)
Weitere Literatur: Ralf Dahrendorf: Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung, München 2008 (C.H. Beck) --- John Locke: Zweite Abhandlung über die Regierung, Frankfurt am Main 2007 (Suhrkamp Studienbibliothek)
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