Dienstag, 1. November 2011

Zygmunt Baumann und die Kulturalisierung

Foto: Mariusz Kubik
„In der Regel streben Kulturen nach Hegemonie – nach dem Monopol über die Normen und Werte, auf denen ihre jeweiligen Ordnungen errichtet sind.

Kulturen zielen auf Uniformität in dem Bereich, der ihrer Hegemonie unterworfen ist, während sie zugleich eine scharfe Trennung zwischen diesem Bereich und dem Rest der Welt vornehmen. Insofern sie einer Wahl vor allen anderen den Vorzug geben, sind sie inhärent gegen eine Gleichberechtigung der Lebensformen.“

Mit diesen Worten fasst der polnisch-britische Soziologe und Philosoph Zygmunt Baumann das heutige dominierende Alltagsverständnis von "Kultur" zusammen. Seine Bemerkungen enthalten einige wichtige Hinweise zur Frage der Ungleichbewertung von Menschen. 

Ungleichbewertungen von Menschen und Menschengruppen funktionieren auf der Grundlage zugeschriebener Merkmale, die als Festlegungen dieser Menschen und dieser Menschengruppen auf diese Merkmale begriffen werden.

Diese Festlegungen erfolgen heutzutage meist über den Begriff der Kultur, wobei dieser Begriff dehnbar genug ist, um auf alle denkbaren ethnischen, sozialen, geschlechtlichen und anderen Unterschiede angewendet zu werden. Die über den Kulturbegriff laufenden Festlegungen, die zu Ungleichbewertungen von Menschen oder Menschengruppen führen, nennt Baumann "Kulturalisierung".

Der Kulturalisierung entspricht ein Menschenbild, nach dem jeder Mensch mehr oder weniger unentrinnbar auf jeweils eine bestimmte „Kultur“ festgelegt sei, die seine „Identität“ ausmache. Dies führt dazu, dass andere Unterschiede zwischen Individuen in den Hintergrund geraten.

Es ist erstaunlich, dass Kulturalisierung in aller Regel übersieht, dass gerade sie durch das erwähnte Alltagsverständnis von „Kultur“ angeleitet und gesteuert werden. Anstatt "Kultur als Vergleichstechnik" zu begreifen, ist dieses Alltagsverständnis in einer identitären Logik gefangen, der es vor allem darum geht, eine scharfe Trennlinie zwischen der eigenen „Kultur“ und dem „Rest der Welt“ zu markieren. Unweigerlich verloren geht auf diese Weise das "Faktum menschlicher Pluralität" (Hannah Arendt), die sich auf zweierlei Weise manifestiert, als Verschiedenheit bzw. Besonderheit und als Gleichheit.

Die Konsequenz ist, dass eine Kulturalisierung die alltägliche Normalität des Zusammenlebens unterschiedlicher Menschen und ihrer Lebensstile als einen permanenten „Kulturkonflikt“ interpretiert. In der Folge ist es dann kaum noch möglich, das gesellschaftlich Normale als das eigentlich Normale zu thematisieren. Rechtliche, soziale und ökonomische Unterschiede werden dabei tendenziell ebenso vernachlässigt wie die Frage der vorhandenen Strukturen von Macht und Einfluss in der Gesellschaft.

Kulturalisierende Beschreibungen menschlichen Zusammenlebens laufen darauf hinaus, „Gesellschaft“ auf das Bild eines Flickenteppichs gegeneinander abgegrenzter kultureller Identitäten zu reduzieren. Auch die gegenwärtige Diskussion über die Gestaltung eines inter­kulturell kompetenten Zusammen­lebens ist häufig von einer derartig kulturalisierenden Gesellschaftstheorie geprägt.

Daher rückt die Frage nach zivilgesellschaftlichen Ansätzen, auf deren Grundlage das Zusammenleben der verschiedenen menschlichen Lebensformen politisch geregelt werden kann, in den Mittelpunkt der Bestimmung von Interkultureller Kompetenz.


Zitate aus: Zygmunt Baumann, „Natur und Kultur“; in: Ders.:Vom Nutzen der Soziologie, Frankfurt am Main 2000 (Suhrkamp), 198-222

Weitere Literatur: Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2010 (Piper) -- Jan Bernert / Dr. Matthias Lange: Interkulturelle Kompetenz in Kommunalverwaltung und Gemeinwesenarbeit am Beispiel der Stadt Göttingen, in: In der Diskussion - Integration in Städten und Gemeinden. Reihe „Integration Konkret“, Bd. 9, hg. von der Beauftragten der Bundesregierung für Ausländerfragen, Berlin/Bonn, 2000, S. 23-40

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