Mittwoch, 9. November 2011

Dike und die Anfänge der Herrschaft des Rechts


Der Ursprung des Polisgedankens liegt zweifellos in dem kritischsten und geistig beweglichsten Teil der griechischen Welt, in den kleinen Küsten- und Seefahrerstädten Ioniens. Die Erweiterung des Horizontes, Mobilität und persönliche Tatkraft führten zur Loslösung der individuellen Kräfte – auch und vor allem im politischen Leben.

Hier in Ionien sind zum ersten Mal die politischen Ideen durchgebrochen, die dann den Anstoß zur Neugestaltung des Staates gaben und in dessen Zentrum der Begriff der „Dike“ steht.

In der griechischen Mythologie steht „Dike“ für das Recht. Ihre Eltern sind Zeus und Themis („Satzung“), ihre Schwestern Eunomia („gute Ordnung“) und Eirene („Frieden“). Sie ist die Mutter von Hesychia („Ruhe“). Im Rahmen der sich entwickelnden politischen Reflexion steht „Dike“ zugleich für den Beginn des staatlichen Rechts im antiken Griechenland.

Im Dialog „Protagoras“ berichtet Platon, dass Zeus Hermes beauftragt, den Menschen den Respekt vor den Anderen („Aidos“) und das Recht („Dike“) zu bringen, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass ein geordnetes und freundschaftliches Zusammenleben in den Städten möglich würde. Zeus hatte nämlich beobachtet, dass sich die Menschen in ihren Versammlungen gegenseitig beleidigten, „weil sie eben die staatsbürgerliche Kunst noch nicht hatten.“ Respekt und Recht aber sollten so verteilt werden, dass „alle daran teil haben“, andernfalls „könnten keine Staaten bestehen.“ (Protagoras 320c ff)


Dike und Nemesis verfolgen das Verbrechen (Pierre-Paul Prud'hon, 1808)

So hat Dike innerhalb der staatlichen Ordnung die Aufgabe, jede Missachtung der Gesetze anzuzeigen und eine Bestrafung einzufordern. Jeder Rechtsbruch zieht Unglück und göttliches Strafgericht nach sich wie umgekehrt die Achtung vor dem Gesetz zu Wohlstand und Wohlbefinden führt, wie es in der orphischen Hymne an die Dike zum Ausdruck kommt:

„Dikes Auge besing ich, die glanzschön alles erblicket,
und vom Himmel das Leben der Menschen beschaut,
die nach geltendem Recht Ungleiches wieder versöhnt.
Dike, welche das Unrecht straft,
tritt mit rächendem Fuß nur unrechtliche Werke
Feindin der Ungerechten, doch freundlich gesinnt den Gerechten.“
(Orphische Hymnen, 63: Der Dike)

Vorher hatte alle Rechtsprechung („Themis“, die Mutter Dikes) unbestritten in der Hand des Adels gelegen, der zumeist ohne die Hilfe geschriebenen Rechts urteilte, was häufig zu politischem Missbrauch des Richteramtes führte. In diesen Auseinandersetzungen wird das Recht - „Dike“ - zur Parole eines neuen Rechtsverständnisses, das auf geschriebenem Recht beruhte.

Geschriebenes Recht bedeutet auch so viel wie gleiches Recht für alle, unabhängig ob aus hohem oder niedrigem Stand kommend. Es ist der Gedanke der Isonomie, der hier durchscheint und der Rechtssicherheit durch Gleichheit vor dem Gesetz garantiert.

Geschriebenes Recht dient somit auch der Versachlichung von Herrschaft. Wie es im Hymnus heißt, soll das „Recht Ungleiches wieder versöhnen“, also in den Spannungen zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen und ihrer Partikularinteressen vermitteln.

Man sagte „Dike geben und nehmen“, wobei der Schuldige „Dike gab“, also Schadensersetz leistete, der Geschädigte dagegen „Dike nahm“, so dass dessen Recht durch das Urteil wieder hergestellt wurde. Der Richter schließlich sprach das Urteil, er „teilt Dike zu.“ Bei jedem noch so kleinen Rechtsstreit – meist ging es dabei um Eigentumsfragen – bedurfte es also der Festlegung von Rechtsnormen, die bereits im Vorfeld feststanden, und auf deren Grundlage der Anteil jeder Partei gerecht bemessen werden konnte.

Isonomie aber enthält auch den Gedanken der Gleichberechtigung in Fragen der politischen Mitgestaltung, in der verfassungsmäßigen Gleichheit jedes Einzelnen in den Angelegenheiten des Staates, in der aktiven Beteiligung an der Rechtsprechung und schließlich in dem gleichen Anteil des einfachen Bürgers an den leitenden Ämtern des Staates.

„Das ist der fast paradoxe Erfolg des mit so unglaublicher Leidenschaft geführten Kampfes um das Recht und die Gleichheit des Individuums: im Gesetz schmiedet sich der Mensch eine neue strenge Fessel, die die auseinanderstrebenden Kräfte weiter zusammenhält. Der Staat drückt sich objektiv im Gesetz aus, das Gesetz wird König.“ (Jaeger, 152)

Dieser neue unsichtbare Herrscher zieht nicht nur die Rechtsübertreter zur Rechenschaft und schützt vor  den Übergriffen der Stärkeren, er greift auch mit seinen Reglungen positiv in alle Bereiche des Lebens ein, die früher der Willkür des Einzelnen offenstanden.

So entwickelt sich die Polis langsam zu einem Kollektivverband, dessen Ordnung auf Recht und Gesetz beruht. Ihre Bürger aber sind die konstitutiven Elemente, die „erzogen im Ethos der Gesetze“ aktiv im Staat und im öffentlichen Leben mitwirken, sich der Verantwortung als Bürger stellen und somit ihre Pflicht erfüllen.

Literatur: Werner Jaeger: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Berlin 1989 (de Gruyter) --- David Karl Phillipp Dietsch: Die Hymnen des Orpheus., Erlangen 1822 (Palm und Enke) --- Christian Meier: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt am Main 1980 (Suhrkamp)

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