In einem Beitrag für das Kulturradio swr2 beschäftigt sich Josef Kraus, ehemaliger Präsident des Deutschen Lehrerverbandes mit „den 68ern“ und ihren Hinterlassenschaften.
Kraus bedauert, dass es zu „68“ kaum wirklich kritische Bilanzen gegeben habe, sondern vielmehr die eine oder andere Verklärung, die sich auch im Bereich von Bildung und Schule erkennen lässt.
Auch die Machbarkeits-Euphorie gehört zu den
fatalen Erbschaften der 68er im Bildungsbereich. Mitte des 18. Jahrhunderts
hatte sich ein französischer Materialismus etabliert, der die Pädagogik mit
seinen mechanistischen Vorstellungen vom Menschen bis zum heutigen Tag nicht
mehr losgelassen hat. Maßgeblicher Vertreter war Julien de Lamettrie, der 1748
in seinem Hauptwerk "L'homme machine" („Der Mensch eine Maschine“)
die Sicht eines maschinenähnlichen Menschen entwarf, dessen psychische und
geistige Verfassungen angeblich vollkommen von den Umständen abhängen.
Es soll dann noch mehr als hundert Jahre
dauern, ehe sich eine sogenannte „objektive“ Psychologie etabliert, die die
angebliche Programmierbarkeit des Menschen durch die so oder so zu gestaltenden
Umstände aufgreift. 1904 bekommt der Russe Iwan Petrowitch Pawlow für seine
„Reflexologie“ den Nobelpreis für Physiologie.
Der Traum der 68er: Lernen als Programmierung |
Im Kern besagt seine auf der
Basis von Experimenten mit Hunden entwickelte Theorie, dass nicht nur Reflexe,
sondern auch bewusste Reaktionen "konditioniert" werden könnten. Die
US-Behavioristen, allen voran John Watson, Edward Thorndike und Burrhus
Skinner, folgen Pawlow. Mit Experimenten an Ratten, Tauben
und Katzen wollten sie darlegen, dass jedes Verhalten und Erleben abhängige
Variable der unabhängigen Variablen „Umwelt“ sei.
Der junge Mensch wird auf seine „materielle“
Tatsachen reduziert – frei nach Lenin: „Der neue Mensch wird gemacht!“. 1950
hatte Stalin gar die Parole ausgegeben, dass Pawlows Ideen die
wissenschaftliche Grundlage des Marxismus seien. Heute glaubt man wieder, via
Erziehung Schöpfer spielen zu dürfen. Wie wenn das Neugeborene eine „tabula
rasa“ sei, auf der Prägungen ohne Grenzen vorgenommen werden könnten. Wieder
und wieder heißt es, Intelligenz und Schulerfolg seien ausschließlich
determiniert durch das Milieu.
Der Begriff „Begabung“ scheint „out“ zu sein.
Wer von Begabung spricht, gilt als Biologist, ja Faschist. Der Behaviorist
Skinner hat aus dieser Attitüde heraus Lehr-und Lernprogramme entwickelt, die
in den 1960er-Jahren als „Programmierter Unterricht“ eine pädagogische Euphorie
auslösten, aber bald in den Archiven verschwanden.
Die heutige Hirnforschung übrigens stützt eine
solche Vision von grenzenloser Machbarkeit. Als Neuropädagogik ist sie zwar
eher ein Witz, wenn eine ihrer Erkenntnisse etwa lautet: „Effektives Lernen
setzt gute Laune voraus.“ Nur, was mache ich mit dieser Erkenntnis, wenn ich
als Mathe-Lehrer eine pubertierende Klasse vor mir habe? Gestützt wird diese
Machbarkeitsvision zudem von einer Digitalisierungs-Euphorie, die so tut, als
würde damit der neue Adam als „digital native“ (digitalisierter Naivling?) fit
für die Zukunft gemacht.
Die Machbarkeits-Euphorie hat sich zudem als
veloziferischer Wahn ausgetobt. Velozifer ist nach Goethe der Gott der rasenden
Beschleunigung. Es geht hier um die Vision, man könne mit einer immer noch
früheren Einschulung und in immer weniger Schuljahren zu besser gebildeten
jungen Leuten kommen. Typisches
Beispiel für eine solchermaßen verfehlte
„Reform“ ist das achtjährige Gymnasium (G8). Bildung aber braucht Zeit. Man
kann Reifung nicht beliebig beschleunigen. In Afrika sagt man: Das Gras wächst
nicht schneller, wenn man an ihm zieht.
Eine Folge der pädagogischen Egalisierungs- und
Machbarkeits-Euphorie ist die Quotengläubigkeit der 68er. Das ist die
planwirtschaftliche Vermessenheit, es müssten möglichst alle das Abitur
bekommen. Wenn aber alle das Abitur haben, dann hat keiner mehr das Abitur.
Man darf nicht vergessen, dass Deutschland,
Österreich und die Schweiz niedrige Akademisierungsquoten, zugleich aber beste
Wirtschaftsdaten sowie die niedrigsten Quoten an Arbeitslosen und an
arbeitslosen Jugendlichen haben. Diese Vorzüge haben wir nicht, weil wir
gigantische Studierquoten hätten. Das haben wir vor allem aufgrund eines
„Qualified in Germany by berufliche Bildung“.
All diese Verirrungen werden bis heute
vernebelt, verschleiert – und zwar mittels Sprache, damit sie nicht als
Verirrungen erkannt werden. So gesehen, haben die 68er nicht nur den Marsch
durch die Institutionen, sondern auch durch die Definitionen zurückgelegt. Mittels Sprache eben: genauer mit der Sprache der „political
correctness“. Diese Sprache begann ihr Unwesen ab den 1980er-Jahren in den
US-Universitäten zu treiben. Wieder also Vorbilder aus den USA!
Als „educational correctness“, als Sprache der
pädagogischen Korrektheit wurde sie ein Enkel- und Hätschelkind der 68er. Denn
gerade in der Pädagogik fällt "political correctness" auf fruchtbaren
Boden: als „lingua paedagogica correcta". Phrasen, Plattitüden – wohin man
schaut: Autonomie, Betroffenheit, Chancengleichheit, Emanzipatorische
Erziehung, Freiarbeit, Ganzheitlichkeit, Ganztagsschule, Gesamtschule,
Gleichheit, Gerechtigkeit, Kompetenzen, Kreativität, Willkommensklassen usw.
Eigentlich weniger pädagogisch korrekt wären
die gerne auch von modernen Bildungstheoretikern bemühten paramilitärischen
Vokabeln, die die Pädagogik nach und nach besetzen: „kognitive Operationen“ und
„Lernstrategien“.
Zugleich wird mit Euphemismen gearbeitet, die
die Wirklichkeit kaschieren und verbrämen sollen: Aus Hilfsschulen wurden
Sonderschulen und dann Förderschulen, aus Schulschwänzern wurden
Schuldistanzierte, aus faulen Schülern wurden demotivierte, aus
verhaltensgestörten sozial herausfordernde oder gar verhaltensoriginelle und
verhaltenskreative, aus dummen Schülern wurden einseitig begabte oder praktisch
bildbare. Realitäten werden damit für nicht existent erklärt.
„Lingua paedagogica correcta": Übrig bleiben Phrasen und Plattitüden |
Parallel dazu gibt es die pädagogischen Pfui- und Gott-sei-bei-uns-Wörter, die im Verdacht des Faschistoiden stehen: Auslese, Autorität, Begabung, Diktat, Disziplin, Ehrgeiz, Elite, Fleiß, Hauptschule, Hochbegabung, IQ, Leistung, Mathematik, Ordnung, Pflicht, Rechtschreibung, Strafe, Tugenden, Vorbild, Wissen, Zeugnis, Ziffernnote.
Jedenfalls gibt es sie noch und es gibt sie wieder,
die Pädagogik in „Marx- und Engelszungen“ (eine hübsche Wortbildung von Wolf
Biermann!). Zwar geht es in deutscher Pädagogik heute nicht mehr so reinrassig
marxistisch zu wie bei den 68ern und in der DDR. Aber subliminal und verbal
geschmeidiger setzen sich die 68er Vorstellungen von „Bildung“ nach wie vor in
beachtlicher Weise durch, und zwar mittlerweile verstrickt mit
neokapitalistischer Pädagogik, wie sie von der selbsternannten Erziehungsmacht
OECD und von Deutschlands oberster Bildungsgouvernante mit Sitz in Gütersloh
angesagt ist.
Es ist schon irre: In moderner Pädagogik
reichen sich Neo-Marxismus und Neo-Kapitalismus die Hand.
Zum Beispiel in der Frage der Ganztagsschule.
Und damit man ja alles total im Griff hat, wird die Verstaatlichung von
Erziehung vorangetrieben: qua Ganztagsschule – und mittels immer neuer
Bindestrich-Erziehungen: Konsum-, Medien-, Freizeit-, Gesundheits-, Umwelt-Erziehung.
Das Elternhaus soll – weil Hort der Ungleichheit und des Widerstands gegen
staatliche Zugriffe – aus der Verantwortung entlassen oder gar entmündigt
werden.
Den Marxisten geht es um Entmündigung der Eltern,
den Kapitalisten um den ökonomischen Nutzen, den man zieht, wenn man Frauen in
die Arbeitswelt kriegt.
„Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ heißt das
dann. Vom Kind ist dabei nicht die Rede. Und dann kommt etwas Paradoxes ins
Spiel: Dieselben Leute, die ständig ihre anti-kapitalistischen
Lippenbekenntnisse von wegen Gleichheit, Gerechtigkeit, klassenlose
Gesellschaft und dergleichen absondern, betreiben unter Einflüsterung der
Wirtschaft samt OECD eine Ökonomisierung von Bildung. Alles an „Bildung“ soll
messbar und nützlich sein. Der Mensch wird zum „Humankapital“ verdinglicht.
Damit schließt sich der Kreis der ursprünglich
verfeindeter Ideologien Sehr seltsam! Solche Verbrüderungen hätten sich die
68er nicht träumen lassen.
Quelle: Josef Kraus, 50 Jahre Umerziehung? Die 68er und ihre Hinterlassenschaften. Von SWR2 Wissen: Aula, Sendung vom 1. Juli 2018, 8.30 Uhr
Weitere Literatur: Josef Kraus, „50 Jahre Umerziehung – Die 68er und ihre Hinterlassenschaften“, Berlin 2018 - Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt. Und was Eltern jetzt wissen müssen. München 2017 - Helikopter-Eltern. Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung. Reinbek 2013.
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