Bei der Frage, ob man grausam oder mild
herrschen solle, ist die Antwort entsprechend klar. Es ist dennoch kein
Widerspruch zu der Feststellung, dass das Büchlein, welches der Autor hier
vorlegt, das Produkt eines enttäuschten Idealisten ist und dass dieser
Zeitgenosse nie aufgehört hat, an die ideale Republik nach römischem Muster zu
glauben, in der all diese Grausamkeiten nicht notwendig wären, weil die
Republik von innen gesund und folglich auch weitgehend immun gegen äußere
Angriffe ist.
Es ist das Werk eines Patrioten, der in einer
Art verzweifeltem Aufbäumen im letzten Kapitel in seinem Aufruf, Italien von
den Barbaren zu befreien, im historischen Vergleich darauf verweist, dass auch
die Leistungen Moses sich nicht hätten derart entfalten können, wenn die Juden
nicht in der Knechtschaft Ägyptens gewesen wären und dass auch die Größe des
Cyrus nicht erkannt worden wäre, wenn die Perser nicht vorher von den Medern unterdrückt
worden wären.
Theseus besiegt den Minotaurus |
Um Theseus berühmt zu machen, mussten die
Athener zu seiner Zeit zersplittert gelebt haben, und so musste auch, damit ein
italienischer Führergeist sich zeigen könne, Italien so tief sinken,
"sklavischer als die Israeliten, bedrängter als die Perser, zerstreuter
als die Athener, ohne Haupt, ohne Gesetze, verachtet, geplündert, zerrissen,
von Ausländern tyrannisiert seien, damit einer der Söhne Italiens Gelegenheit
habe, die Größe seiner Tatkraft zu zeigen. [ ] Italien, das in den letzten
Zügen liegende Italien, sage ich, sieht der Entscheidung eines Erretters
entgegen, der die Leiden der Lombardei, des Königreichs Neapel und Toskanas
beendet und seine eiternden Wunden heile, welche durch die Länge der Zeit
beinahe unheilbar sind. Es fleht zu Gott um einen Erretter, der es von dem
unerträglichen Joch des fremden Despotismus befreie. Es ist bereit, jeder Fahne
zu folgen, die ein Tapferer wehen lassen wird."
So gesehen, ist es wohl eher ein Aufruf des
Schriftstellers an die Mächtigen überhaupt, der Katastrophe ein Ende zu setzen,
als ein Appell an eine bestimmte Person, etwa Lorenzo II. de ́ Medici, dem er
den "Principe" widmete. Denn um die Schrift Machiavellis aus dem
Kontext adäquat zu verstehen, muss man sich klarmachen, dass die Gegenfigur zu
seinem robusten Fürsten vom Typus Cesare Borgia nicht der weise, wohlwollende,
aufbauende und friedliche Herrscher ist, den man sich vielleicht wünschen
würde, denn diesen kann man sich quasi leisten, wenn die Zeiten intakt sind.
Gegenpol zum Fürsten des Machiavelli ist der
schwache Herrscher in gefahrvollen Zeiten, der sein Volk und sein Staatsgebiet
preisgibt, und zwar dem nächstbesten Fremdherrscher vor die Füße wirft, der
wiederum skrupellos genug ist, sich die Schwäche dieses Gebieters zunutze zu
machen. Seine sämtlichen anderen historisch-politischen Schriften zeugen davon:
Machiavelli war ein leidenschaftlicher Republikaner, der sich ein Staatsgebilde
und eine Regierungsform wünschte, die tatsächlich diesen Namen verdient. Doch
zu seinen Lebzeiten blieb es ein frommer Wunsch.
Machiavellis Werk – nicht im Ganzen, sondern
"Il Principe" im Besonderen – hat die Gemüter erhitzt. Dass zum
Beispiel Napoleon Bonaparte oder auch Friedrich Nietzsche zu seinen Fans
zählten oder dass auch die Ideologen des modernen Faschismus sich auf
Machiavelli beriefen, ist Teil seiner abgrundtief dunklen Geschichte. Der
Soziologe Max Weber trifft in seinem 1919 gehaltenen Vortrag: "Politik als
Beruf" im Kontext von verantwortungsvoller Politik die feinsinnige Unterscheidung
von Gesinnungs- und Verantwortungsethik, wonach der Politiker respektive die
Politikerin im Einzelfall abwägen muss, ob er oder sie ihr politisches Handeln
primär nach ethischen Prinzipien und Werten ausrichtet oder ob sie vor allem
die Folgen ihres Handelns im Blick hat.
Idealerweise sind diese Haltungen einander
ergänzende Konstituenten verantwortungsvoller Politik, die an sich Machiavelli
nicht widerlegt, da es dem Florentiner in seiner aus den Fugen geratenen Zeit
vorrangig darum ging, Tipps zu geben, wie man die erodierenden Staatswesen
zusammenhält und die Eigengesetzlichkeit des Politischen anerkennt, unabhängig
von den Wertvorgaben der Theologie und unabhängig vom Machtanspruch der
korrupten römischen Kirche, die ihre Defensivtugenden nur propagierte – im
systemstabilisierenden Bunde mit der weltlichen Obrigkeit –, um ihre Schäfchen
gefügig zu halten.
Nach Machiavellis Auffassung war es zudem
keineswegs ausgemacht, dass gute Menschen, die etwa über die propagierten
christlichen Eigenschaften verfügten, automatisch auch gute Politik machten,
beziehungsweise gute Politik von der moralischen Qualität ihrer Urheber
abhängig war, und aus der Antike, in der er sich auskannte, lieferte er dafür
zahlreiche Gegenbeispiele.
Wie man die Macht letztlich auch immer im
handlungstheoretischen Sinn definiert – funktionierende Staatswesen ganz ohne
Macht sind bisher eher im Stadium des experimentellen Denkens stecken
geblieben. Mit Macht konstruktiv und sogar konstitutiv umzugehen, scheint, so
gesehen, auch ein ethisch, und das heißt hier verfassungsrechtlich grundiertes,
politisches Gegenwartsideal mit Zukunftscharakter zu sein. Als Machiavellist
würde sich dennoch niemand von den aktuellen Politikakteuren gerne bezeichnen
lassen. Soviel scheint, bei aller Bewunderung gegenüber den Virtuosen der
Macht, doch sicher.
Zitate aus: Sabine Appel: Gierig nach Macht - der Machiavellismus, SWR2 Wissen, Sendungen vom 5. und 12. November 2017