Im Frühjahr 1766 erscheint bei Johann Jacob Kanter, dem
Königsberger Buchhändler und Verleger, eine anonyme Schrift mit dem
merkwürdigen Titel „Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik“ – der Autor war niemand geringeres als Immanuel Kant.
Immanuel Kant (1724 - 1804) |
Anlass für Kants Schrift ist seine Beschäftigung mit dem nordischen Seher und Propheten Emanuel Swedenborg. Kant hatte viel Wunderliches
von Swedenborg gehört. Man staunte und diskutierte über dessen Fähigkeit, vor
allem mit Geistern oder den Seelen von Verstorbenen Kontakt aufnehmen zu können,
auf Erden wie im Himmel.
In all seinen Offenbarungen über die Geheimnisse und Wunder
in Himmel und Hölle, im Geisterreich und auf Erden hat Swedenborg immer wieder darauf
hingewiesen, dass ihm alles von Gott selbst mitgeteilt worden sei. Es handle
sich dabei um lebendige Erfahrungen seines `inneren Menschen´, dem all diese staunenswerten
Dinge nur vor dem `inneren Auge´ erschienen.
Alle diese Erfahrungen sind für Kant gleichwohl nur `Privaterscheinungen´,
die Swedenborg zur Beglaubigung seines Wissens anführte. „Er war sein einziger
Zeuge. Er lebte in seiner eigenen Welt und kommunizierte in seiner engelhaften
Privatsprache.
Intersubjektivität statt Solipsismus |
Gegen diesen Solipsismus, demzufolge nur das eigene Ich
existiert, stellt Kant die intersubjektive Welt gemeinsamer
Erfahrungsmöglichkeiten aller Menschen entgegen. „Er vertraut auf die
Übereinstimmung der Erfahrungsbasis verschiedener Subjekte, die sich auch im
öffentlichen Gebrauch einer Sprache manifestiert, deren Weltbezug jeder
mitvollziehen kann.“
Im Anschluss an Heraklit drückt Kant diesen Gedanken so aus:
„Wenn wir wachen, so haben wir eine gemeinschaftliche Welt, träumen wir aber,
so hat ein jeder seine eigne.“
Damit knüpft Kant direkt an Newtons Mathematische Prinzipien
der Naturlehre an: „Weil wir den subjektiven Wahrnehmungen solche Gegenstände,
Tatsachen und Prozesse zuordnen können, welche sich nach Grundsätzen Newtons betrachten
und erklären lassen, ist eine intersubjektive Verständigung über die Welt
möglich. Nicht als Geheimnis, sondern als alles, was tatsächlich der Fall ist,
interessiert den Naturphilosophen die Welt.“
Kant geht es darum, die Illusionen einer „geheimen“
Philosophie zu überwinden. Auch er stellt die Metaphysik unter den Verdacht der
Sinnlosigkeit, „weil sie sich jeder Überprüfbarkeit anhand intersubjektiv
erfahrbarer Tatsachen entzieht. Sie bietet weder wahre noch nachweislich
falsche Sätze. Ihre Scheinerfahrungen, Scheinbegriffe und Scheinurteile sind nicht
zu verifizieren, aber auch nicht zu falsifizieren, weil sie allein den
Imaginationen einzelner Subjekte entspringen, die seherisch begabt zu sein
scheinen.“
Jenseits der Grenze liegt das Schattenreich der Metaphysik |
Damit will Kant nichts mehr zu tun haben. Am Ende seiner
Reise durch das Schattenreich gilt ihm die Metaphysik als erledigt. Sie soll
ihn künftig nichts mehr angehen. Es gibt Nützlicheres zu tun, als sich mit
diesem Unsinn herumzuplagen.
Alles, was jenseits der Grenze dessen liegt, das sich
gemeinsam denken und sagen lässt, ist einfach Unsinn – eben weil es jenseits
der Grenze liegt. Kant skizziert das Schattenreich, in dem sich die Phantasten
paradiesisch zu Hause fühlen, als ein `unbegrenztes Land´, `wo sie sich nach
Belieben anbauen können.´
„Auch die anderen Bilder, mit denen er die metaphysischen
und spiritualistischen Träumereien erhellt, spielen auf Unbegrenztes an:
Luftschlösser; ein leerer Raum, wohin uns die `Schmetterlingsflügel der
Metaphysik´ zu heben scheinen.“
Jahrzehnte später, in der Kritik der reinen Vernunft (1781) wird
er „von dem platonischen Trieb ins Grenzenlose reden, vom Flug einer leichten
Taube, welche die Sinnenwelt verlässt und sich `auf den Flügeln der Ideen in
den leeren Raum des reinen Verstandes´ hebt; oder vom weiten und stürmischen
Ozean, diesem eigentlichen Sitz des `Scheins´, wo Nebel und schmelzendes Eis
festes Land vorspiegeln und `herumschwärmende Seefahrer mit leeren Hoffnungen´
in täuschende Abenteuer gelockt werden.
Kant aber will auf dem Boden bleiben und Land sehen.“ Um
träumerische Spekulationen zu vermeiden, müssen bei allen philosophischen
Fragen nach der geistigen Natur und der seelischen Immaterialität klare Grenzen
gezogen werden.
Nicht-Wissen-Können |
„Gegen alle metaphysischen Hirngespinste verpflichtet Kant
die Metaphysik auf eine gleichsam nur negative Aufgabe …nämlich auf die Schranken
und Grenzsteine eines Wissens, über das wir nicht hinausreichen können. Keine
philosophische Untersuchung dürfe über sie `ausschweifen´. `Insofern ist die
Metaphysik eine Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft.´“
Kant setzt das Sokratische Nichtwissen an die Stelle des platonischen
Erkenntnisanspruches: Die Metaphysik erweitert nicht das wissenschaftliche
Wissen. Aber man lernt durch sie, was Sokrates wusste: Ich weiß es nicht. „Ein
bescheidenes Misstrauen stellt sich ein, wenn der Gelehrte an die Grenzen des
Erkennbaren stößt und gestehen muss: Wie viele Dinge gibt es doch, die ich
nicht einsehe."
„`Ich weiß also nicht, ob es Geister gebe.´ Diese
Unwissenheit führt zu dem Schluss, dass man in Zukunft zwar von den Geistern
und von dergleichen Wesen `noch allerhand meinen, niemals aber mehr wissen könne.´“
Kant offenbart sich hier also als überzeugten Agnostiker,
der jeden Wissensanspruch in Zweifel zieht, mit dem man die Grenze einer intersubjektiven
Welterfahrung zu überschreiten versucht.
Dieses Nicht-wissen-Können ist kein vorläufiges
Nicht-wissen, das in dem Satz ausgedrückt werden kann: Wir wissen es zwar noch
nicht, aber wir können es wissen und werden es einst auch wissen. Für Kant
steht vielmehr unverrückbar fest: Weil es sich bei der Seele und dem Geist
nicht um Gegenstände der Natur handelt, die den Sinnen erscheinen und
erfahrungswissenschaftlich analysiert werden können, ist ein Wissen darüber
grundsätzlich und für immer ausgeschlossen: Wir werden es niemals wissen.
„Der metaphysische Lehrbegriff von geistigen Wesen liefert
uns kein Problem, das wissenschaftlich gelöst werden kann. Er konfrontiert uns
mit einem Rätsel, das die Grenze jeder möglichen Erfahrungswissenschaft übersteigt.
Das Mysterium des Geistes und der Seele ist theoretisch unbegreifbar.“
Kant bleibt also sokratisch bescheiden. „Angesichts der
Rätsel des Geistigen gesteht er eine Unwissenheit, die durch keine Theorie
aufgehoben werden kann. Denn weder kann der menschliche Verstand begreifen, was
jenseits seiner Grenzen liegt; noch kann sinnlich erfahren werden, was in einer
anderen Welt möglicherweise existiert, in unserer Welt aber nicht anzutreffen
ist außer in Scheinerfahrungen eines Phantasten, der seine
Wahrnehmungserlebnisse missversteht."
Zitate aus: Manfred Geier: Kants Welt. Eine
Biographie, Hamburg 2004 (Rowohlt)
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