Im Frühjahr 1766 erscheint bei Johann Jacob Kanter, dem
Königsberger Buchhändler und Verleger, eine anonyme Schrift mit dem
merkwürdigen Titel „Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik“ – der Autor war niemand geringeres als Immanuel Kant.
Das Werk beginnt mit dem wuchtigen Satz: „Das Schattenreich ist das
Paradies der Phantasten.“ Dieser Satz ist zugleich eine Warnung: „Die Grenze zu
diesem Reich darf nicht überschritten werden. Der Weltweise, der Deutlichkeit
und Klarheit als methodische Richtlinien seiner philosophischen Tätigkeit schätzt,
darf kein Phantast sein. Er will sich nicht verblenden lassen wie die Menschen,
die nicht das sehen, was da ist, sondern was ihnen ihre Neigung vorgaukelt.“
Emanuel Swedenborg (1688 - 1772) |
Um sich darüber klar zu werden, hat Kant sich der Person des schwedischen Gelehrten Emanuel Swedenborg
zugewandt. Der berühmte Geisterseher findet auch in Deutschland begeisterte
Anhänger. Er dient Kant als Spiegelbild und Doppelgänger, von dem er sich
trennen muss, um aus den Träumen der Metaphysik aufzuwachen.
„Kant will den Swedenborg in sich überwinden, will den
eigenen Geister-Unsinn erkennen, um ihn verwerfen zu können.“
Emanuel Swedberg wurde am 29. Januar 1688 in Stockholm
geboren. Seine naturwissenschaftliche Neugier führte ihn nach England, wo er
Newton hörte, und begann Mathematik, Mechanik und Astronomie zu studieren. 30
Jahre lang, von 1716 bis 1747, arbeitete in Schweden als Bergwerksassessor
gearbeitet. Für seine praktischen Leistungen und wissenschaftlichen Forschungen
wurde er mit dem Namen `von Swedenborg´ geadelt und als Mitglied in die
Königliche Akademie der Wissenschaften aufgenommen.
Gegen 1740 ist er auf der Höhe seines wissenschaftlichen
Ruhms. Er arbeitet sein großes Werk `Regnum Animale´ aus und schreibt eine
bemerkenswerte Abhandlung über das Gehirn - doch zugleich gerät er angesichts
dieser wissenschaftlichen Arbeit in eine tiefe Krise. Er befürchtet, dass vor
allem das Leib-Seele-Problem seine wissenschaftlich geschulten Verstandeskräfte
übersteigt. „Es gelingt ihm nicht, seelische Ereignisse zu naturalisieren.
Swedenborg ist an eine Grenze der forschenden Naturerkenntnis gestoßen, die ihm
als unüberwindbar erscheint. Er sehnt sich nach Zeichen einer göttlichen
Bestätigung, ob er auf dem richtigen Erkenntnisweg ist.“
In dieser Krise, in der das naturbezogene Wissen an seine
Grenze stößt und auch der religiöse Glaube in den Strudel des
wissenschaftlichen Zweifels gerät, werden Swedenborgs Träume immer intensiver
und irritierender. Er beginnt traumartige Halluziniationen zu erleben, weil er extrem
seine Atmung reduziert und sich damit beinahe in den Zustand eines Erstickenden
bringt. „Hypnagogisch spielt sich alles in ihm ab, vor seinem inneren Gesicht.
Mit seinen `geistigen Augen´ sieht er in sich Feuer brennen, und seine Gedanken
werden immer `lichtroter´. Auch fühlt er sich in Gesellschaft himmlischer
Engel, die in ihm anwesend sind.“
In der Nacht vom 6. zum 7. April 1744 erlebt Swedenborg
schließlich seine erste große Christusvision: „Er ist zwar nicht ganz wach gewesen,
als der Gottessohn ihn zum Geliebten wählt. Aber das hindert ihn nicht, in
seinem Leben eine entscheidende Wende zu vollziehen.
Swedenborg wird zum Liebhaber himmlischen Wissens |
Er hat bisher nach wissenschaftlicher Erkenntnis auf
verschiedenen Gebieten gestrebt, wobei er meist streng empirisch vorging, vertrauend
auf Experiment und Beobachtung. Jetzt aber glaubt er einzusehen: Die Grenze, an
die er als Wissenschaftler gestoßen war, muss übersprungen werden. Er sucht das
ganz Andere, und das göttliche Mysterium geschieht.“
Schließlich offenbart sich ihm Gott selbst. Von ihm erfährt er,
wozu er ausersehen ist: „Er soll den Menschen den geistigen Sinn der Heiligen
Schrift auslegen. Angeleitet allein durch göttliche Hilfe soll er den Rest
seines Lebens diesen Auftrag zu erfüllen streben. Er soll die himmlischen
Geheimnisse zu lüften versuchen, die in Gottes veröffentlichtem Wort verborgen
sind.“
`Mir wurde in derselben Nacht zu meiner Überzeugung die
Geisterwelt, die Hölle und der Himmel geöffnet, wo ich viele Bekannte desselben
Standes wiedererkannte: Von dem Tage an entsagte ich aller weltlichen
Gelehrsamkeit und arbeitete in geistigen Dingen, wie mir der Herr befahl zu schreiben.´
Swedenborg ist zum Liebhaber himmlischen Wissens geworden,
aus der Krise seines naturwissenschaftlichen Denkens rettet er sich durch eine
spiritualistische Wende, die ihn zur göttlichen Wahrheit bringt.
Aber Kant erkennt Swedenborg als das, was er ist, als einen
`Genius´, der ihn wie im Märchen ins „Schlaraffenland der Metaphysik“ zu
verführen droht.
Damit wird klar, dass es Kant eigentlich um das
erkenntnistheoretische Problem einer verlässlichen Erfahrungsbasis geht, auf der
sich wissenschaftliche Theorien und metaphysische Systeme gründen lassen.
Metaphysik oder verlässliche Erfahrungsbasis, auf die sich wissenschaftliche Theorien gründen lassen? |
Kant hat sich durch die acht Bände der „Arcana Coelestia“,
dem visionären Hauptwerk Swedenborgs hindurchgearbeitet. Aber dieses „große
Wunderwerk“ ist letztlich nicht mehr als wirre Ansammlung der `wilden
Hirngespinste des ärgsten Schwärmers unter allen, als acht Quartbände voll
Unsinn´.
Alle Visionen, die der nordische Visionär bei seinem
ständigen und ununterbrochenen Verkehr in der Geisterwelt und im Himmel der
Engel gesehen haben will und deren Einsicht er allein von Gott erhalten habe,
interpretiert Kant als Einbildungen eines Menschen, „der seine eigene, aus
mythischen, biblischen und literarischen Quellen intertextuell zusammengelesene
Schöpfung als geheime Weltordnung missversteht.“
Insbesondere interessiert sich Kant für das, was Swedenborg
mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört haben will, also für die
empirische Basis seines Wissens. Diese Basis jedoch ist für Kant
zusammengesetzt aus `Scheinerfahrungen´, die Swedenborg als eigenwillige,
verkehrte Interpretationen subjektiver Wahrnehmungserlebnisse interpretiert.
Kant stellt nicht in Frage, was Swedenborg erlebt hat. Jeder
kennt phantastische Wahrnehmungserlebnisse, die etwa im Halbschlaf oder bei Geistesabwesenheit
entstehen.
Aber Kant wendet sich gegen die Verkehrtheit der
Erfahrungsbegriffe fest, mit denen Swedenborg zu beschreiben und zu erklären
versuchte, was in und mit ihm geschah. „Hier neigte ein Phantast zu einer
verrückten Scheinerfahrung, die sich vor allem durch einen Rückgriff auf eine
schwärmerische Bibellektüre als Offenbarung missverstand.
Verbindung mit der Geisterwelt ... eine Art von Selbstbetrug! |
Swedenborgs Verbindung mit der Geisterwelt war eine Art von
Selbstbetrug über die Wahrnehmungen und Empfindungen, die intensiv erlebt und
visionär überinterpretiert wurden.“
Mit seiner kritischen Analyse der Träume eines Geistersehers
hat Kant auch die Träume der Metaphysik als möglichen Schein entlarvt. „Alles
Reden von Geist und Seele als immateriellen Wesen, alle Spekulationen über die
geheimnisvolle Gemeinschaft von Leib und Seele, seine Imagination einer
moralischen `Geisterwelt nach pneumatischen Gesetzen´, die metaphysischen
Luftgebilde einer transzendenten Welt, gezimmert aus erschlichenen Begriffen –
waren auch … nur Blendwerke einer Einbildungskraft, die nur Scheineinsichten mit sich bringen konnte."
Zitate aus: Manfred Geier: Kants Welt. Eine Biographie, Hamburg 2004 (Rowohlt)
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