Träume eines Geistersehers (Titel der Erstausgabe) |
Im Frühjahr 1766 erscheint bei Johann Jacob Kanter, dem
Königsberger Buchhändler und Verleger, eine anonyme Schrift mit dem
merkwürdigen Titel „Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der
Metaphysik“ – der Autor war niemand geringeres als Immanuel Kant.
Das Motto dieses Werkes ist ein Zitat aus der Ars poetica
des Horaz, „velut aegri somnia, vanae finguntur species“ (wie Träume eines Kranken
werden Wahngebilde erdichtet). Natürlich war auch für Horaz das Wunderbare in
und durch Poesie darstellbar, aber die Phantasie sollte nicht „zu widersinnigen
Fabelwesen führen, zu Schimären aus Mensch und Tier, aus Lämmern und Tigern, wo
sich Sanftmut und Grimm vermischen. Über Unvereinbares, das wie im Fieber wild zusammengeträumt
wird, kann man nur spotten und lachen.“
Soll also auch die damals hochgeachtete Metaphysik zu dieser
verwerflichen Gesellschaft aus wirren Räumen, Geisterseherei und erdichteten
Wahngebilden gehören?
Schon länger hatte sich Kant mit verschiedenen „gestörten
Köpfen“ beschäftigt, deren Erfahrungsbegriff verkehrt worden ist. Sie seien vor
allem deshalb in eine „Verrückung“ geraten, weil sie die Vorstellungen ihrer
Einbildungskraft für wirkliche Dinge in der Welt halten. „Sie sind Träumer im Wachen
und werden zu „Phantasten“, wenn ihre Blendwerke vorherrschend werden.“
Aber Kant will zwischen Phantasie und Phantasterei,
Einbildungskraft und Verrückung eine Grenze ziehen, um nicht durch jene Schimären
verführt zu werden, vor denen bereits Horaz gewarnt hat.
An dieser Grenze entscheidet sich zugleich das Schicksal
einer Metaphysik des Geistes, die seit ihren griechischen Anfängen ein Zentrum
der Philosophie bildet.
Es geht Kant um Klärung und Erläuterung, um metaphysischen Unsinn
überwinden und dann die Welt richtig sehen zu können: „Die Philosophie soll die
Gedanken, die sonst, gleichsam, trübe und verschwommen sind, klar machen und
scharf abgrenzen.“
Emanuel Swedenborg (1688 - 1772) |
Anlass für Kants Schrift ist seine Beschäftigung mit dem
nordischen Seher und Propheten Emanuel Swedenborg. Kant hatte viel Wunderliches von Swedenborg gehört. Man
staunte und diskutierte über dessen Fähigkeit, vor allem mit Geistern oder den
Seelen von Verstorbenen Kontakt aufnehmen zu können, auf Erden wie im Himmel.
Auch Kant ist überzeugt, dass der Geist existiert – und das
es Geister gibt: „Jedenfalls wird seit Jahrtausenden von ihnen geredet (…) Jeder
Blick in ein philosophisches Wörterbuch führt vor Augen, dass `Geist´´ ein
Fundamentalbegriff der europäischen Philosophie ist.“
Doch dieser Geist, der im Geist Gottes seine theologische
Krönung erfährt, hat schon früh seinen gespensterhaften Doppelgänger zur Seite. In den geheimen Mysterienreligionen
wurde immer wieder eine andere Welt beschworen, ein Reich der Geister, in das
nur die Initiierten Zugang gewinnen können.
Kinder hören Geistergeschichten. Sie glauben an hilfreiche
Schutzengel oder fürchten sich vor den nächtlichen Geistern, die vor allem in
ihren Träumen auftreten. Von den Geistern der Verstorbenen, die wiederkehren
können, erzählen alte Mythen ebenso wie der Volksglaube. Poltergeister leben in
den Dingen, die außer Rand und Band zu geraten scheinen.
So stellt Kant fest, das unser Wissen von Geist und Geistern
dunklen Vorstellungen und verworrenen Begriffen lebt. Erst wenn also geklärt sei,
was sinnvollerweise mit „Geist“ gemeint ist, kann man sich der weiter gehenden
Frage zuwenden, ob mit diesem Namen etwas Wirkliches bedeutet oder nur ein
Hirngespinst vorgespiegelt wird.
Nun wäre dieses Problem leicht zu beantworten, wenn „Geist“
von unseren Erfahrungsbegriffen abgeleitet wäre. Aber leider kann man sich,
wenn man von der Natur des Geistes redet, ja gerade nicht unmittelbar auf
sinnliche Erfahrungen körperlicher Dinge und Tatsachen beziehen. Der strittige Begriff
ist nicht empirisch begründbar, denn die Sinne offenbaren uns keinen Geist.
Diese Erkenntnis ist der „verwickelte metaphysische Knoten“,
der Kant in eine tiefe philosophische Verwirrung zu stürzen droht. Ohne
Sinnesdaten scheint das klare und zielstrebige Nachdenken überfordert zu sein.
„Es verknotet sich in widerstreitende Argumentationen, bei denen oft geistvolle
Begründungen und phantastische Einbildungen unauflöslich verwoben sind. Die Metaphysik
beginnt zu träumen.“
Immanuel Kant (1724 - 1804) |
Der Metaphysiker neige daher zum Geheimnisvollen. „Er ist
Initiat einer `geheimen Philosophie´ und gesteht, was ihm selbst sehr dunkel
ist und wohl auch so bleiben wird. Er glaubt an die Seele, an immaterielle
Naturen, geistige Wesen, innere Tätigkeiten und Zustände, die einer Welt
angehören, die nicht den Bedingungen körperlicher Aktivitäten unterworfen sind.“
Kant vermutet, dass angesichts dieser Frage jede
wissenschaftliche Erkenntnisanstrengung an ihre Grenzen stoßen muss.
Der Zusammenhang von Geist und Körper, Seele und Leib verwirrt
ihn. Denn die Annahme einer menschlichen Seele als geistiger Substanz bringt
den Metaphysiker in die scheinbar unlösbare Schwierigkeit, einerseits eine „wechselseitige
Verknüpfung derselben mit körperlichen Wesen zu einem Ganzen (zu) denken, und die
dennoch die einzig bekannte Art der Verbindung, welche unter materiellen Wesen
statt findet, aufheben soll.“
So steht für Kant letztlich fest: „Das Schattenreich ist das
Paradies der Phantasten.“ Dieser Eröffnungssatz seiner Schrift ist zugleich
eine Warnung: „Die Grenze zu diesem Reich darf nicht überschritten werden. Der
Weltweise, der Deutlichkeit und Klarheit als methodische Richtlinien seiner
philosophischen Tätigkeit schätzt, darf kein Phantast sein. Er will sich nicht verblenden
lassen wie die Menschen, die nicht das sehen, was da ist, sondern was ihnen
ihre Neigung vorgaukelt.“
Zitate aus: Manfred Geier: Kants Welt. Eine
Biographie, Hamburg 2004 (Rowohlt)
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