Donnerstag, 29. Oktober 2015

Kant und die Metaphysik - Teil 1: Über Geist und Geister

Träume eines Geistersehers
(Titel der Erstausgabe)
Im Frühjahr 1766 erscheint bei Johann Jacob Kanter, dem Königsberger Buchhändler und Verleger, eine anonyme Schrift mit dem merkwürdigen Titel „Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik“ – der Autor war niemand geringeres als Immanuel Kant.

Das Motto dieses Werkes ist ein Zitat aus der Ars poetica des Horaz, „velut aegri somnia, vanae finguntur species“ (wie Träume eines Kranken werden Wahngebilde erdichtet). Natürlich war auch für Horaz das Wunderbare in und durch Poesie darstellbar, aber die Phantasie sollte nicht „zu widersinnigen Fabelwesen führen, zu Schimären aus Mensch und Tier, aus Lämmern und Tigern, wo sich Sanftmut und Grimm vermischen. Über Unvereinbares, das wie im Fieber wild zusammengeträumt wird, kann man nur spotten und lachen.“

Soll also auch die damals hochgeachtete Metaphysik zu dieser verwerflichen Gesellschaft aus wirren Räumen, Geisterseherei und erdichteten Wahngebilden gehören?

Schon länger hatte sich Kant mit verschiedenen „gestörten Köpfen“ beschäftigt, deren Erfahrungsbegriff verkehrt worden ist. Sie seien vor allem deshalb in eine „Verrückung“ geraten, weil sie die Vorstellungen ihrer Einbildungskraft für wirkliche Dinge in der Welt halten. „Sie sind Träumer im Wachen und werden zu „Phantasten“, wenn ihre Blendwerke vorherrschend werden.“

Aber Kant will zwischen Phantasie und Phantasterei, Einbildungskraft und Verrückung eine Grenze ziehen, um nicht durch jene Schimären verführt zu werden, vor denen bereits Horaz gewarnt hat.

An dieser Grenze entscheidet sich zugleich das Schicksal einer Metaphysik des Geistes, die seit ihren griechischen Anfängen ein Zentrum der Philosophie bildet.

Es geht Kant um Klärung und Erläuterung, um metaphysischen Unsinn überwinden und dann die Welt richtig sehen zu können: „Die Philosophie soll die Gedanken, die sonst, gleichsam, trübe und verschwommen sind, klar machen und scharf abgrenzen.“

Emanuel Swedenborg (1688 - 1772) 
Anlass für Kants Schrift ist seine Beschäftigung mit dem nordischen Seher und Propheten Emanuel Swedenborg. Kant hatte viel Wunderliches von Swedenborg gehört. Man staunte und diskutierte über dessen Fähigkeit, vor allem mit Geistern oder den Seelen von Verstorbenen Kontakt aufnehmen zu können, auf Erden wie im Himmel.

Auch Kant ist überzeugt, dass der Geist existiert – und das es Geister gibt: „Jedenfalls wird seit Jahrtausenden von ihnen geredet (…) Jeder Blick in ein philosophisches Wörterbuch führt vor Augen, dass `Geist´´ ein Fundamentalbegriff der europäischen Philosophie ist.“

Doch dieser Geist, der im Geist Gottes seine theologische Krönung erfährt, hat schon früh seinen gespensterhaften Doppelgänger zur Seite. In den geheimen Mysterienreligionen wurde immer wieder eine andere Welt beschworen, ein Reich der Geister, in das nur die Initiierten Zugang gewinnen können.

Kinder hören Geistergeschichten. Sie glauben an hilfreiche Schutzengel oder fürchten sich vor den nächtlichen Geistern, die vor allem in ihren Träumen auftreten. Von den Geistern der Verstorbenen, die wiederkehren können, erzählen alte Mythen ebenso wie der Volksglaube. Poltergeister leben in den Dingen, die außer Rand und Band zu geraten scheinen.

So stellt Kant fest, das unser Wissen von Geist und Geistern dunklen Vorstellungen und verworrenen Begriffen lebt. Erst wenn also geklärt sei, was sinnvollerweise mit „Geist“ gemeint ist, kann man sich der weiter gehenden Frage zuwenden, ob mit diesem Namen etwas Wirkliches bedeutet oder nur ein Hirngespinst vorgespiegelt wird.

Nun wäre dieses Problem leicht zu beantworten, wenn „Geist“ von unseren Erfahrungsbegriffen abgeleitet wäre. Aber leider kann man sich, wenn man von der Natur des Geistes redet, ja gerade nicht unmittelbar auf sinnliche Erfahrungen körperlicher Dinge und Tatsachen beziehen. Der strittige Begriff ist nicht empirisch begründbar, denn die Sinne offenbaren uns keinen Geist.

Diese Erkenntnis ist der „verwickelte metaphysische Knoten“, der Kant in eine tiefe philosophische Verwirrung zu stürzen droht. Ohne Sinnesdaten scheint das klare und zielstrebige Nachdenken überfordert zu sein. „Es verknotet sich in widerstreitende Argumentationen, bei denen oft geistvolle Begründungen und phantastische Einbildungen unauflöslich verwoben sind. Die Metaphysik beginnt zu träumen.“

Immanuel Kant (1724 - 1804)
Der Metaphysiker neige daher zum Geheimnisvollen. „Er ist Initiat einer `geheimen Philosophie´ und gesteht, was ihm selbst sehr dunkel ist und wohl auch so bleiben wird. Er glaubt an die Seele, an immaterielle Naturen, geistige Wesen, innere Tätigkeiten und Zustände, die einer Welt angehören, die nicht den Bedingungen körperlicher Aktivitäten unterworfen sind.“

Kant vermutet, dass angesichts dieser Frage jede wissenschaftliche Erkenntnisanstrengung an ihre Grenzen stoßen muss.

Der Zusammenhang von Geist und Körper, Seele und Leib verwirrt ihn. Denn die Annahme einer menschlichen Seele als geistiger Substanz bringt den Metaphysiker in die scheinbar unlösbare Schwierigkeit, einerseits eine „wechselseitige Verknüpfung derselben mit körperlichen Wesen zu einem Ganzen (zu) denken, und die dennoch die einzig bekannte Art der Verbindung, welche unter materiellen Wesen statt findet, aufheben soll.“


So steht für Kant letztlich fest: „Das Schattenreich ist das Paradies der Phantasten.“ Dieser Eröffnungssatz seiner Schrift ist zugleich eine Warnung: „Die Grenze zu diesem Reich darf nicht überschritten werden. Der Weltweise, der Deutlichkeit und Klarheit als methodische Richtlinien seiner philosophischen Tätigkeit schätzt, darf kein Phantast sein. Er will sich nicht verblenden lassen wie die Menschen, die nicht das sehen, was da ist, sondern was ihnen ihre Neigung vorgaukelt.“

Zitate aus: Manfred Geier: Kants Welt. Eine Biographie, Hamburg 2004 (Rowohlt)

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