In dem Maße, in dem sich die ständische
Ordnung des Alten Reiches im Laufe des 18. Jahrhunderts verflüchtigte, drängte im
19. Jahrhundert das Bürgertum -
ausdifferenziert in „Bildungsbürgertum“ und „Wirtschaftsbürgertum“ - immer mehr
in das Zentrum der Gesellschaft. Das Bürgertum zeigte sich dabei höchst
dynamisch, brennend vor Ehrgeiz und beflügelt von Selbstvertrauen. Zwar waren
auch zuvor schon vereinzelte Vertreter dieser Schicht in Erscheinung getreten,
doch erst im ausgehenden 18. Jahrhundert wuchs ihre Zahl und vor allen ihr
Einfluss.
Porträt einer bürgerlichen Familie im 19. Jahrhundert: Der Arzt und Schriftsteller Wolfgang Müller von Königswinter |
In Familie, in Vereinen, an öffentlichen Orten
und in Institutionen wurde die bürgerliche Kultur geprägt und weitergegeben. „Bürgerlichkeit“
bedeutete zugleich auch immer den Anspruch auf politische Partizipation, die
sich in kommunaler Selbstverwaltung ebenso zeigte wie in der „bürgerlichen“
Revolution von 1848/49.
Gemeinsam verstanden sich Bildungs- und
Wirtschaftsbürger als Trägerschichten der als Leistungsgesellschaft
konzipierten bürgerlichen Gesellschaft. „Mit gutem Grund: Schließlich waren sie
es, die neben dem Prinzip der individuellen Leistung auch andere Vorstellungen
dieses neuen, in den Studierstuben aufklärerisch gesinnter Meisterdenker
erdachten Gesellschaftsmodells aufgriffen, für sich annahmen und verbreiteten.
Ständische Ungleichheit und absolutistische Staatsgewalt waren die
Hauptangriffspunkte. Vordenker war der Königsberger Philosoph Immanuel Kant
(1724–1804). Er forderte, ganz im Geiste der Urväter des Gedankens, eine
Gemeinschaft freier und formal gleicher Bürger, denen der „Ausgang“ aus der
„selbstverschuldeten Unmündigkeit“ gelungen war.“
Es war vor allem die anti-adlige und anti-absolutistische
Stoßrichtung, die auf ein bürgerliches Echo stieß, denn sie verkündete den „Abschied
von geburtsständischen Privilegien, obrigkeitsstaatlicher Gängelung und
klerikalem Deutungsmonopol.“
Das Bürgertum setzte dagegen die Vision einer
von Vernunft, Individualität und Humanität bestimmten Gesellschaftsordnung, in
der die staatliche Macht im Sinne des liberalen Rechts- und Verfassungsstaats
einerseits begrenzt und andererseits über Öffentlichkeit, Wahlen und
Repräsentationsorgane den Einflüssen des mündigen Bürgers unterstand.
Dazu gehörte auch ein neues Verhältnis zur
Geschichte, zur eigenen und zur Geschichte der Menschheit insgesamt. „Bislang
bindende Traditionen wurden überdacht, gewendet, gebrochen und verworfen. Nicht
mehr das `Schicksal´ bestimmte in den Augen des Bürgertums seine Gegenwart und
Zukunft; allein persönliche Tatkraft machte den Bürger zum Herrn seiner selbst.“
Zu den Mosaiksteinen der bürgerlichen Kultur
gehörte stets „eine positive Grundhaltung gegenüber selbstbestimmter,
eigenverantwortlicher, regelmäßiger Arbeit und – damit eng verbunden – Tugenden
wie Fleiß und Sorgfalt, die Pflichterfüllung im beruflichen und privaten
Alltag, die Neigung zur durchdachten Lebensführung, zum Tagesrhythmus nach dem
Stundenplan, die Betonung von Erziehung und Bildung, eine empathisch-emphatische
Beziehung zur Welt der Kunst, Respekt vor der Wissenschaft und nicht zuletzt
die Konzeption und weitgehende Realisation eines spezifischen Familienideals.“
Adam Ferguson (1723–1816) |
So schreibt der schottische
Historiker Adam Ferguson: „Der Mensch ist von Natur aus Glied einer
Gemeinschaft. Betrachtet man das Individuum in dieser Eigenschaft, dann scheint
es nicht mehr für sich selbst geschaffen zu sein. Es muß auf sein Glück und
seine Freiheit verzichten, wo diese dem Wohl der Gesellschaft widersprechen. …
Wenn also das öffentliche Wohl Hauptzweck der Individuen ist, so ist doch in
gleicher Weise wahr, daß das Glück der einzelnen der große Endzweck der
bürgerlichen Gesellschaft ist: denn in welchem Sinne kann eine Öffentlichkeit
irgendein Gut genießen, wenn ihre Glieder, einzeln betrachtet, unglücklich
sind?
Allerdings sind die Interessen der
Gesellschaft und die ihrer Glieder leicht zu versöhnen. Wenn das Individuum der
Öffentlichkeit jede nur mögliche Rücksichtnahme schuldet, so wird es, indem es
diese Rücksichtnahme erweist, auch des größten Glücks teilhaftig, dessen es
seiner Natur nach fähig ist. Die größte Wohltat, welche die Öffentlichkeit
ihrerseits ihren Mitgliedern erweisen kann, besteht darin, sie mit sich
verbunden zu halten.
Derjenige Staat ist der glücklichste, der von
seinen Untertanen am meisten geliebt wird, und die glücklichsten Menschen sind
die, deren Herzen sich für eine Gemeinschaft engagieren, in der sie jeden
Antrieb zu Großmut und Eifer finden und einen Spielraum zur Betätigung jedes
ihrer Talente und jeder ihrer tugendhaften Anlagen.“
" ... so ist doch in gleicher Weise wahr, daß das Glück der einzelnen der große Endzweck der bürgerlichen Gesellschaft ist." (Adam Ferguson) |
Ähnlich argumentiert der Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl (1823–1897), der in seinem Bestseller „Die bürgerliche Gesellschaft“ (1851) schrieb: „Viele nehmen Bürgertum und moderne Gesellschaft für gleichbedeutend. Sie betrachten den Bürgerstand als die Regel, die anderen Stände nur noch als Ausnahmen, als Trümmer der alten Gesellschaft, die noch so beiläufig an der modernen hängen geblieben sind.“
Sicherlich ist die Vorstellung, dass der
eigene Wertehimmel und Gesellschaftsentwurf über die Grenzen der eigenen
sozialen Schicht ausstrahlen würde und dass auf Dauer alle, unabhängig von
Stand und Geschlecht, an den Wohltaten der „bürgerlichen Gesellschaft“
partizipieren sollten sollte, gleichermaßen „großherzig und großspurig“.
Aber es war ein durch und durch
optimistisches Programm – ein neues, weit weniger starres Weltbild als das des
Ancien Régime, das diese Ideen überwölbte. Aus diesem Ideal, das bis ins
Alltagsleben eindrang, erwuchs ein Ensemble, das den Lebensstil einer ganzen
Gesellschaftsschicht prägte, einschließlich der deutenden Werte und
Vorstellungen - mit anderen Worten: aus diesem Ideal erwuchs eine spezifische
„bürgerliche Kultur, die die Welt eines Hamburger Kaufmanns, eines Berliner
Bankiers, eines Oldenburger Rechtsanwalts und eines Heidelberger Professors im
Innersten zusammenhielt.“
Zitate aus: Gunilla Budde: Blütezeit
des Bürgertums. Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Darmstadt 2009 (Wissenschaftliche
Buchgesellschaft) - Weitere Literatur: Adam Ferguson: Versuch
über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1986
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