Kants Religionsschrift (1795) |
Etwa um das Jahr 1792 beginnt Kant die natürliche Religion
und den christlichen Glauben „vor dem Gerichtshof der praktischen Vernunft zu
verhandeln.“ In kurzer Folge erscheinen „Über das radikal Böse in der
menschlichen Natur“ und, ein Jahr später, „Die Religion innerhalb der Grenzen
der bloßen Vernunft.“
Es ist vielfach behauptet worden, dass Kants
Religionsschrift ein Höhepunkt der europäischen Aufklärung ist. Das ist
richtig: „Keine andere Schrift zeigt so deutlich, worin ihr kritisches Geschäft
besteht. Mit seiner geistigen Kraft, seiner moralischen Gesinnung und seinem sokratisch geschulten Agnostizismus, dass Gottes Existenz weder zu
beweisen noch zu widerlegen ist, wendet sich Kant der christlichen
Glaubenslehre zu.“
Dabei bedient sich Kant jenes Bildes der Grenze unserer
Erkenntnisfähigkeit, das ihm bereits in der Auseinandersetzung mit dem Geisterseher Swedenborg und in der Kritik der reinen Vernunft
zur Klärung des Verstandesgebrauchs gedient hat.“
Nun will er die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen
Vernunft philosophisch untersuchen. Dabei geht es ihm nicht darum, die Religion
„aus bloßer Vernunft (also ohne Offenbarung)“ abzuleiten. Kant will lediglich
das deutlich machen und philosophisch prüfen, „was im Text der für geoffenbart
geglaubten Religion, der Bibel, auch durch bloße Vernunft erkannt werden kann.“
Und genau das ist die „revolutionäre Kehre, die den
religionskritischen Diskurs der Moderne einleitet und gegen jeden denkbaren
Fundamentalismus profiliert. Die Heilige Schrift ist kein göttliches Dogma, dem
man bedingungslos zu folgen hat. Sie ist ein Text, der an den Maßstäben der
theoretischen und praktischen Vernunft gemessen werden kann.“
Auch die Heilige Schrift muss sich an den Maßstäben der theoretischen und praktischen Vernunft messen lassen! |
Vor diesem Hintergrund analysiert Kant die theologischen
Pfeiler wie die Lehre von der Erbsünde und die Erlösungsvorstellungen im
Christentum. Er untersucht weiterhin die Kirche als Glaubensinstitution und
schließlich die religiösen Rituale (wie Beten, Kirchgang, Opfern, Kasteien,
Wallfahrten), „die er mit dem provokanten, gesperrt gedruckten Grundsatz in ihre
Grenzen weist: „Alles, was, außer dem guten Lebenswandel, der Mensch noch tun
zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist bloßer Religionswahn
und Afterdienst Gottes.“
„Wo nicht Prinzipien der Sittlichkeit, sondern statutarische
Gebote, Glaubensregeln und Observanzen die Grundlage und das Wesentliche des
Glaubens ausmachen“, dort ist der Pfarrdienst ebenfalls nur ein „Fetischdienst.“
Kant lässt keinen Zweifel daran, dass seine kritischen
Religionsphilosophie und Moraltheologie im Dienst der Aufklärung steht: In der Vorrede
zur Ersten Auflage der „Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft“ plädiert
er noch einmal entschieden für den öffentlichen Vernunftgebrauch: „Der
Geistliche, der für das Seelenheil seiner Gemeindemitglieder zu sorgen hat, unterliegt
zwar kirchlichen Vorschriften, die er nicht verletzen darf. Aber als Gelehrter
und philosophierender Theologe, der vor einem Publikum von seinem wissenschaftlich
geschulten Verstand öffentlichen Gebrauch macht, muss er volle Freiheit haben.
Die Zensur darf keine Zerstörung auf dem Feld der Wissenschaften anrichten.“
Hier taucht wieder der zentrale Gedanke Kants auf, dass
nämlich die Moralität der Theologie vorangehen muss. Erst auf der Grundlage der
Moral kann sich dann der Glaube entwickeln, „der erst so zu einer echten Religiosität
führt, die nicht im ritualisierten Afterdienst erstarrt.“
Der Glauben muss auf der Moralität gründen! (Marx Chagall: Hiob in der Verzweiflung) |
An dieser Stelle findet sich Kants revolutionärer
Schiedsspruch zum Hiob-Problem: „Mit dieser Gesinnung bewies er, dass er nicht
seine Moralität auf dem Glauben, sondern den Glauben auf die Moralität
gründete: in welchem Falle dieser, so schwach er auch sein mag, doch allein
lauter und echter Art, d. i. von derjenigen Art ist, welche eine Religion,
nicht der Gunstbewerbung, sondern des guten Lebenswandels, gründet.“
Wenn dagegen die Religion der Moral vorhergeht, wird sie
immer nur eine herrschaftliche Position einnehmen und als ein Instrument der Staatsgewalt
unter Glaubensdespoten instrumentalisiert werden.
Die Reaktion des Staates ließ nicht lange auf sich warten. Vielleicht
hat der 70-jährige Kant den Konflikt mit der Zensur auch bewusst provoziert. „Schon
seit einiger Zeit ist ihm bewusst gewesen, dass das Berliner Religionstribunal
gegen seine Lehre alle Mittel einzusetzen bereit ist und ihm sogar das öffentliche
Schreiben verboten werden soll. Auch der König höchstpersönlich ist daran
interessiert, dass dem Treiben des Königsberger Philosophen ein Ende bereitet wird.
Einen letzten Anlass bietet Kants Aufsatz “Das Ende aller
Dinge“, der im Juni 1794 in der Berlinischen Monatsschrift erscheint. Nachdem
Kant zunächst dogmatische und mystische Lehren von den „letzten Dingen“ wie
Ewigkeit, Weltende, Jüngstes Gericht und ewige Ruhe ironisch aufgeklärt hat, „wendet
er sich am Schluss gegen die Torheiten des neuen religionspolitischen Kurses. Wenn
durch Autorität und Gebote das Christentum als Volksreligion durchgesetzt wird,
dann muss es seine „moralische Liebenswürdigkeit“ endgültig verlieren.
Das Preussische Zensuredikt (1788) |
In seinem Antwortschreiben, das er vier Jahre später in der
Vorrede zum „Streit der Fakultäten“ öffentlich machen wird, setzt sich Kant
selbstbewusst gegen die königliche Order zur Wehr. Er ist absolut nicht dazu
bereit, die Maxime der Aufklärung aufzugeben. Als Gelehrter unterwirft er sich
allein den Regeln der wissenschaftlichen Vernunft.
Nur ihnen ist er bei seiner kritischen Überprüfung der Religion gefolgt. Er hat durchaus „große Hochachtung für die biblische Glaubenslehre im Christentum“, aber nur, sofern diese Lehre mit dem reinsten moralischen Vernunftglauben zusammenstimmt und so „zur Gründung und Erhaltung einer wahrhaftig seelenbessernden Landesreligion“ taugt.
Nur ihnen ist er bei seiner kritischen Überprüfung der Religion gefolgt. Er hat durchaus „große Hochachtung für die biblische Glaubenslehre im Christentum“, aber nur, sofern diese Lehre mit dem reinsten moralischen Vernunftglauben zusammenstimmt und so „zur Gründung und Erhaltung einer wahrhaftig seelenbessernden Landesreligion“ taugt.
Für Kant ist bewiesen, dass Offenbarungen und historisch
überlieferte Beweisgründe nur "zufällig" sind und für eine aufrichtige und
ernsthafte Religiosität nicht wesentlich. „Denn nur aus der praktischen
Vernunft und ihren sittlichen Maximen kann Allgemeinheit, Einheit und Notwendigkeit
der Glaubenslehre hervorgehen, „die das Wesentliche einer Religion überhaupt
ausmachen, welches im Moralisch-Praktischen (dem, was wir tun sollen) besteht.“
Die Religion vor dem Gerichtshof der Vernunft verhandeln ... |
Wir können uns vorstellen, dass Kant der Begegnung mit Gott
in dieser Hinsicht gelassen entgegen sah. Allerdings sollte es noch einige
Jahre dauern, bis der Höchste Gelegenheit haben sollte, sich von Angesicht zu
Angesicht mit Kant über das Verhältnis von Glaube und Moral
auseinanderzusetzen.
Zitate aus: Manfred Geier: Kants Welt. Eine Biographie, Hamburg 2004 (Rowohlt)
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