„Die Geschichte der Utopie ist eine
Geschichte der Defizite und Missstände ihrer Herkunftsgesellschaften.“ Mit
diesem Satz leitet Thomas Schölderle seine „Geschichte der Utopien“ ein. Sein
Anliegen ist, die wichtigsten,
innovativsten und originellsten Entwürfe zu porträtieren und die gesamte
Denktradition der Utopien einer Systematisierung und Abgrenzung zu unterziehen.
Aufschlussreich ist bereits der Blick auf den
etymologischen Ursprung des Begriffs. Mit seiner Erzählung von der entlegenen
Insel „Utopia“ (1516) erschuf der englische Lordkanzler Thomas Morus nicht nur
ein neues Wort, sondern bereicherte auch zahllose Sprachen dieser Welt um die
Vokabel. Morus’ Wortschöpfung ist geformt aus zwei griechischen Vokabeln: „ou“
heißt „nicht“, „tópos“ ist der „Ort“. Utopia bedeutet also wörtlich so viel wie
Nichtort, Nirgendland oder Nirgendwo.
Aber im unmittelbaren Entstehungskontext der
Utopia tritt noch eine weitere Anspielung zutage: „Der Humanist Budaeus nutzt
in einem Begleitbrief zur Utopia das Wort „Udepotia“ (griech. „oudepote“ =
„niemals“) und verweist damit auf die Bedeutung von „Niemalsland“ – eine Assoziation,
die bemerkenswerterweise mit einer späteren und äußerst einschneidenden
Veränderung innerhalb der Utopiegeschichte korrespondiert, denn gegen Ende des
18. Jahrhunderts ersetzt Louis-Sébastien Mercier mit seiner Schrift „Das Jahr
2440“ erstmals die Dimension des Raumes durch die Dimension der Zeit. Fortan
wird die utopische Fiktion aus Sicht des Verfassers fast ausnahmslos in die
Zukunft projiziert.“
Thomas Morus (1478 - 1535) |
Seit dem 19. Jahrhundert wandert „Utopia“
dann langsam in die Alltagssprache ein. Allerdings ist Adjektiv „utopisch“
seither meist negativ besetzt. „Ein Plan, der utopisch ist, lässt sich nicht
realisieren; eine utopische Erwartung wird sich niemals erfüllen. Das Adjektiv
meint also so viel wie „unrealistisch“, „träumerisch“ oder „übersteigert“ und
bezeichnet insofern ein Denken oder Handeln, das zwangsläufig scheitern muss,
weil ein realitätsblinder Urheber die Voraussetzungen für eine Verwirklichung
verkennt.“
Darüber hinaus deutet die Verwendung des
Terminus an, dass Utopien in unzulässiger Weise wegführen vom Möglichen und
Nötigen. Diesem abwertend gemeinten Sinn zufolge besitzt der Begriff zumindest
tendenziell die Bedeutung von „Hirngespinst“, „Luftschloss“ oder
„Wolkenkuckucksheim“.
Mit dem negativen Sinn im Alltagsverständnis
korrespondiert seine Verwendung auf dem Feld politisch-ideologischer
Auseinandersetzungen. „Das Wort wurde und wird häufig als politischer
Kampfbegriff genutzt, um gegnerische Positionen als illusionär und
wirklichkeitsfremd zu titulieren.“ So machten sich vorwiegend die
Frühsozialisten gegenseitig die Utopie zum Vorwurf, die Marxisten wiederum klebten
den Frühsozialisten abschätzig das Etikett „utopisch“ an die Brust und werteten
deren Entwürfe als unwissenschaftliche „Phantasterei“. Die Konservativen
schließlich attackierten den gefährlichen „Utopismus“ der Marxisten. „Die
Utopie wurde zum Kampfterminus in der Arena politischer Auseinandersetzungen
und bis heute dient die Vokabel nicht selten der Warnung vor irrealen
Zielvorstellungen und Theorien.“
"Utopia" - Thomas Morus (Titel der Ausgabe von 1516) |
Betrachtet man nun die klassischen, vor allem
frühneuzeitlichen Utopien, so ist auffallend, dass sie zunächst fast allesamt
ein fiktives Gemeinwesen beschreiben, das auf eine Insel projiziert ist: „Abgesondert
von der Außenwelt, haben die utopischen Gesellschaften nur wenig Kontakt zu
anderen Völkern. Nach innen dominiert häufig eine geschlossene Gesellschafts-
oder Staatsordnung, während nach außen die Schutz- und Abwehrbereitschaft vor
weniger harmonischen Gesellschaften im Vordergrund steht.“
Ein weiteres Merkmal der Utopien, ist die
Tatsache, dass beschriebenen Gesellschaften auch so gut wie keinen sozialen
Wandel kennen. Sie sind statisch, ruhig und konfliktfrei – manchmal wird man
den Eindruck nicht los, dass es sich um eine Friedhofsruhe handelt. Weil keine
Kräfte und Einflüsse von außen wirken, fehlt auch jede gesellschaftliche
Dynamik.
Damit ist man Thomas Schölderle zufolge aber
sogleich bei der Frage nach ihrem Geltungsanspruch angelangt. Für ihn sind Utopien
sind in ihrer klassischen Ausprägung fast allesamt rationale
Gedankenexperimente, die in erster Linie der zeitgenössischen Gesellschaft den
Spiegel vorhalten:
„Die Funktion des Textes liegt in einem Anstoß zur
Reflektion über die Grundlagen der zeitgeschichtlichen Wirklichkeit. Mit dieser
Funktion deckt sich über die längste Zeit der Utopiegeschichte auch die
Intention der Utopisten. Sie beabsichtigen in den wenigsten Fällen einen Modellentwurf zur
maßstabsgetreuen Totalrevision der Gesellschaft. Der unmittelbare
Verwirklichungswille bleibt die seltene Ausnahme.“ Vielmehr gehe es den Utopien
darum, den Leser in eine alternative Welt mitzunehmen und diesen mit
geschärftem Blick in die Realität zurückkehren zu lassen.
Für Schölderle sind Utopien vorwiegend rationale
Fiktionen menschlicher Gemeinwesen, die in kritischer Absicht den herrschenden
Missständen gegenüber gestellt sind. Es sind „stets rational mögliche
Alternativen des menschlichen Zusammenlebens und tragen einen prinzipiell
politischen Charakter.“
Magische Wünsche dagegen, Märchen,
Traumassoziationen, Robinsonaden oder Schlaraffenland-Erzählungen – „all diesen
Fiktionen fehlt entweder das Merkmal der Sozialkritik oder es mangelt ihnen an
der innerweltlichen Möglichkeit des Anders-Sein-Könnens.“
So formuliert auch Morus´ Utopie Schölderle zufolge
kein politisches Aktionsprogramm. „Vielmehr ist sie als geistiger Entwurf
konzipiert, der sich ganz bewusst auf die Beförderung des politischen Diskurses
beschränkt.“
Utopie = Rationale Fiktionen? |
Abschließend beschreibt Schölderle, ausgehend
von Morus Utopia vier Kriterien des Utopiebegriffes: Form, Inhalt, Intention
und Funktion:
„1. Formal betrachtet ist die Utopia
konzipiert als eine kontrafaktische Fiktion, als universelle Beschreibung eines
imaginären Gemeinwesens, das in eine literarisch-narrative Rahmenhandlung
gekleidet ist. Sie verknüpft dabei zahlreiche literarische Formtypen und
Stilelemente wie die politische Reformschrift mit der Reiseerzählung, den
philosophischen Traktat mit der Satire, die Ironie mit der Dialogstruktur.
2. Auf inhaltlicher Ebene lassen sich dem
Entwurf als zentrale Strukturprinzipien entnehmen: Isolation, Statik, soziale
Harmonie und Gemeineigentum, Kollektivismus, Rationalität und
Nützlichkeitsdenken. Die Elemente repräsentieren freilich nicht den
Forderungskatalog des Autors, sondern verdichten sich lediglich zum materialen
Bild seiner Utopie. Gleichwohl können diese Merkmale als eine Art Abfrageraster
bei der Analyse späterer Utopieentwürfe dienen.
3. Morus’ Intention verbindet schließlich
Sozialkritik mit dem Anliegen, einen Anstoß zur Diskussion über die Grundlagen
des staatlichen Gemeinwesens zu leisten und qualifiziert sich damit zugleich
als normatives Politikanliegen.
4. Methodisch umgesetzt ist dieses Vorhaben
auf dem Wege eines gedankenexperimentellen Erkundens der Vernunft. Daraus
resultiert funktional betrachtet eine prinzipielle Relativierung des
Bestehenden, weil die existente Wirklichkeit zu einer möglichen unter vielen
herabgestuft wird.
Dennoch sollte man – bei aller wohlwollenden
Deutung utopischer Entwürfe – nicht die konkreten Wirkungen der utopischen
Werke in den Händen selbsternenannter Propheten vergessen. Neben der klassischen Version der Utopie, die ein eher heiter bis ernst gemeintes Gedankenexperiment war, ohne den Versuch, konkrete Handlungsanleitungen zu liefern, gibt es auch den utopischen Enwurf, der selbstverständlich als politisches Programm verstanden werden will, und von dem der Autor der Utopie in - mehr oder weniger - naher Zukunft eine radikale Umsetzung fordert bzw. auch erwartet.
Die Frage nach Verwirklichung der Utopie rückt sicherlich schon mit Platon in den Blick, in jedem Fall aber beginnt sie mit "The Law of Freedom" des Engländers Gerrard Winstanley (*1609), bei dem eine praktische Realisierungsintention seiner Utopie erstmals deutlich sichtbar wird. Sein Entwurf enthält bereits ansatzweise eine Transformationsstrategie, also einen möglichen Weg der Realisierung seines utopischen Modells – ein Element, das im Grunde erst für das utopische Denken im 19. Jahrhundert charakteristisch wird - mit allen unheilvollen Folgen für die Menschheit.
Die Frage nach Verwirklichung der Utopie rückt sicherlich schon mit Platon in den Blick, in jedem Fall aber beginnt sie mit "The Law of Freedom" des Engländers Gerrard Winstanley (*1609), bei dem eine praktische Realisierungsintention seiner Utopie erstmals deutlich sichtbar wird. Sein Entwurf enthält bereits ansatzweise eine Transformationsstrategie, also einen möglichen Weg der Realisierung seines utopischen Modells – ein Element, das im Grunde erst für das utopische Denken im 19. Jahrhundert charakteristisch wird - mit allen unheilvollen Folgen für die Menschheit.
Karl Raimund Popper (1902 - 1994) |
Nicht erst seit Karl Raimund Poppers
utopiekritischen Werken wissen wir, dass Utopien als geistige Vorwegnahme
späterer totalitärer Herrschaftsformen hinhalten mussten. Auch wenn man den Autoren
der Utopien eine solche Intention nicht unbedingt nachsagen kann, so muss doch
ebenso festgehalten werden, dass in allen konkret-historischen Realisierungsversuchen
der totalitäre Gehalt der Utopie sehr schnell sichtbar wurde.
So bleibt abschließend das Urteil Poppers als
Mahnung stehen, der zufolge mit der Utopie auch die Vernunft über Bord geworfen
und durch eine verzweifelte Hoffnung auf politische Wunder ersetzt werde. „Diese
irrationale Einstellung, die sich an Träumen von einer schönen Welt berauscht,
nenne ich Romantizismus. Dieser mag einen himmlischen Staat in der
Vergangenheit oder in der Zukunft suchen, aber er wendet sich immer an unsere
Gefühle, niemals an unsere Vernunft. Sogar mit der besten Absicht, den Himmel
auf der Erde einzurichten, vermag er diese Welt nur in eine Hölle zu verwandeln
– eine jener Höllen, die Menschen für ihre Mitmenschen bereiten.“
Zitate aus: Thomas Schölderle: Geschichte der Utopie. Eine Einführung, Wien 2012 (Böhlau Verlag) - Karl Raimund Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Tübingen 1992 (Mohr Siebeck), hier: S. 213ff
Sehr schön. Vielen Dank.
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