Donnerstag, 3. Februar 2022

Jürgen Habermas und die deliberative Demokratie (Teil 1)

Vernünftiger Konsens, aber auch machtvolle Konflikte, die lebhafte Debatte, das Ringen um die beste Lösung für ein politisches Problem, der friedliche Austausch von Argumenten und das Bemühen, den Anderen zu überzeugen, das alles sind Elemente einer weit verbreiteten Vorstellung von Demokratie. 

Sicher kann Demokratie nicht nur in Institutionen bestehen, denen die Bürger für eine bestimmte Zeit ein Mandat zur Machtausübung verleihen, aber ohne Institutionen geht es auch nicht. „Denn einen ursprünglichen politischen Willen des `Volkes´ gibt es nicht, und wo man sich auf ihn berufen hat, diente das eher der Rechtfertigung von Diktaturen. Individuen müssen, als private Personen, in ihren Grund- und Freiheitsrechten geschützt werden. Aber sie sind immer auch politische Bürgerinnen und Bürger, die in einer öffentlichen Arena handeln und diskutieren.“

Von dieser Prämisse aus lässt sich Demokratie daher vornehmlich als ein Prozess verstehen, in dem alle Beteiligten mit gleichen Chancen vernünftig über Fragen des Gemeinwohls argumentieren, mit dem Ziel möglichst breiter Übereinstimmung statt rascher Entscheidung durch Mehrheitsbildung, die eine Minderheit zum Verlierer macht. 

Jürgen Habermas (*1929)

Im Kern handelt es sich bei dieser „deliberativen“ Demokratie – also einer vernünftig argumentierenden, debattierenden, überlegenden Demokratie - nicht so sehr um einen konkreten Typus politischer Herrschaft und auch nicht um eine neue Variante demokratischer Praxis neben der repräsentativen oder der direkten Demokratie. „Vielmehr geht es um ein eher abstraktes Konzept, mit dem Philosophen und Sozialwissenschaftler die Demokratie dem Grunde nach definieren wollen, nicht zuletzt im normativen Sinne des Wünschbaren: Gut und überzeugend wäre eine Demokratie dann, wenn sie sich dem deliberativen Ideal möglichst weitgehend annähert.“ 

Neben dem amerikanischen Sozialphilosophen John Rawls wurde das Modell der deliberativen Demokratie in der politischen Theorie und Philosophie Europas und Amerikas in den letzten 30 Jahren vor allem von Jürgen Habermas vertreten.

„Der 1929 geborene Philosoph und Soziologe hat in seinem 1992 erschienenen Buch ´Faktizität und Geltung´ eine Theorie der Demokratie und des Rechtsstaats ausgearbeitet, die seither viel diskutiert worden ist. Aber schon in viel früheren Arbeiten hat Habermas über die Bedingungen und Formen politischer Teilhabe nachgedacht. So hob er bereits 1962 die Bedeutung einer freien, weder von politischer Macht noch von kapitalistischen Marktinteressen gesteuerten Öffentlichkeit hervor. Was die Aufklärung im 18. Jahrhundert ermöglicht hatte, geriet später unter den Druck von Bürokratie, Kapitalismus und Massenmedien. Seitdem trieb ihn die Frage um, wie Menschen sich in modernen Gesellschaften frei verständigen, wie sie ungezwungen miteinander kommunizieren können.“ 

Die Antwort auf diese Frage formuliert Habermas in einem Hauptwerk von 1981, der `Theorie des kommunikativen Handelns´. Einerseits sah Habermas auf einer grundlegenden Ebene die Vernunft, nach der das Projekt der Moderne seit der Aufklärung strebte, in der Praxis des Kommunizierens, des Miteinander-Sprechens, realisiert: „Wo Menschen sich sprechend aufeinander einlassen, müssen sie sich `guter Gründe´ bedienen, die das Gegenüber überzeugen (statt überreden oder bezwingen) können. Dafür müssen sie den eigenen Standpunkt verlassen, sich auf den Anderen und vor allem auf solche Argumente einlassen, die allgemeine Zustimmung finden können.“

Habermas versteht damit nicht die unkritische Anwendung des Mehrheitsprinzips. „Am Ende des kommunikativen Prozesses steht die Einigung auf diejenige Position, die im Säurebad der Argumente als die für alle vernünftige übriggeblieben ist.“ Das Problem sieht Habermas darin, dass eine solche freie Verständigung jedoch in den mächtigen, anonymen Systemen der Moderne keinen Platz finden konnte, weder in dem von Macht geprägten bürokratischen Staat, noch in der vom Geld gesteuerten kapitalistischen Ökonomie. 

Kommunikatives Handeln: Die Praxis des Miteinander-Sprechens

Andererseits konnten sich auf einer sozialen Ebene freie Verständigungs-verhältnisse, die dem Staat und der Wirtschaft vorgelagert waren, in einer freien Lebenswelt etablieren, im privaten Leben, aber auch in der Öffentlichkeit, und in der `Zivilgesellschaft´, ein Konzept, auf das Habermas seit Anfang der 90er Jahre zunehmend zurückgriff.

Damit schlug Habermas zugleich „eine Brücke zwischen der freien und vernünf-tigen Verständigung einerseits – dem `Diskurs´ – und der demokratischen politischen Ordnung des Staates auf der anderen Seite. Das Miteinanderreden eroberte die Sphäre der Politik; Demokratie konnte als ein Prozess der Kommunikation gedacht werden, in dem sich Bürgerinnen und Bürger begegnen, Argumente austauschen und sich nach Abwägung aller Gründe auf die von allen für richtig gehaltene Lösung einigen.“

(Fortsetzung folgt)


Zitate aus: Paul Nolte: Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart, München 2012 (C.H. Beck)


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