Donnerstag, 24. März 2022

Herodot, Thukydides und die Begründung der abendländischen Geschichtsschreibung



Doppelherme: Thukydides (links) und Herodot (rechts)

Das kurze Vorwort Herodots zu seinen 9 Büchern zur Geschichte ist gleichsam die Gründungsurkunde der abendländischen Geschichtsschreibung. In nur vier Zeilen erklärt der Pater historiae, was ihn bewog, die Geschichte der Griechen und Barbaren, von Kroisos bis in seine eigene Zeit darzustellen:

„Des Herodot von Halikarnassos Darlegung der Erkundung (Historíe) ist diese, auf dass weder das von Menschen Geschehene (Genómena) durch die Wirkung der Zeit verblasse noch die großen und staunenswerten Werke (Érga), ob sie nun von Hellenen, ob von Barbaren aufgewiesen wurden, ohne Kunde würden; das andere, und insbesondere, aus welcher Verschuldung (Aitía) sie miteinander Kriege geführt haben.“

Der zentrale Begriff in der Einleitung ist Historíe. Bei Herodot bedeutet er „Erkundung“ i.S. dessen, was Herodot antreibt, also ein Wissenwollen und Fragen, bevor daraus dann Kenntnis und Erkenntnis erwachsen. Für das, was seine Nachfolger mit dem einen Wort „Geschichte“ sagen werden, verwendet Herodot noch zwei Wörter: Apódexis historíes, d.h. „Darlegung der Erkundung.“

Herodot möchte gleichermaßen verhindern, dass das Geschehene im Laufe der Zeit verschwindet und die großen Taten, also das, was sie getan, aber auch erdacht und ersonnen haben, ohne den verdienten Ruhm bleiben. „So begreift sich Herodot als Wahrer des Gedächtnisses, dessen Amt es ist, dem Vergessen entgegenzutreten.“

Herodot - Statue vor dem Wiener Parlament

Herodot ist kein kleingeistiger oder gar „nationalistischer“ Geschichtsschreiber, Barbaren wie Griechen stehen einander in ihren Leistungen nicht nach. Besonders interessieren Herodot die großen Auseinandersetzungen und Kriege zwischen Griechen und Persern, insbesondere deren Aitía – „Veranlassung“ oder „Gründen“.

Thukydides stellt sich - in dritter Person - und seinen Heimatort ebenfalls im ersten Satz des Werkes vor:

„Thukydides aus Athen hat den Krieg zwischen den Peloponnesiern und Athenern beschrieben, wie sie ihn gegeneinander geführt haben; er hat damit gleich bei seinem Ausbruch begonnen in der Erwartung, er werde bedeutend sein und denk-würdiger als alle vorangegangenen. Er schloß dies daraus, daß beide Konflikt-parteien in jeder Hinsicht auf dem Höhepunkt ihrer Macht in den Krieg traten, und weil er sah, daß sich das übrige Hellas jeweils einem der beiden Gegner anschloß, teils sofort, teils nach einigem Überlegen. Denn dies war die gewaltigste Erschütterung für die Hellenen und einen Teil der Barbaren, ja sozusagen für den größten Teil der Menschheit. Was sich nämlich davor und noch früher ereignet hatte, war wegen der Länge der Zeit zwar unmöglich zu erforschen, auf Grund von Anzeichen aber, von deren Richtigkeit ich mich bei der Prüfung eines langen Zeitraumes überzeugen konnte, bin ich der Meinung, daß es nicht bedeutend war, weder in Kriegen noch sonst.“ 

Auch für Thukydides sind große Taten sind erinnerungswürdig. In seinem Werk über den Peloponnesischen Krieg schlägt Thukydides in den Kapiteln der sog. Archäologie, die der Einleitung folgen, einen großen Bogen über die griechische Frühzeit, die Zeit der Wanderungen und Tyrannen bis zur Ankunft der Perser, um schließlich wieder zu seinem Ausgangspunkt zu kommen, der Hochrüstung der Kriegsgegner Sparta und Athen und dem Ausbruch des Krieges. 

Im Gegensatz zu den Epen Homers, bei denen der Dichter auch das Unglaubwürdige und Sagenhafte „in hymnischem Glanz überhöhte“ und anschließend die Menschen alles ungeprüft übernähmen, glaubt Thukydides ein System von Paradeígmata (Beweisen), Semeîa (Zeichen) und Tekméria (Indizien) entwickelt zu haben, mit dem sich zumindest der Lauf der Geschichte als sicher erweisen lässt. So versucht Thukydides, mit historischen Analogien, archäolo-gischen und topographischen Zeugnissen oder einfachen rationalen Überlegungen aus dem Mythos das herauszuschälen, was historischen Bestand hat. 

Explizit nennt Thukydides den Grund, der ihn veranlaßte, sich dem Krieg der Peloponnesier und der Athener zu widmen. „Wer aber klare Erkenntnis des Vergangenen erstrebt und damit auch des Künftigen, das wieder einmal nach der menschlichen Natur so oder ähnlich eintreten wird, der wird mein Werk für nützlich halten, und das soll mir genügen. Als ein Besitz für immer, nicht als Glanzstück für einmaliges Hören ist es aufgeschrieben.“ 

Thukydides setzt zwar voraus, daß der Mensch aus der Geschichte lernen kann, aber nicht in dem modernen Sinn, dass die Menschen in der Vergangenheit gemachte Fehler nicht wiederholen werden. Thukydides will keine Rezepte geben oder Vorschriften machen, er erwartet von seinen Lesern nur die Fähigkeit, die Gegenwart, ihre Gegenwart, mit der von ihm geschilderten Vergangenheit zu vergleichen, um eventuell auf Gemeinsames oder Ähnliches aufmerksam zu werden. 

Thukydides - Statue vor dem Wiener Parlament

„Daß das überhaupt möglich ist, liegt für ihn in der einzigen Konstante begründet, welche die Geschichte der Menschen besitzt, in der anthropeía phýsis oder dem anthrópinon, also der menschlichen Natur.“ Weil sie auch über größere Zeiträume gleichbleibe, könnten Vergleiche zwischen verschiedenen Abschnitten der Geschichte angestellt werden, um so ein Lernen aus der Geschichte zu ermög-lichen.

Am Beispiel der Darstellung der Pest in Athen zu Beginn des Peloponnesischen Krieges wird deutlich, wie Thukydides sein Werk verstehen möchte: „Es möge nun jeder, Arzt oder Laie, über sie seine Meinung sagen, woher sie wahrscheinlich ihren Ursprung genommen hat und welche Krankheitskeime die Kraft zu so tiefgreifenden Veränderungen bergen; ich will nur beschreiben, wie sie verlief; die Merkmale, bei deren Beachtung man die Krankheit bei einem neuerlichen Auftreten sicher erkennen könnte, wenn man schon etwas von ihr weiß, die will ich darstellen, der ich selbst krank war und andere leiden sah.“

Thukydides weist also alles, was nicht auf Anschauung beruht, als Spekulation zurück. „Er selbst will einzig das niederschreiben, was er mit eigenen Augen sah. Er tut das, weil er späteren Generationen die Möglichkeiten geben will, Vergangenes zu erkennen, so es sich wiederholt. Was für die Pestsequenz gilt, gilt aber auch für das Gesamtwerk, nämlich darzustellen, `was wieder einmal nach der menschlichen Natur so oder ähnlich eintreten wird´. Das ermöglicht Wieder-erkennen und sogar begrenzte Voraussage, aber kaum Heilung.“


Zitate aus: Wolfgang Will: Herodot und Thukydides. Die Geburt der Geschichte, München 2015 (C.H. Beck)



Donnerstag, 17. März 2022

Jason D. Hill und die kulturelle Apartheid


Jason D. Hill (*1965) ist ein jamaikanisch-amerikanischer Philosophieprofessor an der DePaul-Universität in Chicago. In seinem Buch „We Have Overcome: An Immigrant’s Letter to the American People“ verteidigt er gegen den identitäts-bewegten politischen Diskurs den „amerikanischen Traum”. Die USA sei schon lange kein Land mehr, das die Überlegenheit von Weißen propagiere. „Es gibt keine offizielle Ideologie mehr, die die Überlegenheit der weißen Rasse vertritt.“

Jason D. Hill (* 1965)

Hill lebt seit 32 Jahren in den USA. Da er gemischter Abstammung ist, wird er in den USA als Schwarzer wahrgenommen, „und wie jeder in den USA lebende Farbige habe auch ich genug Rassismus erfahren. Aber ich sehe die USA nicht als hochgradig intolerantes Land an. Ich halte die USA vielmehr für ein außerordentlich selbstreflexives Land. In den drei Jahrzehnten, in den ich hier lebe, habe ich ein Amerika erlebt, das seine Beziehungen zwischen den Ethnien beachtlich verbessert hat. 

Darüber hinaus bin ich, auch wenn ich Rassismus erfahren habe, kein Opfer. Ich glaube nicht an diesen Kult, der um die Opferrolle betrieben wird und auf dem so viele herumzureiten scheinen. Wenn man auf Rassismus trifft, setzt man sich mit ihm auseinander, spricht ihn an und macht dann weiter. Die Opferrolle für sich als Identität zu übernehmen ist gefährlich, weil es die eigene Handlungsfähigkeit und das eigene Vermögen einschränkt, seine verfügbaren Ressourcen zu nutzen, um mit diesem Problem umzugehen.“ 

Die immer noch tradierte Vorstellung „von den hilflosen Schwarzen“ sei fatal, „weil sie in den Köpfen der Mehrheitsgesellschaft den Eindruck hinterlässt, dass Schwarze die Mündel des Staates seien und es ihnen nie gelungen sei, ihre Fähigkeiten zu nutzen, um sich selbst aus unterdrückerischen Lebenslagen zu befreien.“

Hinter dieser Sicht steht nach Hill ein Verständnis eines identitären Multi-kulturalismus, der das Individuum auf gruppenspezifische Merkmale reduziert und es damit in seiner Selbstbestimmung einschränkt. 

So basiere Identitätspolitik „auf einer Logik der Anti-Assimilation, die, wie ich meine, wiederum auf einer Logik der `Ansteckungsgefahr´ basiert. Die multi-kulturelle Weltsicht basiert auf der essentialistischen Idee, wonach wir eine bestimmte ethnische und kulturelle Identität besitzen, Teil einer monolithischen Gruppe sind und eine Identität mit uns herumtragen, die sich ohne Abstriche auf unsere Herkunft zurückführen lässt.“

Polygenismus, oder: Der unveränderliche
ethnische bzw. kulturelle Wesenskern in uns

Dies entspräche einer Art „Polygenismus, demzufolge wir alle einen unveränderlichen ethnischen oder kulturellen Wesenskern in uns tragen, der sich auf unsere Ursprünge zurückführen lässt. Und die Interaktion mit unseren Mitmenschen, die Art und Weise, wie wir mit unseren Mitbürgern sozialisiert werden, können demnach in keiner Weise diese Grundstruktur, diesen Ursprungshintergrund verändern.“

Dies sei in den Augen von Hill nicht nur empirisch falsch. Menschen sind vielmehr „ein Gemisch aus verschiedenen Subkulturen und Gruppen. (…) Das macht sie zu heterogenen Individuen und kulturell gesehen weniger authentisch, zum Beispiel weniger karibisch.“

Genau damit aber haben die Anhänger des Multikulturalismus ihre Schwierigkeiten, weil sie die Menschen als „komplett ursprüngliche, klar unterscheidbare Mitglieder einer Gruppe“ begreifen. Selbst jenen, die sich in der Gesellschaft und ihrer Kultur zurechtgefunden haben, rufen sie zu, dass sie sich die ethnischen und kulturellen Vorgaben, die ihr Sein bestimmen, zu halten haben, denn bei einem Abweichen würde man „die eigene Authentizität und die Autonomie als ethnisches Subjekt“ verlieren.

Für Hill ist diese Haltung eine Form der „kulturellen Apartheid“: „Sie ist unhaltbar und geht in die Irre; sie verhindert, dass sich bei den Menschen ein kosmopolitisches Moment einstellt, in dem wir frei sind, einen Teil unserer Sozialisation unseren Mitmenschen in die Hände zu legen und zu etwas anderem werden, als wir ursprünglich waren.“ Die Anhänger aber des identitären Multikulturalismus favorisieren Gruppen und stellen die Vergangenheit über die Zukunft. Sie können eine auch nur partielle Umwandlung der bzw. Abkehr von den eigenen Wurzeln nicht ertragen, „weil sie kulturelle und ethnische Monisten sind.“

Die große Gefahr derartiger kultureller Apartheid liege Hill zufolge darin, dass Menschen Angst vor dem kritischen Austausch mit anderen Menschen haben, weil dadurch vielleicht ihre Geschichte und ihre Lebensweise beeinflusst werden könnten, d.h. „ihre eigene nationale, ethnische und kulturelle Identität in Frage gestellt wird, die sie für den unveränderlichen Wesenskern ihrer Identität halten.“

Kutlurelle Apartheid - Immer schön auf die anderen zeigen ...

Hill dagegen ist der Ansicht, „dass wir Individuen sind und wir für uns selbst eine Vorstellung unseres Lebens erschaffen müssen und darüber hinaus eine Vorstellung für unser Leben, die wir in die Welt hinaustragen wollen.“

Das habe aber mit einem atomistischen Menschenbild wenig zu tun, das dem Liberalismus stets vorgeworfen werde. „Ich kenne nicht einen Liberalen, der beim Individuum an Selbstverwirklichung auf einer einsamen Insel denkt. Wir entwickeln uns zusammen mit anderen, mit Fremden, mit unseren Mitbürgern, Freunden und Angehörigen. In dem Sinne bin ich ein Intersubjektivist. Ich denke, dass dieses waghalsige Unter-nehmen zusammen mit anderen Menschen angegangen werden muss. Manchmal geht man es mit Menschen an, deren Werte man teilt, und manchmal mit Menschen, mit denen man wenig gemein hat. 

Auf unserer Reise aber schreiben wir unser Drehbuch immer wieder selbst. Und das halte ich für das kosmopolitische Moment. Im Laufe dieses Prozesses sind wir gezwungen, eine gemeinsame Sprache und ein gemeinsames Vokabular zu finden, das uns auf unserer Reise hilft. Man mag die Reise mit anderen angetreten sein, aber die Verantwortung dafür hat man selbst in der Hand. Man kann diese Verantwortung an keinen anderen abtreten. Ich käme nie auch nur auf die Idee zu sagen, jemand anderes sei für mein Leben verantwortlich. Die Entscheidungen, die ich treffe, sind einzig und allein meine eigenen.“

Damit setzt Hill der identitären Denkweise – seien es nun rechte Ethnopluralisten oder fundamentalistische Islamisten - das Bekenntnis zum Universalismus der Aufklärung entgegen. Die Probleme der Welt lassen sich schon längst nicht mehr auf der Ebene einzelner Nationen lösen. Im Partikularismus aber drohe die Gefahr einer negativen Aufhebung der Aufklärung. 

„Das Projekt eines selbstreflexiven Fortschritts darf nicht aufgegeben werden. Dabei meine ich keine naive Hymne auf den Westen und die technologische Entwicklung. Die Mahnung, die destruktiven Seiten der hochtechnisierten Zivilisation nicht aus den Augen zu verlieren, gilt heute schon aus ökologischer Perspektive mehr denn je. 

Aber die notwendige Kritik von Universalismus und Aufklärung kann nicht heißen, in Stammesstrukturen und magisches Denken zurückzukehren. Es wird kein einfaches „Zurück“ geben, vor allem nicht zu Identitäten, die so ohnehin nie existiert haben.“


Zitate aus: Johannes Richardt (Hg.): Die sortierte Gesellschaft. Zur Kritik der Identitätspolitik, Frankfurt 2018


Donnerstag, 10. März 2022

Paul Nolte und die multiple Demokratie

Demokratie ist aktuell wie kaum zuvor – und wirft wie nie zuvor Fragen auf. In seinem Buch „Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart“ verknüpft Paul Nolte die historischen Perspektiven und grundsätzlichen Fragen mit den aktuellen Problemen und zeigt auf, dass die Geschichte der Demokratie nie nur von Wachstum, Fortschritt und Erfüllung handelte. Sie war immer zugleich eine krisenhafte Suche nach der Auflösung von Konflikten und Widersprüchen. 

Während sich manche Etappen in der Geschichte der Demokratie klar benennen ließen – beispielsweise beim Wandel von Regierungsformen oder auch mit Blick auf die Ausweitung politischer Rechte der Bürger (Abschaffung eines Wahlzensus, Einführung des Frauenstimmrechts), so gibt es seit den 70er Jahren zunehmend Demokratisierungsprozesse, die nicht gradlinig verlaufen, sondern in denen viele verschiedene, auseinanderlaufende und sich überkreuzende Wege eingeschlagen werden, deren Ziele mithin unsicher geworden sind. 

Zivilgesellschaft

Dennoch, trotz Vielfalt und zuweilen auch Unübersichtlichkeit des jüngsten demokratischen Wandels, die „Entdeckung der `Zivilgesellschaft´ hat den scheinbar saturierten westlichen Demokratien Impulse aus dem spätkommu-nistischen Osteuropa vermittelt – und umgekehrt die westliche Protest- und Bürgerdemokratie dort als subversive Kraft etabliert.“

Zwar hinke die europäische Einigung mit ihren Institutionen dem Muster einer nationalstaatlichen Demokratie hinterher, wirke aber gleichzeitig als mächtige Triebkraft im Ausbau von Grundrechten, für bürgerliche Freiheitsrechte gegenüber dem Staat und für die justizielle Demokratie. „Die neue Rolle des Konsumbürgers ist nicht auf die ökonomische Sphäre des privaten Verbrauchs begrenzt, sondern hat die gesamte Existenz des politischen Bürgers neu eingefärbt, der seine politischen Ansprüche viel mehr als früher aus der persönlichen Lebenswelt und privaten Lebensführung definiert.“

Auch die deliberative Demokratie sei  nicht nur ein theoretisches Konzept, „viel-mehr finden sich wichtige Spuren ihrer Praxis in neuen Formen der außerparlamentarischen Aushandlung und Konsensbildung, an `Runden Tischen´, in Schlichtungs- oder Mediationsverfahren.

„Über einen Kamm scheren lassen sich die verschiedenen Trends jedoch nicht ohne weiteres. Sie laufen öfters parallel oder konkurrieren miteinander. Engagierte Bürgerinnen und Bürger kämpfen für mehr direkte Demokratie in Volksinitiativen und Abstimmungen; viele andere halten das nicht für die Arena, in der sich demokratische Zukunft überwiegend entscheidet. Internet-Aktivismus und «face-to-face»-Politik können sich gegenseitig befeuern, aber auch in Konkurrenz zueinander treten; von der Ambivalenz des Internets als Freiheitstechnologie zu schweigen.“

Das Besondere an dieser Entwicklung all dieser Facetten der „neuen“ Demokratie ist sicherlich ihr Verhältnis zu den Regeln und Institutionen des repräsentativen Systems und der verfassungsmäßigen Demokratie. „Die neuen Trends haben sich zu einem erheblichen Teil informell herausgebildet, sie spiegeln soziale und kulturelle Veränderungen und neue politische Praxisformen, ohne in der Verfassung verankert zu sein. Möglicherweise lässt sich das nachholen, und man könnte sich ein Grundgesetz vorstellen, das zivilgesellschaftlichen Aktivismus, NGOs oder neue Institutionen der außerparlamentarischen und außergerichtlichen Konflikt-regulierung ausdrücklich in seine Artikel aufnimmt. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass Verfassungsdemokratie und außerkonstitutionelle Demokratie nebeneinander bestehen bleiben, so wie das auch für die Europäische Union gilt.“

Partizipation und Mitsprache

Gleichwohl aber werde die klassische Demokratie der individuellen Freiheitsrechte, der Gewaltenteilung und des parlamentarischen Regierungssystems durch die neuen Entwicklungen keinesfalls abgelöst, denn wo es noch keine Demokratie gibt - in Diktaturen oder in autoritären Regimen -, steht ihre Etablierung ganz oben auf der Wunschliste der Menschen. Eine der klassischen Demokratie überlegene Form der Sicherung von Grundrechten, Rechtsstaatlichkeit und legitimer Regierung auf Zeit ist bisher jedenfalls noch nicht gefunden worden.

„Angesichts postmoderner Auflösung von Hierarchien und Zentren, angesichts der kulturellen Prägekraft digitaler Netzwerkarchitekturen mag es umstritten sein, noch von einem Zentrum oder Fundament der Demokratie zu sprechen. Aber anders wird man der fortwirkenden Bedeutung des demokratischen Verfassungsstaates, wie er sich spätestens in der Mitte des 20. Jahrhunderts in Westeuropa und Nordamerika etabliert hatte, kaum gerecht.

Ein freies Wahlregime und Grundrechte stehen im Mittelpunkt der `eingebetteten Demokratie´, die ohne die sie umgebende Zivilgesellschaft ärmer wäre – umgekehrt macht die Zivilgesellschaft aber noch keinen demokratischen Staat. Auch sollte man nicht vergessen, dass schon die klassische Demokratie (…) in ein zivilgesellschaftliches Leben eingebettet war und sich aus ihm speiste: mit Vereinen und Verbänden, Parteien und wohltätigen Organisationen, die bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts florierten.“

Während aber in der klassischen Theorie der liberalen, pluralistischen Demokratie die Vereine, Parteien, Verbände Als `intermediäre Institutionen´ zwischen dem Individuum und dem Staat standen, und auf diese Weise eine Sicherung gegen die unmittelbare Vereinnahmung der Individuen durch einen alles umgreifenden Staat bildeten, wird die Zivilgesellschaft heute eher als eine „Veranstaltung vergemein-schafteter Individuen gegenüber dem Staat, als Kontrollinstanz und Stachel in dessen Fleisch“ verstanden. 

In diesem Sinn sei der demokratische Staat weniger ein unmittelbarer Ausdruck der pluralistischen Gesellschaft, sondern vielmehr ihr Gegenüber, „in zugespitzter Sichtweise und Kritik auch: eine schon nicht mehr demokratische Herrschafts-ordnung, die durch den gesellschaftlichen Protest `radikaler Demokratie´ ständig herausgefordert werden muss, um Freiheitsspielräume noch zu wahren. In der neueren linken Theorie spricht man sogar von `insurgent democracy´, von einer rebellischen oder aufständischen Demokratie, mit der sich Bürgerinnen und Bürger gegen einen Staat wehren, der selber durch den neoliberalen Kapitalismus seines demokratischen Gehalts beraubt sei.“

Radikale Demokratie

Die Politikwissenschaft bietet mittlerweile eine Vielzahl von Begriffen und Konzepten für die neuen Entwicklungen an, von denen sich aber noch keiner recht durchgesetzt hat. Zu den etablierteren Termini gehört sicherlich der Begriff der `partizipatorischen Demokratie´, „der auf die vielfältigen Formen des unmittel-baren Bürgerengagements und der politischen Teilhabe an der Basis abhebt, jenseits der klassischen Rolle des Wahlbürgers.“ Ging man etwa in den 70er Jahren davon aus, „dass nach der erreichten politischen Demokratie dasselbe formale Prinzip nun in andere Lebensbereiche – die Wirtschaft, die Bildung, die Religion, die Familie usw. – getragen werden müsse“, geht es heute „weniger um die `Demokratisierung aller Lebensbereiche´, sondern um die `Demokratisierung der Demokratie´ (Claus Offe).“ Der amerikanische Politikwissenschaftler Benjamin Barber hatte im Zusammenhang mit den Formen einer par partizipatorischen Politik schon 1984 von einer `starken Demokratie´ gesprochen. 

Wenn also heutzutage nicht mehr ein „Aggregatzustand der Demokratie“ von einem anderen abgelöst wird,  sondern Vielfalt und Überlagerungen von klassischer und neuer Demokratie die Wende zum 21. Jahrhundert bestimmen, könnte man mit Nolte durchaus von einer `multiplen Demokratie´ sprechen.

Wenn man berücksichtigt, dass sich Demokratie immer dreifach verstehen lässt – „als Erfüllung von Erwartungen, als Suche nach neuen Möglichkeiten und als Krise in politischer Realität und Selbstreflexion“ - dann stünden die neuesten Entwick-lungen am ehesten unter der Überschrift einer Suchbewegung, eines Experimentierens mit unsicherem Ausgang. 

Die „großen Erwartungen“ mögen noch nicht überall auf der Welt – wenn auch innerhalb der westlichen Länder – erfüllt sind, aber die „große Krise“ des frühen und mittleren 20. Jahrhunderts scheint überwunden, auch wenn manche Intellektuelle heute wieder „den Stern der Demokratie sinken sehen“. Aber trotz manchen Missbehagens und lebhafter Kritik spiegelt sich dies sicher nicht in den Einstellungen einer breiten Bevölkerung der demokratischen Länder wider. „Die Suche aber geht weiter.“


Zitate aus: Zitate aus: Paul Nolte: Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart, München 2012 (C.H. Beck)


Donnerstag, 3. März 2022

Frank Furedi und die verborgene Geschichte der Identitätspolitik (Teil 2)


Fortsetzung vom 24.02.2022

Auf den ersten Blick erscheint Identitätspolitik (engl. identity politics) sympathisch. Laut gängiger Definition hilft sie marginalisierten Gruppen, negative Fremdzu-schreibungen der Mehrheitsgesellschaft zurückzuweisen und ihnen eine positive Selbstbestimmung entgegenzusetzen. Die Anliegen von Gruppen, z.B. Farbige, Homosexuelle oder Frauen, die sich diskriminiert fühlen, sollen für den Rest der Gesellschaft hörbar und sichtbar gemacht werden. Es geht darum, Anerkennung und Respekt für ihr spezifisches Anderssein einzufordern. 

Die in dem von Johannes Richardt herausgegebenen Sammelband „Die sortierte Gesellschaft“ versammelten Autoren sind jedoch skeptisch gegenüber dieser Auffassung. Der Sammelband ruckt die Schwächen des Konzepts in den Fokus, übt Kritik und bezieht klar Position gegen Identitätspolitik. 

Denn unabhängig von der persönlichen politischen Orientierung gibt es gute Gründe, ein Denken abzulehnen, „das kulturelle Fragen politisiert und gleichzeitig politische Fragen kulturalisiert. Ein Denken, das Menschen anhand gruppen-spezifischer Merkmale in Schubladen einsortiert und so nicht nur zwischen-menschliche Solidarität, sondern auch substanzielle politische Debatten erschwert.“

Frank Furedi gibt in seinem Beitrag einen Überblick über die „verborgene Geschichte der Identitätspolitik“, deren Verlauf er in vier Phasen einteilt. 

Eine der folgenreichsten Entwicklungen in der Geschichte der Identitätspolitik, so Furedi, war ihr Verschmelzen mit der Strategie der Viktimisierung der eigenen Gruppe. So veränderte sich in den 1970er Jahren das Verständnis davon, wie man zum „Opfer“ wird (Viktimisierung). 

Die Erziehungswissenschaftlerin DiAngelo behauptet: Wer nicht Schwarz/PoC ist, ist unvermeidlich ein Rassist aufgrund seiner privilegierten Geburt!"

Wurden anfänglich Menschen als Opfer beschrieben, wenn sie eine spezifische Erfahrung – zum Beispiel als Opfer von Gewalttaten - gemacht hatten, weitete sich in den 1970er Jahren das Verständnis der Viktimisierung auf kollektive Gruppenerfahrungen aus. Nun ging es nicht mehr um eine individuell erlittene Schädigung als Voraussetzung dafür, als Opfer angesehen zu werden. „Stattdessen wurde der Opfer-Status als integraler Bestandteil einer ungerechten Gesellschaft angesehen. Durch die Neudefinition und Ausweitung der Opfererfahrung erklärten verschiedene Gruppen den Status als Opfer der Gesellschaft zu einem Kern-bestandteil ihrer Identität.“

Die Auffassung, dass nahezu jeder außerhalb der herrschenden Elite ein potentielles Opfer ist, suggeriert, dass Viktimisierung nicht eine Ausnahme, sondern die Regel in der existentiellen Realität unserer Gesellschaften darstellt. „Ein alles durchdringendes Gefühl von Viktimisierung bildet wohl die bedeutendste kulturelle Hinterlassenschaft dieser Ära.“ 

Interessanterweise wurde die „Autorität des Opfers“ und der „Legitimität des Opferstatus“ gleichermaßen von Aktivisten des rechten und des linken Spektrums verteidigt. "Die Opferrolle wurde so zur wichtigen kulturelle Quelle für Identitätskonstruktion. Zeitweise schien es, als wolle jeder das Opfer-Label für sich beanspruchen. Konkurrierende Opferrollen führten schnell zu Versuchen, Opfer zu hierarchisieren.“

Die Darstellung des Opfers als schuldlos – der Beginn der letzten Phase der Geschichte der Identitätspolitik - war die Schlüsselinnovation bei der Konstruktion der Opferrolle ab den 70er Jahren. „Die Wahrnehmung des `schuldlosen Opfers´ stattete selbsternannte Opfer mit moralischer Autorität aus. In der Folge wurde die Opferidentität beinahe zur heiligen Kuh.“

„Opfer“ wurde zunehmend als moralischer Begriff verwendet. „Ein Opfer zu sein impliziert einen gewissen Grad an Unschuld und Schuldlosigkeit, wodurch das Opfer nicht für sein Schicksal verantwortlich gemacht werden kann“ und „Fürsprecher der Opferkultur behaupteten nicht nur, dass Opfer keine Verantwortung trügen, sondern auch, dass ihnen geglaubt werden müsse.“

Die Wahrnehmung des `schuldlosen Opfers´
stattete selbsternannte Opfer mit moralischer Autorität aus.

„In den letzten Jahrzehnten wurde das Dogma „Glaubt dem Opfer“ derart institutionalisiert, dass - gegen jede liberale und aufklärerische Rechtstradition – die eines Verbrechens Beschuldigten solange als schuldig gelten, bis sie ihre Unschuld bewiesen haben. So gehe es heutzutage eher darum, vor Gericht festzustellen, ob das „Opfer“ sich viktimisiert fühlt und nicht darum, ob eine tatsächliche Handlungsabsicht des Beschuldigten vorliegt.

All dies führt zu einer bis heute wirkmächtigen psychologischen Wende in der Identitätspolitik. „Opferschaft hat die Identitätspolitik mit moralischer Autorität versehen. (…) Die Behauptung von der Schuldlosigkeit der Opfer sollte nun verhindern, dass die Realitätssicht einer bestimmten Identitätsgruppe hinterfragt oder diskutiert wird.“

In dieser Sichtweise verleiht Identität das Patent darauf, sich exklusiv zu Angelegenheiten äußern zu dürfen, die eine bestimmte – meist die eigene - Kultur betreffen. So können auch nur diejenigen, die sich einer Kultur zugehörig fühlen, diese überhaupt verstehen. 

So haben sich mittlerweile auf Kultur und Identität bezogene Grenzen verfestigt und „werden nun intensiv kontrolliert. Wer das Monopol der kulturellen Ingenieure über das Verständnis ihrer Identität in Frage zu stellen droht, stößt oft auf ein „Zutritt verboten“-Schild. Wer es trotzdem wagt, in einen abgegrenzten kulturellen Raum einzudringen, wird der ausbeuterischen kulturellen Aneignung (cultural appropiation) bezichtigt.“

Und vor allem: „Das Dem-Opfer-glauben-Dogma wurde zum Argument recycelt, um Diskussionen zu jeglichen Themen zu unterbinden, die Identitätsbewegte als anstößig empfinden. Von deren Standpunkt aus ist jede Kritik an identitäts-politischen Anliegen ein Kulturverbrechen (…) Das Ergebnis ist Zensur und Illiberalität. Deshalb ist es in der Gesellschaft, und vor allem an Universitäten, oft unmöglich, bestimmte Themen zu debattieren.“

Die zeitgenössischen Formen der Identitätspolitik verwenden Furedi zufolge viel Energie darauf, Anerkennung und Respekt einzufordern. Die Tendenz zur Fragmentierung und Individualisierung ist zugleich eines der wichtigsten Merkmale der aktuellen Identitätspolitik. „Ein deutlicher Trend geht dahin, dass Identitätsgruppen ausufern und sich separieren. Überdies will jeder ein Stück vom Kuchen abhaben. Seit die Kontroverse über Cultural Appropriation hochkochte, beanspruchen alle möglichen Akteure ein Patent auf ihre Kultur. Gruppen, die bisher am Rande der Kulturpolitisierung gestanden haben, über- nehmen aktuell Sprache und Praktiken der Identitätspolitik.“

"Ein deutlicher Trend geht dahin,
dass Identitätsgruppen ausufern und sich separieren"

Die Forderung nach „Safe Spaces“ breitet sich aus und erfasst auch solche Bereiche, die früher als Hort kritischen Denkens galten. Eine allgemeine zwischen-menschliche Solidarität wird damit zum Opfer der heutigen Identitätspolitik. „Sobald sich verschiedene Gruppen in ihre `Safe Spaces´ zurückgezogen haben, bleibt kaum noch Platz für diejenigen, die sich der Politik der Solidarität und dem Ideal des Universalismus verschrieben haben.


Zitate aus: Johannes Richardt (Hg.): Die sortierte Gesellschaft. Zur Kritik der Identitätspolitik, Frankfurt 2018