Montag, 8. November 2021

Rom und die Republik

Demokratie ist aktuell wie kaum zuvor – und wirft wie nie zuvor Fragen auf. In seinem Buch „Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart“ verknüpft Paul Nolte die historischen Perspektiven und grundsätzlichen Fragen mit den aktuellen Problemen und zeigt auf, dass die Geschichte der Demokratie nie nur von Wachstum, Fortschritt und Erfüllung handelte. Sie war immer zugleich eine krisenhafte Suche nach der Auflösung von Konflikten und Widersprüchen. 

Während gemeinhin die Griechen als die Erfinder der Demokratie steht Rom für das „Imperium Romanum“, bis heute eine „Chiffre für einen globalen Herrschafts-anspruch, der mit überlegenen militärischen Mitteln gesichert wird, im Innern aber Lebenskraft und Freiheit verliert.“

Das Römische Reich nach dem Tod Caesars

Aber nicht erst in der Kaiserzeit, schon in der Zeit der Republik lässt sich eine beständige Ausweitung des Machtbereichs Roms beobachten, ausgehend von Italien, über Nordafrika, West- und Mitteleuropa und den östliche Mittelmeerraum bis in den nahen Osten. Dieser Aufstieg vollzog sich im politischen Rahmen einer „Republik“, seit die Römer am Beginn des 5. Jahrhunderts die Königsherrschaft der Etrusker abgeschüttelt hatten. Aus heutiger „war damit ein Verfassungstyp etabliert, der in der Neuzeit (…) eine gewaltige Anziehungskraft entfaltete; eng verknüpft und doch nicht identisch mit der Neubegründung der Demokratie. Republik, das war und ist die Staatsform einer Selbstregierung, die nicht auf die Führung durch Könige oder Kaiser, auch nicht durch Diktatoren, angewiesen ist – also das Gegenteil von Monarchie (und teils auch von Diktatur).“

„Res publica“ bezeichnete – durchaus in Anlehnung an die griechischen Begriffe „Eunomie“ oder „Politeia“ - eine gute und stabile politische Ordnung. Auch wenn der Römischen Republik „ein Bewusstsein ihrer Verfassung im modernen Sinne“ fehlte – eine schriftlich niedergelegte Verfassung gabe es nicht – so erhob die „Res Publica“ doch den Anspruch, das Volk an der Herrschaft zu beteiligen. Dafür spricht schon die Herkunft und Bedeutung des Wortes „publicus“: „Die `res publica´ sei die `res populi´, die Sache des Volkes, legte Cicero in seiner Schrift über die Republik dem Scipio Africanus in den Mund. 

Res publica, das ist aber zuerst die `öffentliche Sache´: das, was der gemein-schaftlichen Verhandlung und Regelung bedarf. Das inzwischen altmodische Wort «Gemeinwesen» ist eine Übersetzung davon. Die Unterscheidung zu den `res privata´, modern gesprochen also: zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre, konnten die Römer in der Antike schon klarer ziehen als die Athener.“

Im weiteren Verlauf der Geschichte der Republik breitete sich folglich auch ein Bewusstsein von der Gefährdung dieser Ordnung aus, die man vor Schaden oder mutwilliger Zerstörung zu bewahren habe. „Das spiegelt sich in der berühmten Formel des Staatsnotstandes, des `senatus consultum ultimum´: `Die Konsuln mögen zusehen, dass die Republik keinen Schaden nehme´ (videant consules ne quid res publica detrimenti capiat).“ 

"Die Konsuln mögen zusehen, dass die Republik keinen Schaden nehme!"
Cicero´s Rede im Senat gegen Catalina (Hans Werner Schmidt, 1859-1940)

Dennoch war die Römische Republik keine Demokratie. Macht und Einfluss in Rom lagen zunächst in der Hand adliger Familien. Angesichts der zunehmenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation begannen die Plebejer, sich politisch zu organisieren. „Dabei spielten zwei Institutionen eine wichtige Rolle: das Volkstribunat und die Volksversammlungen. Die Volkstribune agierten gegenüber der aristokratischen Herrschaft und den durch sie bestellten Amtsträgern als eine Art Sprecher oder Sachwalter des Volkes.“

Die verschiedenen (!) Volksversammlungen dagegen sind nicht mit der Bürger-versammlung Athens vergleichbar, sondern existierten nebeneinander und beruhten teils auf dem regionalem (Wohnort-)Prinzip, teils auf Familienverbänden oder auf militärischen Einheiten spiegelten.

Das aristokratische Machtzentrum Roms jedoch bildete der Senat. Senator wurde man nicht durch Wahl oder Losung, sondern man wurde Mitglied des Senates nach dem Ausscheiden aus einem politischen Amt, das man in der Regel für ein Jahr ausübte. „Diese Ämter, mit den Konsuln an der Spitze, bildeten einen charakteristischen Teil der republikanischen Verfassung. Manches an ihnen erinnert an heutige `basisdemokratische´ Prinzipien: Man hatte ein Amt immer nur für ein Jahr inne (`Annuität´) und konnte es danach auch nicht erneut übernehmen; man teilte sich zumeist die Ausübung mindestens zu zweit – das Prinzip der Kollegialität. 

Aber obwohl die Volksversammlungen die Magistrate wählten, spielten Einfluss, Geld und die Herkunft aus bestimmten Familien dabei eine entscheidende Rolle. In der späteren Republik etablierte sich sogar immer mehr ein fester Karriereverlauf, der `cursus honorum´. Man begann als relativ junger Mann in einem niedrigen Anfangsamt als Quästor oder Ädil und stieg von dort weiter auf, möglichst bis zum Konsulat.“

Der cursus honorum in der Republik und in der Kaiserzeit

Bis zu ihrem Ende blieb die Republik also eine im Wesentlichen aristokratische Verfassung mit einigen `popularen´, also das Volk einbeziehenden Elementen, wie in der Souveränitätsformel SPQR `Senatus populusque Romanus´ (der Senat und das Volk von Rom) zum Ausdruck kommt. Eine Demokratie war das gleichwohl nicht, weil das Volk zwar Anteil an der Herrschaft hatte, aber sie nicht in `demokratischen´ Institutionen (wie sie die Athener besaßen) ausübte.

Es fehlten auch die sozialen Voraussetzungen für eine Demokratie. „Die römische Gesellschaft dagegen blieb vertikal strukturiert, nicht nur in Hinsicht auf ökonomische Ungleichheit oder die (…) Differenz zwischen Patriziern und Plebejern. Sie beruhte auf persönlichen und familiären Abhängigkeitsverhältnissen, in denen Herr und Abhängiger, `Patron´ und `Klient´ in der Sprache Roms, einander Schutz und Dienste leisteten. Unabhängigkeit und politische Freiheit konnten in diesem Klientelsystem nicht entstehen.“

Während Rom sich auf die Sitten der Vorväter berief, den „mos maiorum“, die es zu achten gelte, erfordert „Demokratie“ ein Bewusstsein von der menschlichen und gegenwärtigen Machbarkeit einer neuen, auch gegen Herkommen und Tradition gerichteten Ordnung des Politischen.

Dennoch: Die Römische Republik entwickelte eine Vielzahl von Institutionen, „die in abgewandelter Form als unverzichtbarer Bestandteil moderner Demokratien gelten, mindestens aber als ihre Voraussetzung. Dazu gehört eine Rechtsordnung, die freilich erst in der Zeit des Kaiserreichs zu voller Entfaltung kam und die dem Prinzip Bahn brach, (berechenbare) Gesetze und nicht (willkürliche) Personen sollten herrschen.“ 

Auch wenn dem römischen Bürgerbegriff die egalitäre - griechisch die „isono-mische“  - Dimension fehlte, so sei, schrieb Cicero, das Gesetz das Band der bürger-lichen Gesellschaft, in der der „civis romanus“ – der römische Bürger – seinen festen Platz hat. 

Als wichtigste Innovation aber erwies sich die Erfindung der Republik als solche selbst, als Gegenprinzip zur Monarchie. Gerade in der Frühgeschichte der Demokratie waren es Republiken – wenn auch aristokratisch befangen -, die dem Selbstverständnis moderner Demokratien den Weg bereiteten, „nicht zuletzt im Sinne eines normativen Appells an Recht, Öffentlichkeit und Gemeinwohlbezug, an dem sich der Gebrauch von Macht messen lassen muss. Denn wie die Römer schon wussten, existiert die `res publica´ – wir würden heute übersetzen: die Demokratie – immer schon in Gefährdung, und ist deshalb eine zu verteidigende.“


Zitate aus: Paul Nolte: Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart“, München 2012 (C.H. Beck)



Montag, 1. November 2021

Athen und die Erfindung der Demokratie


Demokratie ist aktuell wie kaum zuvor – und wirft wie nie zuvor Fragen auf. In seinem Buch „Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart“ verknüpft Paul Nolte die historischen Perspektiven und grundsätzlichen Fragen mit den aktuellen Problemen und zeigt auf, dass die Geschichte der Demokratie nie nur von Wachstum, Fortschritt und Erfüllung handelte. Sie war immer zugleich eine krisenhafte Suche nach der Auflösung von Konflikten und Widersprüchen. 

Die Demokratie beginnt vor mehr als zweieinhalbtausend Jahren, als athenische Bürger die Herrschaft des Volkes zum ersten Mal praktizierten. Die Bürger von Athen überließen die Regierung ihrer Polis, also ihres stadtstaatlichen Gemeinwesens, nicht einem König oder einer aristokratischen Elite, sondern regierten sich selbst: frei und einander gleich; durch die Übernahme von Ämtern und unmittelbar in der Volksversammlung.

Die Demokratie - eine "Erfindung" der Griechen!

Auch wenn die moderne Geschichtswissenschaft den Glanz der durch die humanistische Bildung des 18. Jahrhunderts vermittelten Griechenkultes ankratzte, so hat die kritische Forschung der letzten Jahrzehnte das Bild von der Erfindung der Demokratie im antiken Griechenland eher insgesamt bestätigt. „`Erfindung´ heißt dabei aber nicht, dass die Athener durch intensives Nachdenken und Philosophieren über eine bessere Regierungsform auf die Demokratie gekommen wären, dass sie eine Blaupause der Demokratie angefertigt und diese anschließend planmäßig in Verfassung und praktische Politik umgesetzt hätten. (…) Die athenische Demokratie entstand nicht zuerst in der Theorie, sondern entwickelte sich, langsam und in vielen Etappen, im praktischen Vollzug.“

Insgesamt dauerte die Geschichte der athenischen Demokratie knapp drei Jahrhunderte und ist mit den Namen Solon, Kleisthenes und Perikles verbunden. Trotz aller Rückschläge und Krisen – Versuche, die Demokratie abzuschaffen, gab es u.a. unter Peisistratos und gegen Ende des Peloponnesischen Krieges unter den „Dreißig Tyrannen“ –, die Athener wurden sich der Besonderheit ihrer politischen Ordnung immer mehr bewusst, sprachen positiv von ihr; sie huldigten ihr geradezu in kultischer Verehrung. Erst im Zuge des Aufstiegs der makedonischen Herrschaft unter Phillip II. und seinem Sohn Alexander dem Großen verloren die Bürger Athens schließlich im Jahre 322 ihre politische Unabhängigkeit und damit auch die durch die Verfassung garantierten politischen Rechte.

Ursprünglich hatten die Griechen die politische Ordnung ihres Gemeinwesens überhaupt nicht mit dem Wort für `herrschen` (`kratein´) beschrieben, sondern mit ihrem Wort für Gesetz und Ordnung, `nomos´. Davon abgeleitet, beschreibt der Begriff `Eunomie´ die `gute Ordnung´, deren Vorzug vor allem in ihrer Stabilität und Ausgewogenheit gesehen wurde, nicht in einer möglichst breiten Bürgerbeteiligung. 

Die Normalität der guten Ordnung war gleichwohl eine aristokratische, „in der eine Minderheit von bevorrechtigten oder reichen Männern die politischen Geschäfte führte und Entscheidungen traf. In einer Tyrannis dagegen, in der Alleinherrschaft eines Mannes, geriet die gute Ordnung auch schon für die vordemokratischen Athener aus den Fugen.“

Für den Übergang von der Eunomie zur Demokratie spielte ab dem Jahr 500 der Begriff der `Isonomie´ - `Gleichordnung´ oder `Ordnung der untereinander Gleichen´- als Leitbild eine entscheidende Rolle. Der Weg in die Demokratie führte also „nicht zuerst über den Gedanken der individuellen Freiheit wie in der modernen Variante seit dem 18.Jahrhundert, sondern über die Idee der Gleichheit.“ Mit Gleichheit ist jedoch keine soziale bzw. sozialökonomische Gleichheit gemeint ist, sondern eine staatsbürgerliche Gleichberechtigung. „Isonomie bezeichnete eine Ordnung, in der alle Bürger auf prinzipiell gleiche Weise in die Regelung der politischen Angelegenheiten einbezogen waren“ und so wurde der Begriff nahezu synonym mit Demokratie benutzt. 

So entwickelten die Athener zunehmend ein Bewusstsein dafür, dass ihre Form der Politik „eine besondere, eine ungewöhnliche, vielleicht sogar eine einzigartige war. Thukydides ließ den athenischen Führer Perikles in seiner großen Darstellung des Peloponnesischen Krieges eine Totenrede halten, in der dieses Sonderbewusstsein besonders klar formuliert ist: `Die Verfassung, nach der wir leben, vergleicht sich mit keiner der fremden; viel eher sind wir für sonst jemand ein Vorbild als Nachahmer anderer. Mit Namen heißt sie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf eine größere Zahl gestellt ist, Volksherrschaft´.“

Die Leichenrede des Perikles (Philipp von Foltz)

Von besonderer Relevanz ist ebenfalls, dass die Athener ein neuartiges Verständnis von `Politik´ entwickelten. „Politik war danach nicht mehr mit einem faktischen System von Herrschaft identisch; sie trat aus der Normalität, aus der scheinbaren Natürlichkeit der Lebensverhältnisse heraus und etablierte sich als eine eigene Sphäre, in der man sprechen, debattieren und entscheiden konnte. Nicht so sehr im Sinne von Institutionen oder organisierter Verfasstheit – der griechische Begriff von Politik meinte nicht Staatlichkeit im modernen Sinne. Was die Griechen entdeckten war, in den Worten des großen englischen Althistorikers Moses Finley, die `Kunst, Entscheidungen durch öffentliche Diskussion herbeizuführen und diesen Entscheidungen dann auch zu folgen, als notwendige Bedingung einer zivilisierten Lebensführung´.“

Diese Besonderheit gründete vor allem in einem Bild vom Menschen – damals noch: dem männlichen Vollbürger –, der prinzipiell, unabhängig von Herkunft, Vermögen oder sozialer Stellung, politische Urteilskraft besitzt.

„Die Volksversammlung stand im Zentrum der athenischen Demokratie. Sie war (…) mit dem Volk identisch; sie war, in heutigen Begriffen, der Souverän. Die Volksversammlung trat etwa vierzig Mal im Jahr für jeweils einen ganzen Tag zusammen und fasste Beschlüsse, die von kleineren tagespolitischen Angelegenheiten über die Verabschiedung von Gesetzen bis zur Entscheidung über Krieg und Frieden reichten.“ Dabei wurde nicht so sehr fachliche Kompetenz auf der Grundlage professioneller Schulung verlangt und ebenso wenig kannten die Griechen kein kodifiziertes Rechtssystem als Handlungsgrundlade. „Vielmehr ging es um dasselbe Prinzip der gleichen Partizipation der Bürger an Entscheidungen, die sie selbst betrafen – ob in `öffentlichen´ oder `privaten´ Angelegenheiten.

So erinnert die Demokratie der Athener vor 2500 Jahren in einigen Elementen an das, was später (und bis heute) als unmittelbare, direkte oder Basisdemokratie diskutiert wird, auch wenn sich die Voraussetzungen mit Blick auf die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen grundlegend unterschieden. Auch kannten die Athener keine Gewaltenteilung - Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz ließen sich nicht voneinander unterscheiden - und eine Exekutive im Sinne der modernen Regierung des Staates fehlte völlig. 

Die athenische Demokratie dagegen war primär eine Verfahrensordnung, eine „Verfassung der politischen Praxis. Sie aktualisierte sich in der freien und gleichen Rede, in der Volksversammlung oder in anderen Ämtern und Institutionen. (…) Neben der allgemeinen Ordnung der Gleichheit, der Isonomie, stand deshalb die `Isegorie´, das gleiche Recht der Rede in der Volksversammlung, in höchster Wertschätzung.“

Die Akropolis im Blick: Die Pnyx - Ort der Volksversammlung

Wer sich als guter, als mitreißender und überzeugender Redner erwies, konnte in der Volksversammlung erheblichen Einfluss ausüben. „So hat man Athen geradezu als eine `deliberative Demokratie´ bezeichnet – und damit erneut einen modernen Begriff, ein Konzept des späten 20.Jahrhunderts aufgegriffen: Demokratie als öffentlicher und vernünftiger Austausch von Argumenten, als eine `horizontale´ Form der bürgerlichen Selbstverständigung mehr als ein `vertikaler´ Mechanismus des rationalen und durch Mehrheit legitimierten Entscheidens. So zeigt sich immer wieder: Wie fremd und anders die athenische Demokratie auch war, wir kommen in der Gegenwart kaum von ihr los.“

Zitate aus: Paul Nolte: Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart“, München 2012 (C.H. Beck)