Harald Welzer ist seit 2012 Professor für Transformationsdesign an der Universität Flensburg. In einem Beitrag für den Südwestfunk erläutert Welzer Geschichte und Gegenwart der Kategorie "Autonomie".
Die vermeintliche Komforterhöhung durch Apps und Kontrollprogramme - alles wird immer "smarter" -, die unablässig
Daten liefern, entmündigen diejenigen, die sie so bereitwillig nutzen. „Alles
dieses schafft eine Infantilisierung der Lebenswelt, die verblüffend ist: Sind
wir denn eigentlich erwachsen geworden, um uns wie von der Mami im Schlaf
behüten und wie im Kinderwagen herumfahren zu lassen? Soll die künftige
Persönlichkeit der vollversorgte, unterhaltene und ansonsten belanglose und
jederzeit ersetzbare digitale Arbeitssklave sein, dessen Welt so abgedämpft
ist, dass er nicht einmal sein eigenes Unglück mehr bemerkt?“
Freiwillige Infantilisierung der eigenen Lebenswelt |
Der
Verlust von Autonomie, der sich fast unbemerkt, aber ungeheuer dynamisch vollzieht,
ist nach Welzer keine Privatangelegenheit, sondern trifft auch die
Grundvoraussetzungen der Demokratie unmittelbar: „Als Sphäre, in der Menschen
tun und lassen können, was sie wollen, ohne dass eine Öffentlichkeit davon auch
nur Kenntnis gewinnen könnte, bildet Privatheit jenen Seinsbereich, indem sich
Subjektivitäten bilden und entfalten, Persönlichkeiten entwickeln und
Standpunkte einnehmen lassen, die es erst erlauben, als freier Bürger zugleich
politisches Subjekt zu sein und Einfluss auf den öffentlichen Bereich, die res
publica zu nehmen.“
Die
Existenz einer Privatsphäre bilde in diesem Sinn die Voraussetzung für die
Existenz einer demokratischen Öffentlichkeit, die politisch mitgestaltbar ist. So
formuliert der Philosoph Raymond Guess: "Darüber hinaus ist eine Kategorie
des Privaten das Intime, und viele Theoretiker sind zu der Überzeugung gelangt,
dass es Formen der Selbstbejahung gibt, die für Menschen notwendig sind und die
sie nur dann entwickeln können, wenn sie angemessene Beziehungen der Intimität
zu anderen unterhalten; solche Beziehungen sind Grundelemente des guten Lebens
für den Menschen."
Verlässliche private Beziehungen ... |
Solche
privaten und exklusiven Beziehungen sind darüber hinaus „die Voraussetzung,
dass ab-weichendes Handeln möglich ist. Ohne die Intimität privater Beziehungen,
ohne den unzugänglichen Raum der intimen Konspiration kann es nur schwer
Widerstand oder verbotene Hilfe geben, wenn die gesellschaftliche Entwicklung
in eine totalitäre Richtung abzudriften droht. Transparenz und Konformität sind
nahezu unausweichlich miteinander verschwistert.“
So
gesehen ist es völliger Unfug, „Sicherheit und Freiheit gegeneinander
auszuspielen. Denn in den entwickelten Demokratien leben wir heute nicht nur in
der freiesten, sondern auch in der sichersten Form von Gesellschaft, die die
Geschichte kennt“ – auch wenn die Medien jeden Abend das Gegenteil eines
sinkenden Gewaltniveaus suggerieren.
Dabei
zeigt nicht nur die in Demokratien rasant gestiegene Lebenserwartung, dass
Freiheit und Sicherheit keineswegs Gegensätze sind, sondern einander
gegenseitig voraussetzen und stärken. „Schon allein deshalb sollte man allen
Politikern und Vertretern von Sicherheitsorganen, die Freiheitsrechte zugunsten
von angeblich größerer Sicherheit einzuschränken beabsichtigen, entschiedenen
Widerstand entgegensetzen.“
Frühere
Generationen dagegen mussten vielfältige existenzielle
Bedrohungen aushalten und unter äußerst geringen individuellen
Freiheitsspielräumen leben. „Die Etablierung von Rechtsstaaten mit
demokratischen und freiheitlichen Verfassungen war (...) weder ein historischer
Zufall noch eine historische Zwangsläufigkeit, sondern ein mühevoll und unter
großen Opfern erkämpfter und immer fragiler Zustand.
Der Rechtsstaat - ein Garant gegen prekäre Lebensverhältnisse |
Man
muss sich diese Hintergründe vergegenwärtigen, um zu erkennen, dass das Maß an
Autonomie, Freiheit und Sicherheit, das die Mitglieder moderner demokratischer
Rechtsstaaten genießen, historisch nicht nur einzigartig, sondern auch geradezu
unwahrscheinlich ist. Von den 200.000 Jahren Geschichte des homo sapiens sind
es, die athenische Demokratie eingerechnet, insgesamt bloß 400 bis 500 Jahre,
in denen Demokratien geherrscht haben, und auch das jeweils nur in einem
kleinen Teil der Welt.“
„Vielleicht
kann man sich daran die Kostbarkeit des zivilisatorischen Standards klar
machen, den wir in der Gegenwart genießen, bei all den gravierenden Mängeln,
die die heutigen Gesellschaften westlichen Zuschnitts immer noch haben. Und
dieser Standard bedeutet eben die individuelle Erwartbarkeit von Ausbildung,
sozialer Sicherheit, Rechtssicherheit, körperlicher Unversehrtheit und
Unverletzlichkeit von Person und Eigentum – solche Güter stehen in
Verfassungen, weil sie nicht selbstverständlich sind.“
Autonomie
und Freiheit sind Welzer zufolge daher zivilisatorische Errungenschaften, „die
niemals sicher sind. Was gegenwärtig durch die allgegenwärtigen Datensammlungen
und Überwachungstechnologien geschieht, ist eine radikale Infragestellung
unserer Autonomie und damit eine antidemokratische, ja, antizivilisatorische
Entwicklung. Was man dafür angeboten bekommt, ist ein bisschen Bequemlichkeit,
als hätte es gerade daran bislang in den reichen Gesellschaften gefehlt.“
Diese
Dimension des Antizivilisatorischen der gegenwärtigen Entwicklung sei von den
politischen Eliten noch gar nicht begriffen: „Was sich hier als Umformatierung
unserer Sozialverhältnisse, als Verschwinden des Privaten herausbildet, führt
zur vollständigen Schutzlosigkeit des Individuums. Mit seiner Autonomie
verliert es die Kontrolle über sich selbst. Die haben dann andere.“
Zitate aus: Harald Welzer: Autonomie gefordert! Über ein schwieriges Konzept der Demokratie Von Harald Welzer, SWR2 Wissen/Aula, Sendung vom 01. Mai 2017