Ist die Demokratie als Gesellschaftsmodell unmöglich geworden? Diese
Frage ist das Thema der kleinen Schrift „Die unmögliche Demokratie: Machtspiele
ohne Regeln“ von Birger Priddat.
Demokratie ... unmöglich? |
Ausgangspunkt von Priddats Überlegungen ist eine
allgemeine Verunsicherung in der Politik, eine Verunsicherung, die Politiker
und Bürger gleichermaßen ergriffen hat: „Inmitten der ausgerufenen
Wissensgesellschaft haben wir in einem Kernbereich der Gesellschaft, in der
Politik, ein massives Wissensproblem. Nichtwissen regiert. Die Bürger wollen
allerdings vom Staat Lösungen, die ihre Zukunft sichern. Können wir aber noch
einer Politik trauen, die nicht mehr versteht, was sie entscheidet, und sich
somit vor den Bürgern gar nicht mehr verantworten kann?“
Dem Begriff der „Prolokratie“ von Christian
Ortner, in der die verblödeten Bürger sich selbst in ihrem Staat überfordern,
ohne zu wissen, wie man das finanziert, will Priddat zwar nicht folgen, wohl
aber teilt er die Befürchtung, dass die Bürger „allein ihren Leidenschaften
frönen und keine Balance zwischen und allgemeinem Interesse beachten.“ So war
auch die Kritik der Konsumgesellschaft immer zugleich eine Kritik des vom
Konsum geblendeten Individuums, das sich zur Entpolitisierung verführen ließ.
Mit der Ermüdung der Bürger, die die die
Parteien beziehungsweise die Politiker nicht mehr für ausreichend führungs- und
politikfähig halten, korrespondiert der Wunsch nach Formen direkterer
Demokratie. Diese „erscheinen nicht nur staatsbürgerschaftlich als
wünschenswert, sondern als Eintrag von Bürgerkompetenz in den Politikprozess
und als Ausdruck höherer Gemeinschaftlichkeit.“
Aber in diesem Anspruch verbirgt sich eine Paradoxie:
„Aus dem Vorwurf, die parlamentarisch-repräsentativ delegierten Politiker seien
nicht in der Lage, eine Politik zu verfolgen, die die Bürger eigentlich
wünschen, wird geschlossen, dass dann, wenn die Bürger die Politik machten, die
Wünsche Wirklichkeit würden.“
Ausweg Direkte Demokratie? |
Unter direkter Demokratie stellen sich viele
einen Prozess vor, in dem die Bürger mehr oder weniger die politischen oder
Gesetzesinitiativen extra beschließen oder wählen, etwa im Rahmen einer Volksabstimmung.
Auf diese Weise würden die Politiker zu unmittelbaren Volksbeauftragten gemacht.
Das Parlament als Instanz der Vermittlung verliert dabei an Bedeutung: „Es geht
darum, möglichst viele Mitwirkende in einen Entscheidungsprozess einzubinden.
Die große Zahl soll das Gewicht des Ergebnisses vergrößern. Masse mal
Organisation gleich Legitimität.“
Diese Ausweitung von Demokratie wird nun
zusätzlich als ein Prozess der Kontrolle beschrieben, die Politik nur das
ausführen zu lassen, was die Bürger wünschen.“
Dabei wird Priddat zufolge gern übersehen,
dass Wünsche aber sind einzelne Wünsche sind, „ohne Reflektion der Vernetzung
vieler Wünsche zu einem Nexus von Politik, der aus seiner Komplexion heraus
viele Wünsche wiederum korrigieren oder gar fallen lassen muss.“
So würde der Traum „von einer extrem
ausgedehnten Mitbestimmung in allen Lebenslagen (Wirtschaft, Banken, Eigentum,
Bildung, Politik)“ vermutlich in eine kulturelle Überforderung der Gesellschaft
münden: „Wer mag das aushalten, wenn er selber ständig an allen Entscheidungen
beteiligt ist? Ist man sich über den political stress im Klaren?“
Die delegativ-repräsentative Form der
Demokratie dagegen entlastet die Bürger von der Demokratie: „Je mehr Bürger
aber in je mehr Lebenslagen direkt demokratisch mitbestimmen, desto komplexer
wird ihre Welt (die sie aktiv ja vordem noch gar so betrachtet hatten) und
desto unklarer wird auch ihre Urteilskompetenz, weil sie plötzlich Dinge
gegeneinander abwägen müssen, deren Verquickung sie kaum oder gar nicht kennen
… Das Konfliktpotential erhöht sich – gegeneinander und in sich selber –, die
Diskurse werden nicht klarer, sondern interessenüberfrachteter, so dass sich
aus diesem Nexus die Führungsfrage in dem Grade neu stellt, den man abgeschafft
sehen wollte.“
Überforderung durch Direkte Demokratie: political stress |
Jetzt wird an sich selbst delegiert, was
früher ins Parlament delegiert wurde. Oder es wird an – meist populistische - Führungen
delegiert, die aber nicht führen, sondern nur moderieren dürfen. Dabei
verkennen die Theoretiker direkter Demokratien gern, „dass ihre – zum Teil
pathetisch vorgetragenen – egalitaristischen Lösungen selber wieder Eliten
herausbilden.“
Demokratie braucht also ein Mindestmaß an
Organisation: „Organisation meint hier: Verfahren, die in der Lage sind, die
Mehrheiten/Minderheiten zu organisieren, die notwendig auch in direkten
Demokratien auftreten, nunmehr aber unsortiert nicht-parteilich und nicht auf
Regierung gepolt.“
Von entscheidender Bedeutung für eine
funktionierende Demokratie ist für Priddat daher die Übernahme von
Verantwortung. Für ihn ist Demokratie „ein Verfahren zur Einrichtung einer
repräsentativen Macht, die kollektiv bindende Entscheidungen tätigt.“ Dies aber
impliziert, „nur solche Entscheidungen zu fällen, die man verantworten kann.
Verantworten heißt, auf die Frage, warum man das so und nicht anders
entschieden habe, Gründe nennen zu können, die andere, wenn schon nicht billigen,
dann doch respektieren können.“
Das Problem aber ist, dass „Demokratie … im
Grunde verantwortungslos [ist]. Verantwortung kann nur übernommen werden, indem
jemand sagt, dass er sie übernimmt. Sie gilt ad personam … Wer sie übernimmt,
muss seine Entscheidungsposition freigeben, wenn er so versagt, dass andere
sich nicht mehr an die Entscheidung gebunden fühlen.“
Wenn Verantwortung also konkret bedeutet, im
Falle ihrer Übernahme auch zurückzutreten, dann ergibt sich daraus eine
Paradoxie, denn Bürger „können nicht von der Demokratie zurücktreten
(beziehungsweise von der Berechtigung, an ihr teilzunehmen). Folglich kann nur
jemand, der zurücktreten kann, auch Verantwortung übernehmen, womit sich die
verantwortliche oder Entscheidungsposition als elitäre ausweist, die auch – und
gerade auch – in Demokratien Geltung hat.“
Zwei Seiten der Medaille: Übernahme von Verantwortung und die Bereitschaft zum Rücktritt |
Aus diesem Grunde kann – so Priddat – eine Demokratie
nur repräsentativ gestaltet sein, nicht direktdemokratisch: „Denn nur dann,
wenn Politiker als gewählte Repräsentanten Verantwortung in der Form
übernehmen, dass sie für Fehler die Verantwortung übernehmen und zurücktreten
oder abgewählt werden, können sie Verantwortung übernehmen. Jemand, der nicht
zurücktreten oder abgewählt werden kann, kann nicht verantwortlich handeln,
wenn wir Verantwortung institutionell definieren: dass jemand sich vor anderen
rechtfertigen muss für sein Tun.“
Die Formen der direkten Demokratie aber, die die
Verantwortung so teilen, dass niemand mehr sie übernimmt, sind dann eben „Strukturen
ohne Governance“, die keinen Diskurs über die Geltung bzw. Nichtgeltung von
Entscheidungen forcieren. Im verantwortungsvollen Diskurs dagegen gibt es
Repräsentanten, „die aus Verantwortung eine Governance entfalten, die im
nicht-verantwortungsvollen Diskurs nur kontingent und nicht-stringent erfolgt.
Indem sie auf Interessen ausgerichtet sind, sind sie haftbar für deren
Verfolgung.“
Zitate aus: Birger Priddat: Die
unmögliche Demokratie: Machtspiele ohne Regeln, Frankfurt a.M. 2013 (Campus)
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