Donnerstag, 15. Oktober 2015

Sparta und die Große Rhetra

Das 7. Jahrhundert war in Griechenland eine bedeutsame Phase des Übergangs von vorstaatlichen Verhältnissen zu staatlichen Strukturen in zahlreichen Gemeinwesen. In Sparta wird dieser folgenreiche Prozeß gesellschaftlicher und politischer Transformation durch die Bestimmungen der sogenannten Großen Rhetra markiert, dem wohl ältesten Dokument zur griechischen Verfassungsgeschichte.

Die Ruinen des antiken Sparta
(im Hintergrund das moderne Sparta und das Taygetos-Gebirge)

Die Große Rhetra entstand im Kontext der messenischen Kriege, durch die große Erweiterung des spartanischen Herrschaftsgebietes erfolgte. Damit ergaben sich neue Aufgaben vor allem in Bezug auf die Kontrolle des neu gewonnenen Landes sowie dessen Bevölkerung. Darüber hinaus stellte die Einführung fester politischer Strukturen eine Art Machtnivellierung dar, die der Konzentration von Macht in den Händen Weniger entgegenwirken sollte.

Generell wird als „Rhetra“ ein „feierlicher Spruch“ mit bindender Geltung für die Gemeinschaft bezeichnet, die damit verpflichtet wird, bestimmte Regeln einzuhalten und Verhaltensweisen zu befolgen.

Plutarch überliefert den Text der Großen Rhetra in seiner Lebensbeschreibung über den mythischen spartanischen Gesetzgeber Lykurgos, der sie wiederum als Spruch des Orakels zu Delphi empfängt, das dem legendären Gründer der spartanischen Ordnung auf diesem Weg Anweisungen für grundlegende Reformen im Gemeinschaftsleben gegeben haben soll.

Die Weisung des Delphischen Orakels lautete: „Nach Errichtung eines Heiligtums für Zeus Syllanios und (Athena) Syllania sowie nach Konstituierung von Phylen und Oben und eines Ältestenrates (Gerusia) mit dreißig Mitgliedern einschließlich der Könige“ soll man in regelmäßigen Abständen … eine Volksversammlung (Apella) einberufen und so dem Volk (Damos) der Spartaner Anträge zur Abstimmung vortragen und die Versammlung nach der Zustimmung wieder entlassen.

Lykourgos
Wenn aber die Volksversammlung der Spartaner einen schiefen Beschluss fasst (d.h. nach Meinung der beiden Könige und der Geronten eine falsche Entscheidung trifft), sollen die Ältesten und die beiden Könige die Entscheidung des Volkes nicht annehmen und die Volksversammlung abtreten lassen.“

Die eigentliche Leitung hatten in Sparte also die als Archagetai („Anführer“) bezeichneten Könige. Sie wurden von einem zahlenmäßig fixierten elitären Kreis von Getonten beraten, die zu dieser Zeit als ranghohe Personen wohl noch ausnahmslos aus den sogenannten „Großen Häusern“ Spartas stammten. Ob sie damals schon wie in klassischer Zeit mindestens 60 Jahre alt sein mussten und in einem eigentümlichen Verfahren, bei dem die Lautstarke der applaudierenden Zustimmung für einen „Kandidaten“ den Ausschlag gab, vom Damos „gewählt“ wurden, ist nicht bekannt.

Neben den öffentlichen Organe (Doppelkönigtum, Ältestenrat und Volksversammlung) und der Definition ihrer Kompetenzen und Funktionen spielte in der neuen Ordnung Spartas vor allem auch die genossenschaftliche Organisationsform der Phyle (Stamm) und der Oben (Unterabteilungen der Phylen) eine fundamentale Rolle für die neue, alle Bevölkerungsschichten der Spartaner verbindende Einheit.

Ursprünglich entstanden die Phylen wohl als Zusammenschlüsse auf nachbarschaftlicher Basis zu gemeinsamem Schutz und mit ordnungsstiftenden Funktionen im Rahmen von Kleingesellschaften. Im Zuge der Polisbildung in Griechenland entwickelten sie sich dann aber zu Gruppierungen innerhalb politischer Gemeinschaften, indem sie als Verbände und innerhalb ihrer Verbände Aufgaben für die größere Einheit der Polis übernahmen.

Die Bedeutung der Phyle in Sparta aber lag darin, das die erbliche Zugehörigkeit zu einer Phyle für die Anerkennung als Vollbürger bindend wurde. Diese Funktion bekamen die Phylen natürlich erst, als die Polis zu einer politischen Einheit zusammenwuchs und sich allmählich auch klare Kriterien für den Status des Bürgers herausbildeten.

Spartanischer Hoplit
Die Phylen wurden aber nicht nur für die politische Integration der jungen Spartaner in den Verband der Vollbürger relevant. Politische Organisationsform und Wehrordnung bildeten eine Einheit. Deshalb Übernahmen die Phylen auch wichtige Aufgaben im Rahmen der Rekrutierung und Mobilisierung des Aufgebots, und die Verbände ihrer Wehrfähigen wurden Unterabteilungen des spartanischen Heeres,

Unter diesen Voraussetzungen sollte die Große Rhetra die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für politisches und militärisches Handeln der Gemeinschaft der Spartaner schaffen. Die ursprünglichen Dörfer Spartas waren im 7. Jahrhundert allmählich gewachsene Siedlungseinheiten von unterschiedlicher Größe. Durch die Neugliederung des Damos in Phylen hatte nunmehr jeder erwachsene Spartaner seinen festen Platz im Aufgebot und damit zugleich auch in der Gesellschaftsordnung und in der politischen Organisation.

Seine Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft manifestierte sich in erster Linie in der erblichen Mitgliedschaft zu einer Phyle und berechtigte ihn zur Teilnahme an den Versammlungen des Damos, dessen Aktionsmöglichkeiten in der Großen Rhetra bereits als Kratos („Macht“) bezeichnet wird.

Zwar wurde im früharchaischen Sparta die Volksversammlung an der Entscheidungsfindung beteiligt, dennoch hatte der Damos - theoretisch die Gesamtheit der Teilnahmeberechtigten - nur eine nachgeordnete Funktion im Prozess der Willensbildung und Entscheidungsfindung. Die Festlegung der politischen Vorhaben, die entschieden werden mussten, blieb ebenso wie die Vorschläge zur Lösung oder Bewältigung der anstehenden Probleme dem Rat vorbehalten, der formal aus den Königen und den Geronten bestand.

Die als Apella bezeichnete Versammlung des Damos hatte somit kein Initiativrecht, d. h. sie konnte weder die Agenda bestimmen noch eigene Anträge stellen. Zudem konnte eine Entscheidung des Damos gegen eine Vorlage der Gerusia, in die im Rahmen der politischen Willensbildung die beiden Könige institutionell integriert waren, durch die Antragsteller - Könige und Geronten – annulliert werden. In diesem Fall konnten Könige und Geronten die Versammlung kurzerhand für beendet erklären.

So beschreibt der Dichter Tyrtaios (fr. 14 Gentili-Prato) den wesentlichen Inhalt der Aussagen der Großen Rhetra über den Ablauf der Entscheidungsfindung in Sparta mit folgenden Worten:

„Dem Rat (der Gerusia) stehen vor 
die von den Göttern geschätzten Könige, 
die für das liebliche Sparta Sorge tragen; 
und (beraten sollen) die Geronten, 
schon alt an Jahren, 
dann geben die Männer des Volkes 
den wohlerwogenen Worten (des Rates) 
ihre Bestätigung.“

Tyrtaios bringt also klar zum Ausdruck, das die Volksversammlung als Damos der Spartiaten faktisch nur den Vorschlagen der Führung der Gemeinschaft zustimmen und sie dadurch bestätigen kann, so das sie ohne die Gerusia überhaupt nicht in der Lage ist zu agieren. So war die Entscheidungsfindung in der Volksversammlung eher eine bloße Befragung des Damos und insofern auch gewissermaßen ein Stimmungstest, durch den die dominierenden Personen in Sparta erfahren konnten, ob oder inwieweit sie für ihre Plane und Konzepte in der breiten Masse der Spartaner Zustimmung finden wurden.

Trotz eher bescheidener Rechte konnte der Damos wiederum im politischen Bereich nun nicht mehr einfach übergangen werden. Seine Einbindung in die Regelung öffentlicher Angelegenheiten war in einer Zeit des Übergangs von einer vorstaatlichen Gesellschaft zur „Staatlichkeit“ der Gemeinschaft der Spartaner eine Maßnahme, die nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte.

Die Akropolis von Sparta

Das Ephorat, das in klassischer Zeit zentrale Bedeutung für das politische Leben in Sparta gewinnen sollte und schon in spätarchaischer Zeit die Leitung der Volksversammlung übernahm, wird übrigens weder in der Großen Rhetra noch von Tyrtaios erwähnt.

So markiert die Große Rhetra eine wichtige Etappe im Prozess der Institutionalisierung der öffentlichen Organe in Sparta. Zumindest war jetzt der Anfang einer geregelten Interaktion dieser Organe gemacht, die verschiedene Personengruppen innerhalb der Gemeinschaft der Spartaner repräsentierten. Weiterhin stellte sie Kriterien für die Zugehörigkeit zur Bürgerschaft auf, so zum Beispiel durch die Einrichtung von Phylen und Oben. Jeder Bürger, sofern er als solcher gelten wollte, musste hier Mitglied sein. Somit wurde durch die Große Rhetra eine gemeinsame Identität der Spartiaten als Angehörige einer Kulturgemeinschaft geschaffen.


Literatur: Karl-Wilhelm Welwei: Sparta. Aufstieg und Niedergang einer antiken Großmacht, Stuttgart 2004 (Klett – Cotta)

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