Das 7. Jahrhundert war in Griechenland eine bedeutsame Phase
des Übergangs von vorstaatlichen Verhältnissen zu staatlichen Strukturen in
zahlreichen Gemeinwesen. In Sparta wird dieser folgenreiche Prozeß
gesellschaftlicher und politischer Transformation durch die Bestimmungen der
sogenannten Großen Rhetra markiert, dem wohl ältesten Dokument zur griechischen
Verfassungsgeschichte.
Die Ruinen des antiken Sparta (im Hintergrund das moderne Sparta und das Taygetos-Gebirge) |
Die Große Rhetra entstand im Kontext der messenischen Kriege,
durch die große Erweiterung des spartanischen Herrschaftsgebietes erfolgte.
Damit ergaben sich neue Aufgaben vor allem in Bezug auf die Kontrolle des neu
gewonnenen Landes sowie dessen Bevölkerung. Darüber hinaus stellte die
Einführung fester politischer Strukturen eine Art Machtnivellierung dar, die
der Konzentration von Macht in den Händen Weniger entgegenwirken sollte.
Generell wird als „Rhetra“ ein „feierlicher Spruch“ mit
bindender Geltung für die Gemeinschaft bezeichnet, die damit verpflichtet wird,
bestimmte Regeln einzuhalten und Verhaltensweisen zu befolgen.
Plutarch überliefert den Text der Großen Rhetra in seiner
Lebensbeschreibung über den mythischen spartanischen Gesetzgeber Lykurgos, der
sie wiederum als Spruch des Orakels zu Delphi empfängt, das dem legendären Gründer
der spartanischen Ordnung auf diesem Weg Anweisungen für grundlegende Reformen im
Gemeinschaftsleben gegeben haben soll.
Die Weisung des Delphischen Orakels lautete: „Nach
Errichtung eines Heiligtums für Zeus Syllanios und (Athena) Syllania sowie nach
Konstituierung von Phylen und Oben und eines Ältestenrates (Gerusia) mit dreißig
Mitgliedern einschließlich der Könige“ soll man in regelmäßigen Abständen … eine
Volksversammlung (Apella) einberufen und so dem Volk (Damos) der Spartaner
Anträge zur Abstimmung vortragen und die Versammlung nach der Zustimmung wieder
entlassen.
Lykourgos |
Die eigentliche Leitung hatten in Sparte also die als
Archagetai („Anführer“) bezeichneten Könige. Sie wurden von einem zahlenmäßig
fixierten elitären Kreis von Getonten beraten, die zu dieser Zeit als ranghohe
Personen wohl noch ausnahmslos aus den sogenannten „Großen Häusern“ Spartas
stammten. Ob sie damals schon wie in klassischer Zeit mindestens 60 Jahre alt
sein mussten und in einem eigentümlichen Verfahren, bei dem die Lautstarke der
applaudierenden Zustimmung für einen „Kandidaten“ den Ausschlag gab, vom Damos
„gewählt“ wurden, ist nicht bekannt.
Neben den öffentlichen Organe (Doppelkönigtum, Ältestenrat
und Volksversammlung) und der Definition ihrer Kompetenzen und Funktionen
spielte in der neuen Ordnung Spartas vor allem auch die genossenschaftliche
Organisationsform der Phyle (Stamm) und der Oben (Unterabteilungen der Phylen) eine
fundamentale Rolle für die neue, alle Bevölkerungsschichten der Spartaner
verbindende Einheit.
Ursprünglich entstanden die Phylen wohl als Zusammenschlüsse
auf nachbarschaftlicher Basis zu gemeinsamem Schutz und mit ordnungsstiftenden
Funktionen im Rahmen von Kleingesellschaften. Im Zuge der Polisbildung in
Griechenland entwickelten sie sich dann aber zu Gruppierungen innerhalb
politischer Gemeinschaften, indem sie als Verbände und innerhalb ihrer Verbände
Aufgaben für die größere Einheit der Polis übernahmen.
Die Bedeutung der Phyle in Sparta aber lag darin, das die
erbliche Zugehörigkeit zu einer Phyle für die Anerkennung als Vollbürger
bindend wurde. Diese Funktion bekamen die Phylen natürlich erst, als die Polis
zu einer politischen Einheit zusammenwuchs und sich allmählich auch klare Kriterien
für den Status des Bürgers herausbildeten.
Spartanischer Hoplit |
Unter diesen Voraussetzungen sollte die Große Rhetra die
Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für politisches und militärisches Handeln
der Gemeinschaft der Spartaner schaffen. Die ursprünglichen Dörfer Spartas
waren im 7. Jahrhundert allmählich gewachsene Siedlungseinheiten von
unterschiedlicher Größe. Durch die Neugliederung des Damos in Phylen hatte
nunmehr jeder erwachsene Spartaner seinen festen Platz im Aufgebot und damit
zugleich auch in der Gesellschaftsordnung und in der politischen Organisation.
Seine Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft manifestierte
sich in erster Linie in der erblichen Mitgliedschaft zu einer Phyle und
berechtigte ihn zur Teilnahme an den Versammlungen des Damos, dessen Aktionsmöglichkeiten
in der Großen Rhetra bereits als Kratos („Macht“) bezeichnet wird.
Zwar wurde im früharchaischen Sparta die Volksversammlung an
der Entscheidungsfindung beteiligt, dennoch hatte der Damos - theoretisch die Gesamtheit
der Teilnahmeberechtigten - nur eine nachgeordnete Funktion im Prozess der
Willensbildung und Entscheidungsfindung. Die Festlegung der politischen Vorhaben,
die entschieden werden mussten, blieb ebenso wie die Vorschläge zur Lösung oder
Bewältigung der anstehenden Probleme dem Rat vorbehalten, der formal aus den Königen
und den Geronten bestand.
Die als Apella bezeichnete Versammlung des Damos hatte somit
kein Initiativrecht, d. h. sie konnte weder die Agenda bestimmen noch eigene Anträge
stellen. Zudem konnte eine Entscheidung des Damos gegen eine Vorlage der
Gerusia, in die im Rahmen der politischen Willensbildung die beiden Könige
institutionell integriert waren, durch die Antragsteller - Könige und Geronten –
annulliert werden. In diesem Fall konnten Könige und Geronten die Versammlung
kurzerhand für beendet erklären.
So beschreibt der Dichter Tyrtaios (fr. 14 Gentili-Prato)
den wesentlichen Inhalt der Aussagen der Großen Rhetra über den Ablauf der
Entscheidungsfindung in Sparta mit folgenden Worten:
„Dem Rat (der Gerusia) stehen vor
die von den Göttern geschätzten
Könige,
die für das liebliche Sparta Sorge tragen;
und (beraten sollen) die
Geronten,
schon alt an Jahren,
dann geben die Männer des Volkes
den
wohlerwogenen Worten (des Rates)
ihre Bestätigung.“
Tyrtaios bringt also klar zum Ausdruck, das die
Volksversammlung als Damos der Spartiaten faktisch nur den Vorschlagen der Führung
der Gemeinschaft zustimmen und sie dadurch bestätigen kann, so das sie ohne die
Gerusia überhaupt nicht in der Lage ist zu agieren. So war die Entscheidungsfindung
in der Volksversammlung eher eine bloße Befragung des Damos und insofern auch gewissermaßen
ein Stimmungstest, durch den die dominierenden Personen in Sparta erfahren
konnten, ob oder inwieweit sie für ihre Plane und Konzepte in der breiten Masse
der Spartaner Zustimmung finden wurden.
Trotz eher bescheidener Rechte konnte der Damos wiederum im
politischen Bereich nun nicht mehr einfach übergangen werden. Seine Einbindung
in die Regelung öffentlicher Angelegenheiten war in einer Zeit des Übergangs
von einer vorstaatlichen Gesellschaft zur „Staatlichkeit“ der Gemeinschaft der
Spartaner eine Maßnahme, die nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte.
Die Akropolis von Sparta |
Das Ephorat, das in klassischer Zeit zentrale Bedeutung für das politische Leben in Sparta gewinnen sollte und schon in spätarchaischer Zeit die Leitung der Volksversammlung übernahm, wird übrigens weder in der Großen Rhetra noch von Tyrtaios erwähnt.
So markiert die Große Rhetra eine wichtige Etappe im Prozess
der Institutionalisierung der öffentlichen Organe in Sparta. Zumindest war
jetzt der Anfang einer geregelten Interaktion dieser Organe gemacht, die
verschiedene Personengruppen innerhalb der Gemeinschaft der Spartaner
repräsentierten. Weiterhin stellte sie Kriterien für die Zugehörigkeit zur
Bürgerschaft auf, so zum Beispiel durch die Einrichtung von Phylen und Oben. Jeder
Bürger, sofern er als solcher gelten wollte, musste hier Mitglied sein. Somit
wurde durch die Große Rhetra eine gemeinsame Identität der Spartiaten als
Angehörige einer Kulturgemeinschaft geschaffen.
Literatur: Karl-Wilhelm Welwei:
Sparta. Aufstieg und Niedergang einer antiken Großmacht, Stuttgart 2004 (Klett
– Cotta)
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