Donnerstag, 25. September 2014

Camus und die metaphysische Revolte Epikurs

Albert Camus (1913 – 1960) 
Albert Camus ist einer der bedeutendsten französischen Autoren des 20. Jahrhunderts und herausragender Vertreter des philosophischen Existentialismus.

Neben dem „Mythos von Sisypos“ (1942) ist es vor allem das zweite philosophische Hauptwerk „Der Mensch in der Revolte“ (1951), das Camus berühmt machte.

Ausgangspunkt von Camus Denken ist das Absurde. Damit beschreibt Camus die unüberbrückbare Zerrissenheit, Ambivalenz und Sinnlosigkeit als unvermeidbare Grundgegebenheit des menschlichen Daseins, die der Mensch im Verlauf seines Lebens immer wieder erlebt und von der er erschüttert wird.

Menschliche Würde verwirklicht sich angesichts des Absurden nur durch das bewusste Standhalten und die permanente Auflehnung gegen das Absurde. Der Selbstmord kann hier kein Ausweg sein, denn sich selbst zu töten, würde dem Menschen ja gerade die Möglichkeit nehmen, sein wahres Menschsein zu verwirklichen. 

So schreibt Camus: „Es gibt für den Menschen keine Freiheit, solange er seine Angst vor dem Tod nicht überwunden hat. Aber nicht durch Selbstmord. Um zu überwinden, darf man sich nicht aufgeben.“

"Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz ausfüllen.
Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen." (Camus)

Diese ständige Auflehnung gegen das Absurde ist die Revolte, eine ihrer Spielarten ist die metaphysische Revolte.  Sie besteht zunächst darin, „dass der Mensch an der transzendenten Sinngebung seiner Existenz zu zweifeln beginnt und gegen die transzendente Rechtfertigung des Leidens und des Sterbens revoltiert.“ 

Man darf die metaphysische Revolte jedoch nicht mit Atheismus gleichsetzen: „Der Revoltierende fordert eher heraus, als dass er leugnet. Am Anfang wenigstens beseitigt er Gott nicht, er spricht einzig als Ebenbürtiger mit ihm.“ Wer metaphysisch revoltiert, sei also nicht notwendig ein Gottesleugner, aber er ist unweigerlich ein Gotteslästerer.

„In den letzten Augenblicken des antiken Denkens“ nun findet die metaphysische Revolte ihre Sprache in der Philosophie Epikurs:

Epikur (341 - 270 v. Chr.)
„Die erschütternde Trauer Epikurs … ist zweifellos von einer Angst vor dem Tod eingegeben, welche dem griechischen Geist nicht fremd ist. Aber der pathetische Akzent dieser Angst ist aufschlussreich. `Man kann sich gegen alles sichern, doch was den Tod betrifft, bleiben wir wie die Bewohner einer geschleiften Festung.´ Weshalb also den Genuss auf später verschieben?

`Mit Warten´, sagt Epikur, `zehren wir unser Leben auf, und wir arbeiten uns alle zu Tode.´ Also muss man sich dem Genuss ergeben. Doch welch befremdlicher Genuss! Er besteht darin, die Fenster der Festung zuzumauern, sich des Brotes und des Wassers im stillen Schatten zu versichern. Da der Tod uns bedroht, muss man beweisen, dass der Tod nichts ist. (…)

`Der Tod ist nichts in Bezug auf uns, denn was aufgelöst ist, ist unfähig zu empfinden, und was nicht empfindet, ist nichts für uns.´ Ist es das Nichts? Nein, denn alles ist Materie in dieser Welt, und Sterben heißt nur, zum Urstoff zurückzukehren. Das Sein ist der Stein. Die einzigartige Wollust, von der Epikur spricht, besteht vor allem in der Abwesenheit von Schmerz; das ist das Glück der Steine.

Um dem Schicksal zu entgehen, tötet Epikur, mit einer herrlichen Bewegung, die wir bei unseren Klassikern wiederfinden, die Sensibilität und zuvörderst den ersten Schritt der Sensibilität: die Hoffnung.

Was der griechische Philosoph von den Göttern sagt, heißt nichts anderes. Alles Unglück der Menschen stammt von der Hoffnung, die sie dem Schweigen der Festung entreißt und sie auf die Wälle treibt in Erwartung des Heils. Diese unvernünftige Bewegung hat keine andere Wirkung, als sorgfältig verbundene Wunden neu zu öffnen.

Der wahre Genuss liegt im Verzicht:
"... sich des Brotes und des Wassers im stillen Schatten zu versichern ..."

Deshalb leugnet Epikur die Götter nicht, er entfernt sie so schwindelnd weit, dass die Seele keinen anderen Ausweg hat, als sich aufs Neue einzumauern. `Das glückselige und unsterbliche Wesen hat nichts zu tun und gibt niemandem etwas zu tun.´ (…) Vergessen wir also die Götter, denken wir nie an sie, und `weder eure Gedanken bei Tag noch eure Träume bei Nacht werden euch Unruhe verursachen.´ (…)

[So] urteilt Epikur, dass, da man sterben muss, das Schweigen des Menschen dieses Geschick besser vorbereitet als die Worte der Götter. Die lange Bemühung dieses seltsamen Geistes erschöpft sich darin, um den Menschen eine Mauer zu errichten, die Festung neu zu panzern und ohne Gnade den ununterdrückbaren Schrei der menschlichen Hoffnung zu ersticken.

Ist dieser strategische Rückzug einmal abgeschlossen, dann erst wird Epikur, gleich einem Gott inmitten der Menschen, das Siegeslied anstimmen, das den defensiven Charakter seiner Revolte gut ausdrückt:

`Ich habe deine Schlichte durchkreuzt, o Schicksal, ich habe alle Wege verrammelt, auf denen du mich erreichen konntest. Wir lassen uns weder von dir noch einer anderen bösen Macht besiegen. Und wenn die Stunde des unvermeidlichen Aufbruchs geschlagen hat, wird unsere Verachtung für die, welche sich vergeblich ans Dasein klammern, in die schönen Worte ausbrechen: Ah, wie würdig haben wir gelebt!´“

Zitate aus: Albert Camus: Der Mensch in der Revolte, Reinbek 2013 (Rowohlt)


Donnerstag, 18. September 2014

Adam Smith und der Lohn der Arbeit

Adam Smith (1723 - 1790)
Im Jahre 1776 erscheint „Der Wohlstand der Nationen“ des schottischen Moralphilosophen und Nationalökonomen Adam Smith. Smith urteilt grundsätzlich positiv über die Veranlagung des Menschen, seine eigene Lage verbessern zu wollen, denn er ist der Überzeugung, dass sich erst im Zuge dieser ständigen individuellen Anstrengung auch die produktiven Kräfte eines Landes überhaupt erst entwickelt werden können.

Das Werk von Smith ist ein klares Plädoyer für eine freie Marktwirtschaft. Dies wird auch in seinen Gedanken zur Lohntheorie deutlich. Smith plädiert für den freien Arbeitsmarkt, wo Angebot und Nachfrage die Höhe des Lohnes bestimmen.

Die Höhe des Lohns ist zunächst einmal abhängig von dem Kapital, das die Unternehmer (oder Landwirte) zur Entlohnung der Arbeiter zur Verfügung haben: In den allermeisten Fällen sind die Arbeiternehmer „auf einen Unternehmer angewiesen, der ihnen das Rohmaterial und ihren Lohn und Unterhalt so lange vorschießt, bis das Produkt ihrer Arbeit fertig ist. Er teilt sich mit ihnen den Ertrag ihrer Arbeit, … den Wert, den die Arbeiter dem bearbeiteten Rohmaterial hinzufügen. Und in diesem Anteil besteht sein Gewinn“ (57).

Die unterste Grenze des Lohns wird durch den Subsistenzlohn bestimmt, der gerade so hoch ist, dass die Erhaltung der Arbeitskräfte gewährleistet wird. „Der Mensch ist darauf angewiesen, von seiner Arbeit zu leben, und sein Lohn muss mindestens so hoch sein, dass er davon existieren kann. Meistens muss er sogar noch höher sein, da es de Arbeiter sonst nicht möglich wäre, eine Familie zu gründen“ (59).

"Der Ertrag der Arbeit ist die natürliche Vergütung oder der Lohn der Arbeit“
(Adam Smith, 56)

Solange aber die Nachfrage nach Arbeit stärker wächst als das Angebot wird auch der Lohnsatz steigen. Eine bessere Entlohnung führt wiederum zu erhöhter Arbeitsproduktivität. „Unter gewissen, für die Arbeiter günstigen Umständen gelingt es ihnen bisweilen jedoch, einen Lohn durchzusetzen, der beträchtlich über dieser Höhe des Existenzminimums liegt, also über dem offenbar niedrigstem Satz, der eben noch mit unserer Vorstellung von Humanität vereinbar ist“ (60).

Wenn also in einem Land „die Nachfrage nach Arbeitern, Gesellen oder Dienstboten, die nur von ihrem Lohn leben“, ständig zunimmt und wenn jedes Jahr mehr Arbeitsplätze vorhanden sind als im Jahr zuvor, dann haben die Arbeiter einerseits keinen Anlass, sich zu gewerkschaftlich organisieren, um höhere Löhne zu erreichen. Der Mangel an Arbeitskräften führe nämlich zu einem Wettbewerb unter den Unternehmern, die sich andererseits gegenseitig überbieten, um Arbeiter zu bekommen, „so dass sie freiwillig die natürliche Absprache über eine gemeinsame Lohnpolitik durchbrechen“ (60).

Lohnverhandlung
Die Löhne werden zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern vertraglich ausgehandelt. Weil die Arbeitgeber hier Verhandlungsvorteile besitzen, solle der Staat die Vertragsvermittlung fördern: „Was üblicherweise Arbeitslohn ist, hängt überall von dem Vertrag ab, den beide Parteien gewöhnlich miteinander vereinbaren, wobei die Interessen der beiden keineswegs die gleichen sind. Der Arbeiter möchte so viel wie möglich bekommen, der Unternehmer so wenig wie möglich geben“ (58).

So ist die Höhe des Lohns also auch abhängig von dem vorhandenen Arbeitsangebot, das wiederum mit der Bevölkerungsentwicklung zusammenhängt: „Die Nachfrage nach Lohnarbeitern steigt also zwangsläufig, wenn Einkommen und Kapital in einem Lande zunehmen, aber auch nur unter dieser Voraussetzung. Wachstum von Einkommen und Kapital bedeutet Zunahme des nationalen Wohlstands, was wiederum die entscheidende Voraussetzung für eine wachsende Nachfrage nach Arbeitskräften ist. Es ist nicht die absolute Höhe des nationalen Wohlstands, sonder seine kontinuierliche Zunahme, von welcher ein Anstieg der Arbeitslöhne abhängt“ (60f)

So entscheidet letztlich unter den Bedingungen der Vertragsfreiheit der Markt allein über das Lohnniveau. Die Frage, ob es eine allein aus der erbrachten Leistung „gerecht“ ableitbare Vergütung geben kann, muss daher in einer freien Gesellschaft eindeutig verneint werden. So weist Norbert Hoerster in seinem Buch „Was ist eine gerechte Gesellschaft?“ darauf hin, dass die Vergütung für eine Leistung allein das Ergebnis eines Vertrages ist. Wie die Leistung eines Menschen zu vergüten sei, hänge in einer freien Gesellschaft aber ausschließlich von der Nachfrage der Menschen ab.

Dort wo gut regiert wird, wird auch fleißig und zum Wohle aller gearbeitet ...(Fresco von Ambrogio Lorenzetti im Alten Rathaus von Siena)

Die Arbeitsproduktivität – und darin eingeschlossen das Lohnniveau - ist somit zugleich ein natürliches Symptom und notwendige Folge eines steigenden Wohlstandes eines Landes: „Die reichliche Entlohnung der Arbeit ist somit nicht nur Folge sondern zugleich natürliches Kennzeichen eines zunehmenden Wohlstandes, während andererseits die schlechte Versorgung der ärmeren Arbeiterschicht ein untrügliches Zeichen für eine Stagnation ist. Hungern gar die Armen, so drückt dies aus, dass sich die Wirtschaft rasch zurückentwickelt“ (64).

Die Verbesserung der Lebensumstände der unteren Schichten ist auch für die Gesellschaft insgesamt vorteilhaft. „Und ganz sicher kann keine Nation blühen und gedeihen, deren Bevölkerung weithin in Armut und Elend lebt. Es ist zudem nicht mehr als recht und billig, wenn diejenigen, die alle ernähren, kleiden und mit Wohnung versorgen, soviel vom Ertrag der eigenen Arbeit bekommen sollen, dass sie sich selbst richtig ernähren, ordentlich kleiden und anständig wohnen können“ (68).

Schließlich weist Smith noch aus motivationstheoretischer Sicht auf den persönlichen Einsatz und Fleiß hin, denn ein hohes Entgelt für die Arbeit „spornt auch den einfachen Mann zu größerem Fleiß an, der, wie jede andere menschliche Eigenschaft in dem Maße zunimmt, in dem er angeregt wird. Reichlicher Unterhalt erhöht den körperlichen Einsatz des Arbeiters. Er wird sich bis zum Äußersten anstrengen, wenn er wirklich hoffen kann, dass sich seine Lage verbessert und er im Alter sorgenfrei, vielleicht sogar gut leben kann. Dort, wo die Löhne hoch sind, finden wir daher die Arbeiter immer fleißiger, gewissenhafter und auch schneller bei der Hand als dort, wo sie niedrig sind“ (70f).

Schaut man sich die Entwicklung des realen Pro-Kopf-Einkommens in den letzten hundert Jahren an, dann wird Smiths These eindeutig bestätigt und die Verelendungstheorie des Marxismus ebenso eindeutig widerlegt.

Zitate aus: Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, München 2009 (dtv)   -   Norbert Hoerster: Was ist eine gerechte Gesellschaft? Eine philosophische Grundlegung. München 2013 (C.H. Beck)

Donnerstag, 11. September 2014

Norbert Hoerster und die Begründung von Gerechtigkeitsnormen

Norbert Hoerster (*1937)
In seinem Buch „Was ist eine gerechte Gesellschaft?“ erörtert Norbert Hoerster nicht nur die zentralen Themen staatlicher wie sozialer Gerechtigkeit - darunter die Frage nach individuellen Grundrechten, der Verteilung des Wohlstands, der Legitimität des Privateigentums und der Steuergerechtigkeit -, sondern er geht auch der Frage nach, wie sich Gerechtigkeitsnormen und –urteile begründen lassen.

Hoerster geht davon aus, dass eine gerechte Gesellschaft daran erkennbar ist, dass in ihr gerechte Normen gelten, die in der Regel zu gerechten Handlungen und zu einem gerechten Umgang der Bürger miteinander führen.

Weil natürlich nicht jede moralische Norm auch zugleich eine Gerechtigkeitsnorm ist, betrachtet Hoerster in seinem Buch nur zwei Kategorien von Normen, die eine klare Forderung nach Gerechtigkeit enthalten:

„1. Es handelt sich um fundamentale Forderungen, die für Leben und Wohlergehen aller oder jedenfalls zahlreicher Bürger von zentraler Bedeutung sind. Ich bezeichne diese Normen im Folgenden als Normen der `Grundgerechtigkeit.´

2. Es handelt sich um fundamentale Forderungen, die Wohlstand oder Lebensqualität einer Gruppe der Gesellschaft in Relation zum Wohlstand einer anderen Gruppe der Gesellschaft betreffen und die Herstellung einer gewissen Annäherung des Wohlstands beider Gruppen – möglicherweise bis zu seiner völligen Gleichheit – beinhalten. Ich bezeichne diese Normen im Folgenden als Normen der `Verteilungsgerechtigkeit´“ (16).


Grundgerechtigkeit - Garantie des Lebens und Wohlergehens aller

Eine Gesellschaft, in der diese Normen Geltung besitzen - Normen der „ausgleichenden Gerechtigkeit“ werden von Hoerster in diesem Buch bewusst nicht behandelt -, könnte demnach als gerechte Gesellschaft bezeichnet werden. Hinzu käme als weitere Bedingung das Vorhandensein der notwendigen rechtlichen Institutionen zur wirksamen Umsetzung der Gerechtigkeitsnormen.

Gerechtigkeitsnormen, so Hoerster, stellen Forderungen auf, „die sich in ihrem Wesen nach nicht bloß von einem Individuum an ein anderes Individuum, sondern aus der Mitte einer ganzen Gesellschaft an eine Vielzahl von Individuen richten“ (18).

Die Existenz solcher Normen ist für den einzelnen Bürger gleichwohl nicht ungebrochen positiv: Gerechtigkeitsnormen schränken die individuelle Freiheit erheblich ein und das Nicht-Befolgen dieser Normen ist stets mit der Androhung von teilweise drastischen Sanktionen verbunden.

Verteilungsgerechtigkeit: Wer bekommt wieviel von wem?

Wenn also Gerechtigkeitsnormen immer auch mit Pflichten und Nachteilen für den einzelnen Bürger verbunden sind, dann ergibt sich daraus Anspruch, dass diese Normen stets einer Begründung bedürfen.

Eine logisch denkbare Begründung wäre das Auffinden von Gerechtigkeitsnormen mithilfe der reinen Erkenntnis. Dies würde voraussetzen, dass die gesuchten Normen der Gerechtigkeit bereits objektiv existieren und „nur“ als Gegenstand unseres Erkenntnisvermögens „entdeckt“ zu werden bräuchten. 

Gegen diese Begründung wendet Hoerster ein, dass – realistisch betrachtet – diese Normen menschliche Erfindungen sind bzw. Instrumente zur  Erreichung bestimmter Ziele, die wiederum vom Menschen „erfunden“ bzw. festgelegt wurden. Es gibt also keine verborgene Liste solcher Normen, „die uns in einer objektiven Realität vorgegeben und als Gegenstand reiner Erkenntnis erfassbar sind“ (23).

Eine zweite Begründung von Gerechtigkeitsnormen betrifft ihre Ableitung allein aus empirischen Erkenntnissen und Erfahrungen. Hier gibt es jedoch die Gefahr des „naturalistischen Fehlschlusses“, dem zufolge es logisch nicht haltbar ist, aus einem Seinsurteil (einem Urteil, dass etwas in der Wirklichkeit der Fall ist) ein Sollensurteil (ein Urteil darüber, was gerechterweise der Fall sein soll) abzuleiten.

Als dritte Begründung führt Hoerster nun – im Anschluss an John Rawls – die „intersubjektive Zustimmung“ ein: „Unsere Gerechtigkeitsurteile sind unter der Voraussetzung begründet, dass es für unsere moralischen Einstellungen, auf denen sie beruhen, gute Gründe gibt. Und sie sind als Forderungen der Gerechtigkeit auch unseren Mitmenschen gegenüber begründet, wenn wir davon ausgehen können, dass es auch für unsere Mitmenschen gute Gründe gibt, diese Einstellungen zu teilen bzw. diesen Normen zuzustimmen“ (22).

Auf diese Weise lassen sich Gerechtigkeitsnormen als jene aufgeklärten Ziele und Interessen verstehen, von denen man annehmen kann, „dass sie jedenfalls die meisten Menschen in einem urteilsfähigen und über alle relevanten Umstände informierten Zustand haben“ (ebd.).

Intersubjektive Zustimmung

Dies gilt selbstverständlich für die beiden o.g. Kategorien von Gerechtigkeitsnormen, in besonderem Maße aber für die Normen der Verteilungsgerechtigkeit. Hier geht es ja gerade darum, die unterschiedlichen Interessen von Individuen und Gruppen auszugleichen. Statt bei der Lösung dieses Problems auf irgendwelche absoluten Gerechtigkeitsprinzipien zu rekurrieren, kommt es vielmehr darauf an, herauszufinden, welche der möglichen Lösungen im jeweiligen Fall für das betroffene Individuum oder die betroffene Gruppe fairerweise zumutbar sind, indem wir uns beispielsweise dabei in die Lage der Betroffenen hineinversetzen.

Eine Begründung von Gerechtigkeitsnormen muss also in einer Kombination von begründeten moralischen Einstellungen mit zusätzlichen empirischen Annahmen bestehen. Ob und wieweit auf dieser Grundlage ein intersubjektiver Konsens über die anstehenden Fragen der Gerechtigkeit erreichbar ist, muss für jede einzelne dieser Fragen gesondert untersucht werden.

In jedem Fall müssen wir stets mit der Möglichkeit rechnen, dass „zumindest in manchen Fragen der Gerechtigkeit eine wirklich allgemeine, bzw. weitestgehende Zustimmung nicht erreichbar sein wird" (23).

Die Hoffnung aber bleibt, dass die Mehrzahl der Menschen „ein Interesse im Sinne eines rationalen Wunsches“ danach habt, dass Rechte und Güter untereinander in bestimmter, d.h. gerechter Weise verteilt werden.

Zitate aus: Norbert Hoerster: Was ist eine gerechte Gesellschaft? Eine philosophische Grundlegung. München 2013 (C.H. Beck)


Donnerstag, 4. September 2014

Adam Smith und die unsichtbare Hand

Mit dem 1776 erstmals erscheinenden Werk An Inquiry into the Nature an Causes of the Wealth of Nations gelingt es Adam Smith (1723 – 1790), dem Fach der Politischen Ökonomie nicht nur thematisch, sondern auch methodisch einen bedeutenden Platz in der Runde der Wissenschaften zu erobern.

Kaum eine Metapher ist so bekannt geworden, wie die von der „unsichtbaren Hand“ – und kaum eine ist so gründlich missverstanden worden wie sie. Smith wurde vorgeworfen, er würde die Auffassung vertreten, ein selbstsüchtiges Verhalten der wirtschaftlichen Akteure sei notwendig, denn nur auf diese Weise könne man für die Gesellschaft optimale Resultate erzielen.

Einige Kritiker gingen sogar soweit, Smith und Bernand Mandeville (1670 – 1733) zu ideologischen Verbündeten zu erklären. Mandeville, strenger Verteidiger des Merkantilismus, hatte in seiner berühmten Bienenfabel (1705) behauptet, dass nicht die Tugend, sondern das Laster die eigentliche Quelle des Gemeinwohls sei:

„So klagt denn nicht: für Tugend hat’s
In großen Staaten nicht viel Platz.
Mit möglichstem Komfort zu leben,
Im Krieg zu glänzen und doch zu streben,
Von Lastern frei zu sein, wird nie
Was andres sein als Utopie.
Stolz, Luxus und Betrügerei
Muß sein, damit ein Volk gedeih’.
Quält uns der Hunger auch oft gräßlich,
Zum Leben ist er unerläßlich.
(...)
Ja, will das Volk nach Größe streben,
Muß es im Staat auch Sünde geben,
Mit Tugend bloß kommt man nicht weit;
Wer wünscht, daß eine goldene Zeit
Zurückkehrt, sollte nicht vergessen:
Man mußte damals Eicheln essen.“

Die provokanten ethischen Anschauungen, die Mandeville in der Bienenfabel formuliert, lösten schon unter den Zeitgenossen eine lebhafte Diskussion aus, in der seine Ansichten fast durchweg abgelehnt wurden. Dass persönliche Tugend für Fortschritt und Prosperität der Gesellschaft weniger förderlich seien als Luxus, Verschwendung, Krieg und Ausbeutung, erregte Widerspruch, auch und gerade bei Adam Smith.

Das Bild von der unsichtbaren Hand ist eingebettet in die klassischen Konzepte des freien Marktes und der Konkurrenz, also der Rivalität zwischen Anbietern und Nachfragern einer Sache auf dem gemeinsamen Feld des Marktes. Firmen konkurrieren um Marktanteile, Arbeiter um Arbeitsplätze, Pächter um Grund und Boden. Bei Smith ist freie Konkurrenz das Ideal schlechthin. Sie bezeichnet die Abwesenheit jeglicher Markteintritts- wie Marktaustrittsschranken. So sind Monopole und Privilegien generell Mobilitätshemmnisse für Arbeitskräfte und Kapital – sie gereichen allein zum Vorteil Einzelner und zum Nachteil Vieler. Das ist die Position von Mandeville!

Der Markt - ein komplexes System

Freie Konkurrenz im Dienste der Selbstregulierung des Marktes wirkt also wie eine „unsichtbare Hand“, die sich ohne zu strafen des Eigeninteresses der Menschen bedient. Kommt es auf dem Markt zu Güterknappheit, dann treibt die Konkurrenz der Nachfrager den Marktpreis in die Höhe. Die Aussicht auf hohe Gewinnspannen lockt Kapital und Arbeitskräfte an, es kommt zu einer Steigerung der erzeugten Gütermenge, was wiederum die Senkung des Marktpreises bewirkt.

Bereits im Jahre 1759 hatte Smith seine „Theorie der ethischen Gefühle“ veröffentlicht, in der er der Frage von Ursache und Entwicklung von Ethik und Moral nachgeht. Schon in diesem Werk urteilt Smith grundsätzlich positiv über die Veranlagung des Menschen, seine eigene Lage verbessern zu wollen, denn er ist der Überzeugung, dass sich erst im Zuge dieser ständigen individuellen Anstrengung auch die produktiven Kräfte eines Landes überhaupt erst entwickelt werden können.

Dennoch bekämpft Smith kompromisslos die Auswüchse des Merkantilsystems und seines entfesselten Gewinnstrebens. Als dessen Hauptakteure sieht er geld- und machtgierigen Kaufleute am Werk, die – besessen vom „unseligen Monopologeist“ – the wretched spirit of monopoly – allein das Ziel verfolgen, sich individuell Vorteile zu Lasten der Allgemeinheit zu verschaffen.

Dagegen nun setzt Smith seine Metapher von der unsichtbaren Hand: „Indem der Einzelne sein eigenes Interesse verfolgt, fördert er häufig – frequently – das der Gesellschaft wirksamer, als wenn er sich wirklich vornimmt, es zu fördern.“ Von „häufig“ ist die Rede, nicht von „immer“.

Noch wichtiger aber ist der folgende Hinweis Smiths: Damit die Verfolgung des Eigeninteresses auch das Allgemeininteresse fördert und ihm nicht schadet, müssen gewisse institutionelle Voraussetzungen erfüllt sein. Hierbei handelt es sich um ein System positiver Gesetze, das die Regeln der Gerechtigkeit durch Androhung von Sanktionen erzwingt, wozu es letztlich des Staates und seiner Institutionen bedarf.

„Die Wirkungsweise des Eigeninteresses ist nicht wegen einer natürlichen Übereinstimmung zwischen dem Eigeninteresse eines jeden Einzelnen und dem für alle Guten segensreich, sondern weil menschliche Institutionen idealerweise so eingerichtet sind, dass sie das Eigeninteresse dazu zwingen, in Richtungen zu wirken, in denen es segensreich ist“ (Edwin Cannan, zit. nach Kurz, 32).

Diese Institutionen und Gesetze zu schaffen sei nun die Aufgabe des Staatsmannes. Der „Wohlstand der Nationen“ will dazu eine konkrete wissenschaftliche Hilfestellung bieten. Er ist somit wahrhafte „Politische Ökonomie.“

Ordnungspolitik und Rechtsstaatlichkeit -
das Ziel Politischer Ökonomie

Der Staat hat bei Smith also die klare ordnungspolitische Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es selbst im Interesse schlechter Menschen liegt, für alle Guten zu handeln. Auf einer tieferen Ebene geht es Smith darum, den alten Obrigkeitsstaat in einen modernen Rechts- und Leistungsstaat umzuwandeln.

So müsse es in jedem Gemeinwesen Einrichtungen geben, die die Macht haben, das Leben und das Eigentum nach außen und nach innen zu schützen, Streit und Auseinandersetzungen gerecht zu schlichten und den Menschen im Staat jene Güter und Dienstleistungen anzubieten, die „ihrer ganzen Natur nach niemals einen Ertrag abwerfen, der hoch genug … sein könnte, um die anfallenden Kosten zu decken“ (Wohlstand, 612). Dies gelte vor allem für die Aufgabe einer vom Staat finanzierten elementaren Schulausbildung.

                                   
Zitate aus:  Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, hg. mit einer umfassenden Würdigung des Gesamtwerkes von Horst Claus Recktenwald, München 2009 (dtv)   -   Bernard Mandeville, Die Bienenfabel oder Private Laster, öffentliche Vorteile. Die deutsche Ausgabe folgt dem Text der dritten Auflage von 1724. Mit einer Einleitung von Walter Euchner. 2. Aufl. Frankfurt/Main 1980 (Surhkamp)   -   Heinz D. Kurz: Geschichte des ökonomischen Denkens, München 2013 (C.H.Beck)