Freitag, 9. August 2024

Ulrich Menzel und der Einfluss der Globalisierung auf den Strukturwandel des Parteiensystems

In seinem Buch „Wendepunkte: Am Übergang zum autoritären Jahrhundert“ identifiziert der Politikwissenschaftler Ulrich Menzel verschiedene Wendepunkte einer Welt in Aufruhr. Die Globalisierung ist entzaubert, die USA und China ringen um die Hegemonie. Wir erleben eine Rückkehr alter Grenzen, der Anarchie der Staatenwelt, des Autoritären (weltweit und in den liberalen Gesellschaften), ja sogar des Krieges in Europa.

 

Ein wichtiger Aspekt dieses Szenariums ist der durch die Globalisierung ausgelöste Strukturwandel des Parteiensystems, insbesondere der Niedergang der Volksparteien.

 

Die Ergebnisse der Bundestagswahl 2021 machen diesen Niedergang eindrucksvoll deutlich: „Während dieser sich für die SPD bereits mit der Bundestagswahl 2009 manifestierte, als sie weniger als 10 Millionen Stimmen erzielte und damit wieder bei der Größenordnung von 1957 angelangt war, bestätigte er sich jetzt auch für die Union, die mit gut 11 Millionen Stimmen schlechter als 1953 abschnitt.“

 

Die neuen Bruchlinien der Globalisierung ...

Eine häufig herangezogene Erklärung bzw. Theorie lautet, daß Volksparteien in sie tragenden sozialen Milieus verankert sein müssen. “Für die SPD war es das gewerkschaftliche Milieu, das nicht nur aus den Gewerkschaften, sondern auch dem dritten Bein der Arbeiterbewegung, den Genossenschaften, bestand, ferner ihrer Presse, den Verlagen, Bildungs- und Sozialeinrichtungen wie Arbeiterwohlfahrt und Arbeiter-Samariter-Bund sowie den vielen Vereinen vom Fußball (Eintracht oder Rot-Weiß) über die Bergmannskapelle bis zu den Taubenzüchtern.” 

 

Für die konservativen Volksparteien wie BVP oder Zentrum bzw. nach 1945 für die CDU/CSU “war es das kirchliche Milieu, das nicht nur aus den Kirchen, dem Kirchenjahr und der Begleitung der Familienfeste von der Taufe bis zur Beerdigung, sondern auch aus den vielen kirchlichen Institutionen bestand vom Kindergarten über die Schule bis zur Alten- und Krankenpflege, den Jugendorganisationen, Kirchenchören und Bibelkreisen. Auch die katholischen Gewerkschaften gehörten dazu.” So habe nach Menzel die Arbeiterschaft im katholischen Ruhrgebiet bis 1933 auch Zentrum und keineswegs nur SPD oder KPD gewählt!

 

Demgegenüber waren die Liberalen nicht in vergleichbar breite Milieus eingebettet, “sondern blieben dem Typus der Honoratiorenparteien mit ihren persönlichen Netzwerken verhaftet, was für die FDP bis heute gilt.”

 

Nur: “In dem Maße, wie der Strukturwandel von der Agrar- über die Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft bis hin zur virtuellen Ökonomie des Internets Platz greift, werden die alten gesellschaftlichen Bruchlinien geschliffen. Der Aufstieg Ost- und Südostasiens zur `Werkbank der Welt´ wurde erkauft mit dem Niedergang der alten Industrieregionen des Westens. Hier kommt ganz augenscheinlich der Faktor Globalisierung ins Spiel.”

... Automatisierung und Digitalisierung ...

Die neue internationale Arbeitsteilung, aber auch die Automatisierung und Digitalisierung, führe laut Menzel dazu, daß es hierzulande immer weniger Arbeiter, immer weniger Gewerkschafts- und Genossenschaftsmitglieder gibt. “Man denke nur an das Schicksal von Konsum, Neue Heimat, Bank für Gemeinwirtschaft und Volksfürsorge. Weitere Kennzeichen der Globalisierung sind Prozesse der Säkularisierung und des kulturellen Wandels, die gerade die Kirchen betreffen mit der Folge von Mitgliederschwund, rückläufiger Kirchensteuer und der Notwendigkeit, kirchliche Leistungen zu reduzieren und Institutionen ganz abzubauen. Auf dem Land betreut ein Pfarrer nicht mehr eine, sondern bis zu fünf oder sechs Gemeinden. Leerstehende Kirchen werden zum Verkauf angeboten.”

 

Umgekehrt haben sich neue Bruchlinien gebildet, u.a. “die zwischen Gewinnern und Verlierern der Globalisierung nicht nur im Weltmaßstab, sondern auch innerhalb der ehemaligen Industriegesellschaften. Die Gewinner sitzen in den Metropolen und arbeiten in den expandierenden Branchen des FIRE-Sektors (finance, insurance, real estate). Seit der Finanzkrise und der Null-Zins-Politik zu ihrer Bekämpfung boomt die Immobilienbranche besonders.

 

Die Verlierer der Globalisierung sitzen in den alten Industrieregionen, dort, wo sich die Industriebrache ausbreitet, im Rust Belt der USA, in den englischen Midlands, wo die industrielle Revolution ihren Ausgang nahm, im Nordosten von Frankreich oder im Ruhrgebiet.” In Deutschland gäbe es sogar die doppelten Verlierer, erst der Wiedervereinigung und dann der Globalisierung, ist der deutsche Osten doch erst seit 1990 mit der Globalisierung konfrontiert worden.

 

“Die zweite neue Bruchlinie ist die zwischen Ökonomie und Ökologie – in anderer Hinsicht ein Resultat der Globalisierung. Die vielen Beispiele aufzuzählen, etwa den Energieverbrauch und die Emissionen auf den “Lieferketten” des weltweiten Gütertransports zu Wasser und zu Lande, erübrigt sich.”

 

Ökonomie vs. Ökologie

Die Auswirkungen sind mehr als deutlich: “Auf der einen Seite zerbröselt das gewerkschaftliche Milieu genauso wie das kirchliche mit den genannten Konsequenzen für Mitglied- und Wählerschaft von SPD und Linken bzw. CDU und CSU.”
 

Gleichzeitig haben sich zwei neue Milieus etabliert, die Menzel als das “kosmopolitische” und das “populistische” Milieu bezeichnet:


Im kosmopolitischen Milieu versammeln sich die Gewinner der Globalisierung, die mit den überdurchschnittlichen Einkommen, die Gebildeten, die Weitgereisten, die Fremdsprachenkundigen, die Globalisierung auch in kultureller Hinsicht als Bereicherung empfinden. Hierzu gehört paradoxerweise auch ein Teil der Globalisierungskritiker, der durch den Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie mobilisiert wird. Dieses Milieu wurzelt in der 68er-Bewegung, der Friedensbewegung, den Dritte-Welt-Gruppen, den Anti-AKW- und Umweltgruppen, den Menschenrechts-, Feminismus-, Gender- und neuerdings Flüchtlingsinitiativen. 

 

"Die kosmopolitischen Milieus haben die größte Klappe!" (Cornelia Koppetsch)

Auch wenn dessen Mitglieder überwiegend einen bürgerlichen Hintergrund haben, so verstehen sie sich zwar nicht mehr sozioökonomisch, aber doch kulturell als links. Alles das erklärt den Aufstieg der Grünen, zwar (noch) nicht zur Volkspartei, aber zu einer neuen bürgerlichen Partei mit wachsender, wenn auch nicht widerspruchsfreier Schnittmenge zur FDP und abnehmender Schnittmenge zur SPD.”
 
Auch die Etablierung des populistischen Milieus sei nach Menzel eine Reaktion auf die Globalisierung, “in sozioökonomischer Hinsicht durch den Verdrängungswettbewerb, in kultureller Hinsicht durch die Migration insbesondere dann, wenn der Faktor Islam hinzukommt.


Hier wird Globalisierung nicht als Bereicherung, sondern als Bedrohung empfunden, nicht zuletzt deshalb, weil die eigentliche Integrationsarbeit nicht in den gutbürgerlichen Vierteln der Kosmopoliten, sondern in den sozialen Brennpunkten, dort, wo die Wahlbeteiligung besonders niedrig ist, geleistet werden muß.


Aus dem populistischen Milieu rekrutieren sich in den USA die Trump-Wähler, in England die Brexit-Befürworter, in Frankreich die des Rassemblement National, in Italien die der Fratelli d'Italia und in Deutschland die der AFD.


Untereinander sich überlappende und nicht widerspruchsfreie Komponenten des sehr heterogenen Milieus sind die Reichsbürger, Identitären, Verschwörungstheoretiker, Querdenker, Pegida, Putin-Versteher, alte und neue Nazis, Esoteriker, Impfgegner, Sekten, aber auch alte Waffennarren und neue Kampfsportgruppen, Rocker, Hooligans und radikale Fangruppen des Fußballs.”


Die Tatsache, dass es zwar kaum in den alten, sehr wohl aber in den neuen Bundesländern eine direkte Wählerwanderung von der Linken zur AFD gibt, hat demnach auch strukturelle Gründe, insofern es im `Osten´ besonders viele Globalisierungsverlierer im doppelten Sinne gibt: “Im Chemiedreieck des mitteldeutschen Braunkohlereviers gibt es in dem Maße, in dem die Bruchlinie zwischen Ökologie und Ökonomie zugunsten der Ökologie geschliffen wird, weil Braunkohle durch Flüssiggas aus aller Welt ersetzt wird, sogar noch eine Steigerung auf der Verliererskala. 

 

Aus dieser Perspektive sind selbst die Querfrontinitiativen von Sahra Wagenknecht zur Sammlung linker und rechter Verlierer der Globalisierung aus dem populistischen Milieu eine Reaktion auf Globalisierung und nachvollziehbar, daß sie den klassischen Internationalismus der Linken durch einen »nationalen Sozialismus« ersetzen will. Der Begriff ruft in Deutschland keine guten Erinnerungen hervor.”


Menzel ist der festen Überzeugung, dass, “solange die alten Bruchlinien sich weiter abschleifen, die neuen Bruchlinien sich weiter schärfen und die neuen Milieus weiteren Zulauf bekommen, werden der Niedergang der alten Volksparteien und der Strukturwandel des Parteiensystems sich fortsetzen” und zwar unabhängig von der Frage, welche personellen bzw. inhaltlichen Angebote die Parteien machen, weil die politischen Vorhaben (z.B. Digitalisierung, ökologischer Umbau der Wirtschaft) unweigerlich Konsequenzen haben für die alten wie die neuen Bruchlinien und sie damit auch die alten und neuen Milieus, in denen die Parteien verankert sind oder waren, stärken oder weiter schwächen.

 

 

Zitate aus: Ulrich Menzel: Wendepunkte: Am Übergang zum autoritären Jahrhundert, Berlin 2023

Weitere Literatur:„Die kosmopolitischen Milieus haben die größte Klappe“, Interview mit Cornela Koppetsch am 30. August 2019 in: Cicero. Das Magazin für politische Kultur

 

 

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