In seinen Essays und Vorträgen über Erziehung und Bildung (gehalten zwischen
1913 und 1928) widmet sich der weltberühmte Mathematiker Alfred North Whitehead
auch dem Thema „Rhythmus von Erziehung und Bildung“.
Whitehead vertritt hier
die These, dass Fortschritt von Schülern weder kontinuierlich noch linear von
leichteren zu schwereren Inhalten verläuft, sondern in periodischen Vorgängen,
also Zyklen, besteht. Jeder Zyklus wiederum besteht aus drei Stadien geistigen
Wachstums: Es sind dies das Stadium der Schwärmerei, das Stadium der Präzision
und das Stadium der Verallgemeinerung.
Die Schwärmerei ist für Whitehead ein anfänglich
systemfreies Stadium vager Einsicht, das gleichwohl schon erste Beziehungen zwischen
Einzeltatsachen herstellt: „Der Unterrichtsgegenstand besitzt die Lebendigkeit
des Neuartigen; er hält sich unerforschte Verknüpfungen mit Möglichkeiten
bereit, halb enthüllt durch flüchtige Blicke, halb verborgen durch die Fülle
des Materials.
Schwärmerei |
Dieses schwärmerische Gefühl beinhaltet gleichwohl die
Aufregung, die „auf den Übergang von den nackten Tatsachen zu den ersten
Realisierungen der Bedeutung ihrer unerforschten Beziehungen folgt.“ Aus dieser Beobachtung leitet Whitehead die Aufgabe der
Erziehung ab, „eine Unruhe, die sich bereits im Geist regt, zu ordnen: Sie
können den Geist nicht in vacuo erziehen.“
Im Stadium der Präzision vollzieht sich dagegen eine erste
ordnende und systematisierende Bearbeitung der Tatsachen. Jetzt geht es um
einen quantitativen Zuwachs an Wissen.
Präzision |
„Es ist das Studium der Grammatik, der Grammatik von Sprache
und der Grammatik von Wissenschaft. Es schreitet voran, in dem es die
Studierenden zwingt, stück für Stück eine vorgegebene Art des Analysierens von
Tatsachen zu akzeptieren. Neue Tatsachen werden hinzugefügt, aber es sind
diejenigen Tatsachen, die sich in die Analyse einfügen.“
Das Stadium der Verallgemeinerung nun ist das Stadium der
produktiven Entfaltung, es ist „die Rückkehr zur Romantik mit dem zusätzlichen
Vorteil klassifizierter Vorstellungen und sachdienlicher Vorgehensweise.“ Hier
vor allem zeigt sich der Erfolg der Erziehung und Bildung: Bisher wurden
Entdeckungen gemacht, Eignungen erworben, allgemeine Regeln und
Gesetzmäßigkeiten erfasst. Jetzt möchte der Schüler seine neuen Kompetenzen
anwenden:
Verallgemeinerung |
„Er ist ein wirksames Individuum, und Wirkungen sind genau
das, was er hervorbringen möchte. Er fällt zurück in die diskursiven Abenteuer
des schwärmerischen Stadiums, mit dem Vorteil, dass sein Geist jetzt ein diszipliniertes
Regiment ist, statt einer Horde.“ In diesem Sinne beginnen Erziehung und
Bildung mit Forschung und enden mit Forschung.
Zusammengehalten werden die drei Stadien und Zyklen durch
den Begriff der Weisheit, also „die Art und Weise, in der man über Wissen
verfügt. Sie betrifft den Umgang mit Wissen, seine Auswahl zur Bestimmung von
relevanten Ergebnissen und seine Inanspruchnahme, um unserer unmittelbaren
Erfahrung einen Wert hinzuzufügen.“
Weisheit - Das Ziel der Paideia |
In diesen Zusammenhang gehören nach Whitehead auch die Aspekte
Freiheit und Disziplin. „Die einzige Straße zur Weisheit führt über Freiheit in
der Präsenz von Wissen. Aber der einzige Weg zu Wissen führt über Disziplin in
der Aneignung geordneter Fakten. Freiheit und Disziplin sind die zwei
Wesensmerkmale von Erziehung und Bildung.“
Whitehead offenbart an dieser Stelle sein pädagogisches
Credo: Der Geist des Schülers ist „keine Kiste, die erbarmungslos mit fremden
Ideen vollgepackt werden sollte, und andererseits ist die ordentlich
strukturierte Aneignung von Wissen die natürliche Nahrung für eine sich
entwickelnde Intelligenz. Entsprechend sollte es das Ziel ideal gestalteter
Erziehung und Bildung sein, dass die Disziplin das gewollte Ergebnis freier
Wahl ist und dass die Freiheit zu einer Bereicherung an Möglichkeiten als
Ergebnis von Disziplin gelangt.“
Damit man Whitehead nicht falsch versteht. Er ist der
Ansicht, „dass die einzige Disziplin, die um ihrer selbst willen wichtig ist,
die Selbstdisziplin ist, und dass diese nur durch umfassenden Gebrauch von Freiheit
anzueignen ist.“
So praktizierte Erziehung und Bildung zielt auf die
Herausbildung von „Initiativkräften“, also Initiative im Denken, Initiative im
Handeln und die phantasievolle Initiative der Kunst.“
Zitate aus: Alfred
North Whitehead: Die Ziele von Erziehung und Bildung, Berlin 2012 (suhrkamp)
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