Donnerstag, 30. Juni 2016

Jürgen Osterhammel und das Zeitalter asymmetrischer Effizienzsteigerung

Am Ende seines monumentalen Werkes über das 19. Jahrhundert schlägt Jürgen Osterhammel vor, die „Verwandlung der Welt“ in diesem randoffenen Jahrhundert mit Hilfe von  fünf Merkmalen zu beschreiben, von denen das erste lautet: "Das 19. Jahrhundert war ein Zeitalter asymmetrischer Effizienzsteigerung."

Die Effizienzsteigerung zeigte sich Osterhammel zufolge auf drei Gebieten: Erstens stieg die Produktivität menschlicher Arbeit, zweitens stieg die Effizienz des Militärs und drittens stieg die Kontrolle von Staatsapparaten über die Bevölkerung der eigenen Gesellschaft.

Produktionssteigerung: Die Maschinenfabrik des Unternehmers Richard Hartmann in Chemnitz im Jahr 1868.
Während des 19. Jahrhunderts kam es zweifellos zu einem Anstieg der Produktivität der menschlichen Arbeit. Auch wenn eine statische Validierung angesichts der unzureichenden Datenlage unmöglich ist, so wird niemand bestreiten können, „dass die Menge der pro Kopf der Weltbevölkerung geschaffenen materiellen Werte um 1900 deutlich größer war als ein Jahrhundert zuvor, ... die Möglichkeit eines langfristig zwar konjunkturell schwankenden, aber doch im Aufwärtstrend stabilen Wachstums [war] erstmals in der Geschichte realisiert worden.“

Osterhammel zufolge war eine Quelle dieser Entwicklung „die Einführung und Verbreitung der industriellen Produktionsweise, gekennzeichnet durch verfeinerte Arbeitsteilung, fabrikmäßige Organisation und den Einsatz kohlegetriebener Maschinerie.“

Auch wenn die Industrialisierung einerseits „sehr ungleich über die Kontinente verteilt und selbst dort, wo sie entstanden und am höchsten entwickelt war“, so war die andererseits doch von genialer Einfachheit: „Sie beruhte überwiegend auf naturwissenschaftlichen Prinzipien, ... Routinen der Innovation sowie Markstrukturen und Rechtsverhältnissen, in denen solche Innovation lohnend verwertet werden konnte.“

So konnten sich daraus im Verlauf des 19. Jahrhunderts  „Systeme der Wissensproduktion und der Ausbildung von `Humankapital´“ herausbilden. Die größte Erfindung des 19. Jahrhunderts, so der Philosoph Alfred North Whitehead, war die `Erfindung der Methode des Erfindens´.

Die andere Quelle der Reichtumsvermehrung war die Erschließung neuer Landreserven auf allen Kontinenten: Es gab demnzufolge eine Art von `agrarischer Revolution´, die, vor allem in England, der `industriellen Revolution´ vorausging, „später und gleichzeitig mit der sich langsam ausbreitenden Industrialisierung aber auch eine viel umfangreichere Extensivierung der Bodennutzung, die ... mit einer Steigerung der Leistungskraft des einzelnen Produzenten verbunden war.“

Die hergestellten Produkte waren nicht nur für den lokalen Verbrauch bestimmt, „sondern flossen in einen interkontinentalen Handel ein, der nicht länger ein Handel bloß mit Luxusgütern war. Dass industrielle Technologie in Gestalt von Dampfschiff und Eisenbahn auf den Transportsektor übertragen wurde und dort die Kosten schnell sinken ließ“, trug zur Expansion dieses Handels bei.

Die Schlacht von Gettysburg (1863) als Gemälde
Das zweite Gebiet der Effizienzsteigerung betraf das Militär, insbesondere, weil die „Tötungskapazität des einzelnen Kämpfers wuchs.“ Dies war eine unmittelbare Folge nicht nur „waffentechnischer Innovation“, sondern auch und vor allem ein „Zuwachs an militärischem Organisationswissen und an strategischer Kunst.“

Schließlich musste aber auch ein politischer Wille hinzukommen, „staatliche Ressourcen auf das Militär zu konzentrieren.“ Genau diese Entwicklungen führten dann 1914 in die Katastrophe. Hier „prallten politisch kaum noch kontrollierbare Militärapparate aufeinander.“ Der Weltkrieg selbst war dann wiederrum der Ausgangspunkt von weiteren Effizienzschüben. So war am Ende des Jahrhunderts die militärische Macht „– was um 1850 noch keineswegs feststand – mit industrieller Potenz identisch geworden.“

Das dritte Feld der Effizienzsteigerung war die zunehmende Kontrolle von Staatsapparaten über die Bevölkerung der eigenen Gesellschaft:

„Die Dichte von Verwaltungsregelungen nahm zu; Lokalverwaltungen zogen Kompetenzen an sich; Behörden registrierten und klassifizierten die Bevölkerung, ihr Grundeigentum und ihre Steuerkraft; Steuern wurden regelmäßiger, gerechter und aus einer wachsenden Zahl von Quellen abgeschöpft; Polizeisysteme wurden in der Breite und Tiefe ausgebaut.“

Der Datenträger Papier bestimmte das Erscheinungsbild ...
Preußische Amtsstube um 1880
(Quelle: Heinz NIxdorf Museumsforum)
Bei allem aber bestand Osterhammel nach „keine eindeutige Korrelation zwischen der Form des politischen Systems und der Intensität behördlicher Lebenssteuerung“ – schließlich kann ein moderner demokratischer Rechtsstaat auch heute noch intensiv verwaltet sein. Weil aber im 19. Jahrhundert wiederum neue Regierungstechniken entstanden – bis hinunter auf die lokale Ebene -, begann der Staat, „zu einem neuen Leviathan zu werden.“

Die Effizienssteigerung des intervenierenden Staatsapparates stand nun jedoch auch in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis zur der sich im 19. Jahrhundert entwickelnden Idee des Nationalstaates, „bei dem idealiter Staatsform, Territorium und Kultur (Sprache) deckungsgleich sein sollten. (...) Die Angehörigen einer Nation wollten freie und gleich behandelte Bürger (citizens) eines homogenen Kollektivs sein, keinesfalls Untertanen. Sie strebten danach, dass ihr Land in der Welt anerkannt und geachtet würde. Doch ertrugen umgekehrt die Menschen im Namen nationaler Einheitlichkeit, des nationalen Interesses und der nationalen Ehre eine obrigkeitliche Regulierungswut, der sie sich in früheren Zeiten eher widersetzt hätten.“

Die drei dargestellten Bereiche der Effizienzsteigerung mussten gleichwohl nicht zusammen und mit der gleichen Intensität auftreten. „Im Osmanischen Reich begann eine `moderne» Staatsbürokratie ohne einen nennenswerten industriellen Hintergrund zu entstehen. Die USA waren in den Jahrzehnten nach dem Bürgerkrieg ein ökonomischer Riese, aber ein militärischer Zwerg. Russland industrialisierte sich und besaß eine riesige Armee, doch ist es fraglich, wie tief der Staat vor 1917 in die Gesellschaft, vor allem die ländliche, tatsächlich eindrang. Im Grunde bleiben nur Deutschland, Japan und Frankreich als Musterbeispiele für rundum ausgebildete moderne Nationalstaaten. Großbritannien mit seinem bescheidenen Umfang an landgestütztem Militär und seinem relativ wenig bürokratisierten local government war ebenso ein Fall für sich wie die USA.“

Trotzdem verdankt sich der Aufstieg Europas, der USA und Japans im Verhältnis zur übrigen Welt einem „Paket von Faktoren“, in denen sich Effizienzsteigerungen ergaben.

Dazu gehörte letztlich auch eine selbst geschaffene liberale Weltwirtschaftsordnung, die „ein wirtschaftliches Wachstum stützte, „das ertragreich besteuert werden konnte und so die Finanzierung einer internationalen Machtstellung gewährleistete. So konnte auch der Imperialismus eine gute Investition sein, „selbst wenn koloniale Expansion im Einzelfall volkswirtschaftlich nicht unmittelbar viel monetären Gewinn eintragen mochte“. Aber unter den Bedingungen der militärischen Effizienzüberlegenheit waren Kolonien relativ kostengünstig zu erobern und zu verwalten. „Imperialismus lohnte sich politisch immer, so lange er die Staatskassen nichts oder wenig kostete; und wirtschaftlich schuf er sich die Interessentenkreise, die ihn politisch stützten.“


Zitate aus: Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2010 (C.H. Beck)


Donnerstag, 16. Juni 2016

Matthias Burchardt und die Krise des selbstgesteuerten Lernens - Teil 2



Im zweiten Teil seiner Sendung zur Krise des selbstgesteuerten Lernens landet Burchardt schließlich beim erkenntnistheoretischen Hintergrund der neuen Lernkultur, denn das hier verwendete Vokabular entstammt dem technischen Regelkreis der Kybernetik. Was ist damit gemeint?

Schüler als Trivialmaschiene in der Kybernetik

Kybernetik bezeichnet die technische Verschränkung von Mess- und Regelfunktionen. Dies kann man am Beispiel eines Heizungsthermostats erläutern. Ohne Thermostat müsste man die Heizung jeweils selbst an- oder abschalten, wenn es zu warm oder zu kalt ist. Mittels Regeltechnik kann der Nutzer einmalig eine Zieltemperatur (Soll-Wert) einstellen, die dann durch Selbstregulation erreicht bzw. gehalten werden soll. Eine Verrechnungsstelle gleicht zu diesem Zweck den vom Messfühler erhobenen Ist- mit dem Sollwert ab und hemmt beim Erreichen des Sollwertes den weiteren Warmwasserzulauf bzw. öffnet ihn, sobald der Sollwert unterschritten ist. Damit gelingt es dem System, selbstregulierend auf variable Außenbedingungen zu reagieren und die Raumtemperatur konstant zu halten.

Entscheidend sind dabei nicht nur die einzelnen Strukturelemente des Messens und der Steuerung, sondern auch deren informationelle Verknüpfung durch eine Feedbackschleife, denn das kybernetische System gewinnt nicht nur Informationen über die externen Bedingungen (z.B. die Raumtemperatur) oder wirkt durch Steuerung auf diese ein, sondern speist auch die Informationen über die Resultate des eigenen Wirkens wieder in das System ein.“

Was hier abstrakt klingt, lässt sich nun relativ schlicht auf den Lerner übertragen: „Wie ein kleiner Lernroboter navigiert der selbstgesteuerte Lerner über die Klippen der Lernumgebungen, die ihm durch Lernpakete und Wochenpläne Aufgaben mit auf den Weg geben. Er steuert dabei die Ziele an, die im Raster vorgegeben sind. Er vergleicht Ist- und Soll-Werte seiner Kompetenzen, wählt und reflektiert seine Lernstrategien, bis er die Lernziele erreicht. Defizite in der Selbststeuerung sollen mittels Feedback in einem Coaching-Gespräch beseitigt werden.“

Schüler oder Lernroboter ?
Das Problem aber liegt darin, dass es etwas vollkommen anderes ist, selbstreguliert Motivation herzustellen zu müssen, als seine Motivation „aus einem reizvollen Stoff oder einer pädagogischen Beziehung zu einer fordernden und ermutigenden Person zu schöpfen. Der selbstregulierte Lerner hat sich im Extremfall auch für monotone Inhalte im beziehungsfreien Raum zu begeistern.“

So stellt Burchardt fest, dass der selbstgesteuerte Lerner ist kein Modell ist, das beschreibt, wie Kinder lernen, sondern ein Modell, nach dem „Kinder ... erst zum selbstgesteuerten Lerner umerzogen werden [sollen]. Es handelt sich um ein anti-humanistisches, im Wortsinne un-menschliches Modell, weil es vom Kind verlangt, sich wie eine kybernetische Maschine zu verhalten.

Dabei werden wesentliche Momente des Mensch-Seins, die traditionell als Kernbestände von Bildung galten, verkürzt oder gar verstümmelt: Selbsterkenntnis, wie sie schon das Orakel von Delphi forderte, ist etwas anderes als das Messen der eigenen Leistungsdaten. Urteilskraft, die zu üben uns der Philosoph Immanuel Kant aufgegeben hat, bedeutet nicht, Soll- und Ist-Werte miteinander abzugleichen.

Sprache, die etwa für Humboldt eine Weltansicht bildet, kann nicht reduziert werden auf ein Signalsystem, das Steuerungsimpulse und Messwerte kommuniziert. Würdigung oder Kritik geschehen doch als personale Begegnung in Auseinandersetzung mit einer Sache, der technische (!) Begriff des Feedbacks vermag dies kaum abzubilden.

Lernen schließlich ist etwas ganz anderes als der strategische Erwerb und die Optimierung von Anpassungsfunktionen. Und das pädagogische Ziel der Mündigkeit schließlich beschreibt etwas anderes als Selbstregulation. In der Summe wird deutlich, dass die zwischenmenschliche und insbesondere die pädagogische Wirklichkeit durch eine kybernetische Beschreibung zwangsläufig verfremdet wird.“

Der Gedanke, selbstbestimmtes Handeln „durch technisches Steuern zu ersetzen, hat seine Vorgeschichte im Zweiten Weltkrieg, wo die Kybernetik in ihrem strategischen und wissenschaftlichen Wert entdeckt hat: Norbert Wiener, der als Vater dieses Modells gilt, konstruierte die `Predictor Machine´, `eine Maschine zur Vorhersage und Kontrolle der Positionen feindlicher Flugzeuge zum Zweck ihrer Vernichtung.´“

Der Einsatz von Kybernetik und „die Konstruktion kybernetischer Maschinen und die Erschließung und Verarbeitung der militärischen, ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit im Medium der Information erwiesen sich als kriegsentscheidende Faktoren.“ Dabei zeigte sich die Überlegenheit der Kybernetik auch nicht nur in der Produktion von effektiven Waffen bzw. in der effizienten Nutzung von Ressourcen, „sondern auch im Bereich der Aufklärung (Überwachung, Spionage, Dechiffrierung) und der kommunikativen Vernetzung.“

Es waren schließlich die sogenannten Macy-Konferenzen, in denen sich zwischen 1946 bis 1953 „die diskursive Entgrenzung der Kybernetik als Wissenschaft“ vollzog.

Die Verteidiger der Kybernetik erhoben „fortan einen theoretischen Totalanspruch“ und die Kybernetik wurde als Universaltechnik gepriesen. „Von der Steuerung der Mondlandefähre und der Regulation der Sauerstoffsättigung des Blutes, über das Bildungswesen bis hin zum Zubereiten einer Mahlzeit – alles sollte dem Regelkreis unterliegen. Damit wurde auch die Grenze von Natur und Kultur nivelliert und der Bereich des Politischen für den Zugriff der Soziokybernetik erschlossen.“

Die Illusion der Freiheit bei absoluter Kontrolle ...
So entwarf beispielsweise der Psychologe Kurt Lewin, einer der Teilnehmer der Macy-Konferenzen, „ein kybernetisches Steuerungsmodell für offene Gesellschaften, in welchem einerseits die Illusion der Freiheit aufrechterhalten wird, andererseits mittels Regeltechniken absolute Kontrolle herrscht:

"In vielen Bereichen des sozialen Management […] fehlen Wegweiser, die anzeigen, wo genau wir stehen und in welche Richtung wir uns mit welcher Geschwindigkeit bewegen. In der Folge sind die Akteure ihrer selbst unsicher […]. Sie sind außerstande zu 'lernen'. In einem Bereich, in dem objektive Leistungsstandards fehlen, kann kein Lernen stattfinden. […] Eine effiziente Steuerung sozialen Handelns setzt voraus, daß Verfahren zur Tatsachenfeststellung entwickelt werden, die es erlauben, Beschaffenheit und Position des sozialen Ziels sowie Richtung und Ausmaß der Bewegung, die aus einer gegebenen Handlung folgen, mit ausreichender Genauigkeit zu bestimmen. Um effektiv zu sein, muß diese Erhebung des Ist-Zustandes mit dem Ablauf des Handelns verbunden sein: Sie muß Teil eines Feedback-Systems sein, das eine Aufklärungsabteilung der Organisation mit jenen Abteilungen verbindet, welche die Handlungen ausführen."

In den „Zeiten von Big Data und Digitaler Totalüberwachung“, so stellt Burchardt abschließend fest, passt die Aufforderung zur Selbststeuerung auf eine zynische Weise ideal zum Abbau der sozialen Solidaritäts- und Sicherungssysteme: „So wie der Selbstgesteuerte Lerner schonend mit der Ressource Lehrer umgeht, so fällt der selbstgesteuerte Bürger der Gemeinschaft nicht zur Last: Die Themen seiner sozialen Absicherung, seiner Bildung, seiner Gesundheit sind allein sein Problem. Arbeitslosigkeit, Krankheit, Armut sind dann Konsequenzen mangelhafter Selbststeuerung, die er selbst optimieren muss.“
 
Das Herstellen kohärenter Überzeugungen ist letztlich doch recht übersichtlich ... ?!?!?!?
Auf diese Weise aber ist der selbstgesteuerte Mensch ein Zwilling des `Unternehmerischen Selbst´. „Selbststeuerung unter dem beschleunigten Ansturm von Informationen und Handlungsoptionen bei gleichzeitigem Wegfall kultureller, gemeinschaftlicher oder geschichtlicher Verwurzelung ist ein Nährboden für Burnout und Depression.“


Zitate aus: Matthias Burchardt: “Wir machen alles alleine. Die Krise selbstgesteuerten Lernens“, SWR2 Aula, Sendung vom Sonntag, 13. März 2016, Das Manuskript gibt es online unter: http://www.swr.de/-/id=16882210/property=download/nid=660374/1obdni3/swr2-wissen-20160313.pdf, als Podcast unter: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/aula.xml   -   Weitere Literatur: Höfer, Christoph, Madelung, Petra: Lehren und Lernen für die Zukunft. Unterrichtsentwicklung in selbstständigen Schulen. Troisdorf 2006.

Donnerstag, 2. Juni 2016

Matthias Burchardt und die Krise des selbstgesteuerten Lernens - Teil 1


Vorbemerkung: Ich bin ein Anhänger des selbstgesteuerten Lernens! Der Grund ist ganz einfach: Selbstgesteuertes Lernen ist eine von vielen wichtigen Strategien innerhalb des weiten Feldes der Lernkulturen – aber eben nicht die einzige, weder die einzig mögliche noch die einzig sinnvolle. Daher teile ich viele der von Matthias Burchardt gemachten Beobachtungen - und zugleich teile ich sie nicht.

Zu Beginn seiner Sendung stellt Burchardt fest, dass das selbstgesteuerte Lernen heutzutage als Innovation verkauft wird, „mit der man in Zeiten der Digitalisierung, in Zeiten, in denen man das Lernen lernen soll, überleben kann. Das selbstgesteuerte Lernen schickt den traditionellen Lehrer in Rente und setzt auf den Lernbegleiter und Coach, der Schüler wird zum Manager seiner selbst, der eigenständig seine Lernfortschritte dokumentiert und evaluiert, der sich seine Unterrichtspakete selbst zusammenstellt.“

Die Argumente für die neue Lernkultur des selbstgesteuerten Lernens lauten folgendermaßen:
  • Lernbegleiter/innen sind besser als Lehrer/innen.
  • Selbstgesteuertes Lernen ist besser als Unterricht.
  • Heterogen gemischte Gruppen sind besser als eine äußere Differenzierung nach Leistung.
  • Durch die neue Lernkultur werden soziale Ungleichheiten aufgehoben.
  • Selbstgesteuertes Lernen bringt bessere Lernergebnisse.

Ein modern klingendes Fachvokabular unterfüttert das Konzept selbstgesteuerten Lernens. Begriffe wie "Lernateliers", "Lernbüros", "Lernzeit", "aktive Pause", "individuelles Arbeiten", "Teamarbeit", "Coaching" oder "Rhythmisierung" versprechen „eine optimierte Pädagogisierung der kindlichen Leistungsfähigkeit.“

Neue Lernkultur - Neue Terminologie

Teilweise kann Burchardt einen realsatirischen Unterton in der Darstellung des selbstgesteuerten Lernens nicht vermeiden: „Um die Lernfortschritte der Kinder zu ermitteln, werden diese in Kompetenzrastern verzeichnet: Auf einer Matrix kleben farbige Punkte, die ganz individuell anzeigen, wo sich das einzelne Kind momentan befindet und welches Kompetenzziel es erreichen soll. Dazu benötigen die Kinder Lernstrategien.

Sie sind angehalten, ein Lerntagebuch zu führen, in dem sie sich selbst evaluieren. Sie sollen sich hinsichtlich ihrer Motivation und der angewandten Techniken optimieren, sollen Tagesziele formulieren, ihren Zeitaufwand dokumentieren, Erfolge und Misserfolge der Woche niederschreiben. Auf diese Weise soll das Lernen möglichst transparent und überprüfbar werden.

Lehrer und Lehrerinnen heißen an diesen Schulen `Lernbegleiter´ oder `Lernbegleiterinnen´, da sie weitgehend in den Hintergrund treten. Sie erarbeiten und arrangieren stattdessen das Lernmaterial, die sogenannten Lernpakete, und kontrollieren, ob die Schüler und Schülerinnen ihr Arbeitspensum erfüllen. In Coaching-Einheiten können sie dem Selbstlerner ein ganz individuelles Feedback bezüglich seiner Lernproduktivität geben und auch Hemmnisse im Bereich der Motivation beseitigen.“

Nun gilt diese Form der Lernkultur mittlerweile unter Politikern als „ein Allheilmittel gegen sozialpolitische Probleme und Erziehungswissenschaftler sehen in ihr die Einlösung reformpädagogischer Utopien von der individuellen Freiheit des Lernens in sozialer Gemeinschaft.“

Kinder als Bewohner neuer Lernwelten
Nicht nur die Lehrkräfte erhalten eine neue Rolle, auch die Schüler und Schülerinnen „werden umgewandelt zu selbstgesteuerten oder -organisierten Lernern. Auf sie wird abgeladen, was eigentlich in die Zuständigkeit und auch die Verantwortung der Lehrer und Lehrerinnen fällt. Sie müssen nicht nur für das Lernen selbst, sondern auch für die Organisation des Lernens aufkommen.“

Kinder also als „Bewohner der neuen Lernwelten“? Solche selbständig Lernende sollen in der Lage sein, „ihr eigenes Lernen zu regulieren, sich selbständig Lernziele zu setzen, dem Inhalt und Ziel angemessene Techniken und Strategien auszuwählen und sie auch einzusetzen. Ferner halten sie ihre Motivation aufrecht, bewerten die Zielerreichung während und nach Abschluss des Lernprozesses und korrigieren – wenn notwendig – die Lernstrategie. Sie sind in der Lage, ihre Lernziele und Lernstrategien auch in komplexen sozialen Beziehungen gemeinsam mit anderen Personen zu entwickeln, umzusetzen und kritisch zu hinterfragen. "

An dieser Stelle kommt Burchardt zum Grundwiderspruch des selbständigen Lernens. Auch wenn das Theorem des selbständigen Lernens scheinbar an die gute alte Tradition von Aufklärung, Mündigkeit und Selbständigkeit anknüpft, so wird hier vergessen, dass das „Lernen von Selbständigkeit und selbständiges Lernen“ zwei grundsätzlich verschiedene Dinge sind:

„Natürlich gibt es vieles, was Kinder ohne explizite Belehrung durch Erwachsene lernen können. Gleichwohl muss bezweifelt werden, dass das Ziel der Selbständigkeit allein auf dem Wege des selbständigen Lernens erreicht werden kann. Um es auf den Punkt zu bringen: Es bedarf auch der fachlichen und persönlichen Autorität des Lehrers oder der Lehrerin, damit die Selbständigkeit der Schüler und Schülerinnen gedeihen kann.“

Zudem müsse Burchardt zufolge überhaupt erst zu klären, was den das „Lernen“ ausmacht. Die Verteidiger des selbständigen Lernens „stellen sich aber gar nicht die Frage, was Lernen tatsächlich ist, sondern formulieren stattdessen ein `Leitbild´(...) von dem, was Lernen sein soll.

Mit anderen Worten: Der hier beschriebene Typus von Schüler oder Schülerin und der Stil des Lernens existieren nicht, sondern sollen in den Einrichtungen erst systematisch produziert werden.

Kinder sollen "Lernen lernen", schallt es durch die Schulen – eine zunächst absurde Formulierung, da ja immer schon vorausgesetzt wird, was als Ergebnis versprochen wird, nämlich: Lernen können.“

"Lernen lernen" – eine absurde Formulierung, da ja immer schon vorausgesetzt wird, was als Ergebnis versprochen wird, nämlich: Lernen können.

Im Rahmen der oben skizzierten politischen Programmatik soll das Lernen also „für und durch die die Neue Lernkultur umprogrammiert werden.“ Denn: Wenn das Kind keine Schüler mehr sein darf, sondern sich in einen Lerner verwandeln muss, „wie sieht dann sein Innenleben aus? Es ähnelt einer Schaltzentrale aus der Roboter-Technik. Schließlich soll er in der Lage sein, das eigene `Lernen [zu] regulieren, [...] sich selbstständig Lernziele zu setzen, dem Inhalt und Ziel angemessene Techniken und Strategien auszuwählen und sie auch einzusetzen.´ (Höfer/Madelung 2006, 159). Die Lerner – heißt es weiter – `halten […] ihre Motivation aufrecht, bewerten die Zielerreichung während und nach Abschluss des Lernprozesses und korrigieren – wenn notwendig – die Lernstrategie.´ (ebd. 19).“

(Fortsetzung folgt)

Zitate aus: Matthias Burchardt: “Wir machen alles alleine. Die Krise selbstgesteuerten Lernens“, SWR2 Aula, Sendung vom Sonntag, 13. März 2016, Das Manuskript gibt es online unter: http://www.swr.de/-/id=16882210/property=download/nid=660374/1obdni3/swr2-wissen-20160313.pdf, als Podcast unter: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/aula.xml   -   Weitere Literatur: Höfer, Christoph, Madelung, Petra: Lehren und Lernen für die Zukunft. Unterrichtsentwicklung in selbstständigen Schulen. Troisdorf 2006.