Am Ende seines monumentalen Werkes über das 19. Jahrhundert schlägt
Jürgen Osterhammel vor, die „Verwandlung der Welt“ in diesem randoffenen
Jahrhundert mit Hilfe von fünf Merkmalen zu beschreiben, von denen das erste lautet: "Das 19. Jahrhundert war ein Zeitalter asymmetrischer
Effizienzsteigerung."
Die Effizienzsteigerung zeigte sich Osterhammel zufolge auf drei
Gebieten: Erstens stieg die Produktivität menschlicher Arbeit, zweitens stieg
die Effizienz des Militärs und drittens stieg die Kontrolle von Staatsapparaten
über die Bevölkerung der eigenen Gesellschaft.
Produktionssteigerung: Die Maschinenfabrik des Unternehmers Richard Hartmann in Chemnitz im Jahr 1868. |
Während des 19. Jahrhunderts kam es zweifellos zu einem Anstieg der Produktivität der menschlichen Arbeit. Auch wenn eine statische Validierung angesichts der
unzureichenden Datenlage unmöglich ist, so wird niemand bestreiten können, „dass
die Menge der pro Kopf der Weltbevölkerung geschaffenen materiellen Werte um
1900 deutlich größer war als ein Jahrhundert zuvor, ... die Möglichkeit eines
langfristig zwar konjunkturell schwankenden, aber doch im Aufwärtstrend
stabilen Wachstums [war] erstmals in der Geschichte realisiert worden.“
Osterhammel zufolge war eine Quelle dieser Entwicklung „die
Einführung und Verbreitung der industriellen Produktionsweise, gekennzeichnet
durch verfeinerte Arbeitsteilung, fabrikmäßige Organisation und den Einsatz
kohlegetriebener Maschinerie.“
Auch wenn die Industrialisierung einerseits „sehr ungleich
über die Kontinente verteilt und selbst dort, wo sie entstanden und am höchsten
entwickelt war“, so war die andererseits doch von genialer Einfachheit: „Sie
beruhte überwiegend auf naturwissenschaftlichen Prinzipien, ... Routinen der
Innovation sowie Markstrukturen und Rechtsverhältnissen, in denen solche
Innovation lohnend verwertet werden konnte.“
So konnten sich daraus im Verlauf des 19. Jahrhunderts „Systeme der Wissensproduktion und der
Ausbildung von `Humankapital´“ herausbilden. Die größte Erfindung des 19.
Jahrhunderts, so der Philosoph Alfred North Whitehead, war die `Erfindung
der Methode des Erfindens´.
Die andere Quelle der Reichtumsvermehrung war die
Erschließung neuer Landreserven auf allen Kontinenten: Es gab demnzufolge eine
Art von `agrarischer Revolution´, die, vor allem in England, der `industriellen
Revolution´ vorausging, „später und gleichzeitig mit der sich langsam
ausbreitenden Industrialisierung aber auch eine viel umfangreichere
Extensivierung der Bodennutzung, die ... mit einer Steigerung der
Leistungskraft des einzelnen Produzenten verbunden war.“
Die hergestellten Produkte waren nicht nur für den lokalen
Verbrauch bestimmt, „sondern flossen in einen interkontinentalen Handel ein,
der nicht länger ein Handel bloß mit Luxusgütern war. Dass industrielle Technologie
in Gestalt von Dampfschiff und Eisenbahn auf den Transportsektor übertragen
wurde und dort die Kosten schnell sinken ließ“, trug zur Expansion dieses
Handels bei.
Die Schlacht von Gettysburg (1863) als Gemälde |
Das zweite Gebiet der Effizienzsteigerung betraf das
Militär, insbesondere, weil die „Tötungskapazität des einzelnen Kämpfers wuchs.“
Dies war eine unmittelbare Folge nicht nur „waffentechnischer Innovation“,
sondern auch und vor allem ein „Zuwachs an militärischem Organisationswissen
und an strategischer Kunst.“
Schließlich musste aber auch ein politischer Wille hinzukommen,
„staatliche Ressourcen auf das Militär zu konzentrieren.“ Genau diese
Entwicklungen führten dann 1914 in die Katastrophe. Hier „prallten politisch
kaum noch kontrollierbare Militärapparate aufeinander.“ Der Weltkrieg selbst war
dann wiederrum der Ausgangspunkt von weiteren Effizienzschüben. So war am Ende
des Jahrhunderts die militärische Macht „– was um 1850 noch keineswegs
feststand – mit industrieller Potenz identisch geworden.“
Das dritte Feld der Effizienzsteigerung war die zunehmende
Kontrolle von Staatsapparaten über die Bevölkerung der eigenen Gesellschaft:
„Die Dichte von Verwaltungsregelungen nahm zu;
Lokalverwaltungen zogen Kompetenzen an sich; Behörden registrierten und
klassifizierten die Bevölkerung, ihr Grundeigentum und ihre Steuerkraft;
Steuern wurden regelmäßiger, gerechter und aus einer wachsenden Zahl von
Quellen abgeschöpft; Polizeisysteme wurden in der Breite und Tiefe ausgebaut.“
Der Datenträger Papier bestimmte das Erscheinungsbild ... Preußische Amtsstube um 1880 (Quelle: Heinz NIxdorf Museumsforum) |
Bei allem aber bestand Osterhammel nach „keine eindeutige
Korrelation zwischen der Form des politischen Systems und der Intensität
behördlicher Lebenssteuerung“ – schließlich kann ein moderner demokratischer
Rechtsstaat auch heute noch intensiv verwaltet sein. Weil aber im 19.
Jahrhundert wiederum neue Regierungstechniken entstanden – bis hinunter auf die
lokale Ebene -, begann der Staat, „zu einem neuen Leviathan zu werden.“
Die Effizienssteigerung des intervenierenden Staatsapparates
stand nun jedoch auch in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis zur der
sich im 19. Jahrhundert entwickelnden Idee des Nationalstaates, „bei dem
idealiter Staatsform, Territorium und Kultur (Sprache) deckungsgleich sein
sollten. (...) Die Angehörigen einer Nation wollten freie und gleich behandelte
Bürger (citizens) eines homogenen Kollektivs sein, keinesfalls Untertanen. Sie
strebten danach, dass ihr Land in der Welt anerkannt und geachtet würde. Doch
ertrugen umgekehrt die Menschen im Namen nationaler Einheitlichkeit, des
nationalen Interesses und der nationalen Ehre eine obrigkeitliche
Regulierungswut, der sie sich in früheren Zeiten eher widersetzt hätten.“
Die drei dargestellten Bereiche der Effizienzsteigerung mussten
gleichwohl nicht zusammen und mit der gleichen Intensität auftreten. „Im
Osmanischen Reich begann eine `moderne» Staatsbürokratie ohne einen
nennenswerten industriellen Hintergrund zu entstehen. Die USA waren in den
Jahrzehnten nach dem Bürgerkrieg ein ökonomischer Riese, aber ein militärischer
Zwerg. Russland industrialisierte sich und besaß eine riesige Armee, doch ist
es fraglich, wie tief der Staat vor 1917 in die Gesellschaft, vor allem die
ländliche, tatsächlich eindrang. Im Grunde bleiben nur Deutschland, Japan und
Frankreich als Musterbeispiele für rundum ausgebildete moderne Nationalstaaten.
Großbritannien mit seinem bescheidenen Umfang an landgestütztem Militär und
seinem relativ wenig bürokratisierten local government war ebenso ein Fall für
sich wie die USA.“
Trotzdem verdankt sich der Aufstieg Europas, der USA und
Japans im Verhältnis zur übrigen Welt einem „Paket von Faktoren“, in denen sich
Effizienzsteigerungen ergaben.
Dazu gehörte letztlich auch eine selbst geschaffene liberale
Weltwirtschaftsordnung, die „ein wirtschaftliches Wachstum stützte, „das
ertragreich besteuert werden konnte und so die Finanzierung einer
internationalen Machtstellung gewährleistete. So konnte auch der Imperialismus eine
gute Investition sein, „selbst wenn koloniale Expansion im Einzelfall
volkswirtschaftlich nicht unmittelbar viel monetären Gewinn eintragen mochte“.
Aber unter den Bedingungen der militärischen Effizienzüberlegenheit waren Kolonien
relativ kostengünstig zu erobern und zu verwalten. „Imperialismus lohnte sich
politisch immer, so lange er die Staatskassen nichts oder wenig kostete; und
wirtschaftlich schuf er sich die Interessentenkreise, die ihn politisch
stützten.“
Zitate aus: Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, Eine Geschichte
des 19. Jahrhunderts, München 2010 (C.H. Beck)