Donnerstag, 31. Januar 2013

Miguel de Unamuno und die Muße


Miguel de Unamuno (1864 - 1936)
Miguel de Unamuno gehört zu den bedeutendsten spanischen Philosophen und Schriftstellern des frühen 20. Jahrhunderts. Er ist von der zu dieser Zeit einflussreichen Lebensphilosophie bzw. Existenzphilosophie geprägt. So lernte er beispielsweise Deutsch, um Schopenhauer im Original lesen zu können.

Unamuno betont in seinen Werken oftmals die Bedeutung der irrationalen Kräfte im menschlichen Leben wie Triebe, Leidenschaften, aber auch die schöpferischen Fähigkeiten des einzelnen.

In seinem Essay „Plädoyer des Müßiggangs“ setzt Unamuno sich kritisch mit der Ansicht auseinander, nach der die Arbeit die Grundlage der menschlichen Kultur sei.

Ausgangspunkt von Unamunos Überlegungen zum Thema Arbeit ist eine scheinbar belanglose Episode während eines Aufenthalts in Portugal:

„Zur heißesten Jahreszeit, als sich die Trägheit meines Körpers und meiner Seele bemächtigte, vertrieb ich mir die Zeit damit, aufs Bett hingestreckt langsam Lord Byron zu lesen. Von Zeit zu Zeit ließ ich das Buch sinken, um … nachzudenken?, nein, um mir allerhand Luftschlösser zusammen zu phantasieren.

Zuweilen raffte ich mich auf, an den Balkon zu treten, um einen Augenblick lang das Meer zu betrachten, das da träge am Strand ausgestreckt lag. Und das Gluckern des Ozeans, vermischt mit den Echos Lord Byrons, der diesen so sehr geliebt hatte, half mir, weiterhin Dinge ohne festen Umriss und Substanz zusammen zu phantasieren.

In meinem Geist herrschte eine poetische, das heißt aber schöpferische Situation, welche die Trägheit hervorruft. Denn der Dichter ist zuallererst ein Faulenzer, ein Nichtstuer, und das sage ich zum Lob des Poeten.“

"Wer keine Muße kennt, lebt nicht." - Sprichwort aus Sizilien

Natürlich will Unamuno hier kein Lob auf die Faulheit anstimmen. Aber er möchte „zumindest teilweise ein Loblied aufs Nichtstun singen; ich will euch sagen, dass der Müßiggänger einer der aktivsten Menschen ist.“

Unamuno verteidigt hier die These, dass wir die Zivilisation letztlich den Müßiggängern verdanken. Seiner Ansicht nach setzt die Zivilisation ein, als ein Mensch den anderen der Versklavung unterwarf, ihn dazu zwang, für beide zu arbeiten, und nun, der Notwendigkeit enthoben, sich selbst anstrengen zu müssen, um sich das tägliche Brot verdienen zu müssen, auf einmal zu den Sternen aufblicken konnte, um sich zu fragen, warum diese wohl dergestalt kreisen mögen.

Die Versklavung anderer Menschen kann zwar heute nicht mehr als zivilisatorische Glanzleistung beschrieben werden, aber Unamuno glaubt beobachten zu können, dass „der Umstand, dass in den arbeitsameren Völkern gewisse Hochformen der Kultur, in der Kunst, in der Wissenschaft, in der Literatur, hervorgebracht werden, nicht darauf zurückzuführen ist, dass sie fleißiger wären, sondern dass es in ihnen mehr Unbeschäftigte, mehr Müßiggänger gibt.“

Das Verständnis der schöpferischen Muße, so wie sie Unamuno hier als Gegensatz zur Arbeit beschreibt, hat ihren Ursprung tatsächlich in der Antike. Der Begriff σχολή enthält ein Bedeutungsspektrum, das von Muße, Ruhe über Studium und Schule (!) bis hin zu Verzögerung und Langsamkeit reicht. In der römischen Tradition prägte dann Cicero den Begriff des otium cum dignitate, der mit wissenschaftlicher und philosophischer Betätigung verbrachten „würdevollen Muße“ in Zurückgezogenheit (De Oratore I,1f).

Ein bekanntes Beispiel für otium cum dignitate, die "würdevolle Muße"

Während also die Menschen der Antike die Muße vor allem mit ihren charakterbildenden und kreativen Möglichkeiten für wertvoll hielten – der Lebenskünstler war das Gegenstück zu Handarbeiter und natürlich zum Sklaven –,  galt im Mittelalter im europäischen Mönchtum die Trägheit als eine der sieben Hauptlaster. Später hat auch der Protestantismus sich gegen jede Form des Müßiggangs gewandt („Müßiggang ist aller Laster Anfang“) und dagegen hat Beruf und Arbeit als menschliche Ziele hoch eingeschätzt.

Gegen diese „protestantische Ethik der Arbeit“ (Max Weber) hat es aber immer auch die Gegenposition gegeben, nach der eben Muße und nicht die Arbeit das eigentliche Ziel des Menschen sei.

So auch Unamuno: „Immer hat mich, wie viele andere auch, die berühmte Fabel von der Grille und der Ameise empört. Dabei sind doch der Egoismus und die Unmenschlichkeit der letzteren nur zu offensichtlich. Denn es steht fest, und das habe ich genau recherchiert, dass sie sich während der Arbeit am Gesang der Grille erfreute.“

Zitate aus: Miguel de Unamuno: Plädoyer des Müßiggangs, Wien 1986 (Literaturverlag Droschl)  -  Zum Hören: Das Philosophische Radio (WDR 5) mit Manfred Koch und Jürgen Wiebicke zum Thema "Faulheit"

Donnerstag, 24. Januar 2013

Francisco de Miranda und die Vereinigten Staaten von Amerika


Francisco de Miranda
Sebastián Francisco de Miranda Rodríguez wurde am 28. März 1750 in Caracas (Venzuela) geboren und starb am 14. Juli 1816 im Gefängnis im spanischen Cadiz.

Nach seiner Ausbildung an der königlichen Universität von Caracas verließ er im Alter von 21 Jahren Caracas Richtung Madrid, um in den Militärdienst einzutreten. Während dieser Zeit begann Miranda ein Tagebuch zu führen.

Nachdem Miranda bereits während des Krieges gegen Marokko erste militärische Erfahrungen gesammelt hatte, nahm er an der Schlussphase des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges teil, als Spanien aktiv in den Krieg eingriff. Im Jahre 1783 gelang es den spanischen Einheiten, den Engländern Pensácola in Florida und die Bahamas zu entreißen.

Schon früh entwickelte Miranda seinen Lebenstraum von der Befreiung des spanischen und portugiesischen Amerika von der europäischen Kolonialherrschaft. Miranda schwebte ein einheitlicher lateinamerikanischer Staat mit dem Namen „Kolumbien“ vor, benannt nach Christoph Kolumbus. Obwohl Miranda mit seinen Unabhängigkeitsbestrebungen letztlich scheiterte, gilt er bis heute als Wegbereiter der Unabhängigkeit Südamerikas.

Aufgrund seiner Ansichten über die Unabhängigkeit der spanischen Kolonien bekam Miranda schon bald Schwierigkeiten mit seinen Vorgesetzten, die sein Verbleiben in der spanischen Armee unmöglich machten.

Am 1. Juni 1783 schiffte er sich heimlich Richtung La Habana (Kuba) ein – es ist ein Weg ohne Rückkehr. Acht Tage später trifft sein Schiff in den Vereinigten Staaten ein, wo sich Miranda bis Dezember 1784 aufhalten wird. Seine Reise beginnt in South Carolina und endet in New England. Miranda trifft unter anderem mit George Washington, Thomas Paine und Alexander Hamilton  zusammen.

Seine Eindrücke und Gedanken während der Reise schreibt er in sein Tagebuch, das bis heute eines der eindrucksvollsten Zeugnisse lateinamerikanischer Geschichte ist – insbesondere weil Miranda ein außerordentlich positives Bild der Vereinigten Staaten vermittelt.

Miranda beschreibt die Amerikaner als „robust und korpulent“, was er vornehmlich der guten Ernährung zuschreibt. Als er zu seinem ersten Barbecue eingeladen wird, beobachtet er, wie „Menschen aus verschiedensten gesellschaftlichen Schichten sich die Hände geben und aus dem gleichen Becher trinken.“ Miranda erinnert diese „demokratische Gemeinschaft in ihrer reinsten Form“ unmittelbar an die Berichte, die Dichter und Geschichtsschreiber über die freien Völker des antiken Griechenlands geschrieben hatten.

In Charleston (South Carolina) besucht Miranda den Gerichtshof, an dem - englischer Sitte gemäß - sämtliche Verfahren  öffentlich verhandelt werden. Miranda kann seine Freude darüber nicht verbergen: „¡Válgame Dios y qué contraste al sistema legislativo de la España!” (Bei Gott! Was für ein Unterschied zur Legislative in Spanien!).

Auch das Regierungssystem South Carolinas ruft seine Bewunderung hervor: „Das ist reine Demokratie – wie überhaupt die Vereinigten Staaten eine reine Demokratie sind. Hier ist die staatliche Gewalt souverän und zugleich in Exekutive, Legislative und Judikative getrennt.“

In Philadelphia staunt Miranda über den Einfallsreichtum sowie Erfindergeist der Nordamerikaner und erwähnt ausdrücklich Benjamin Franklin, den Erfinder des Blitzableiters. Nicht nur die Gastwirtschaften und Gasthäuser seien „hinsichtlich Sauberkeit und Ordnung die besten, die ich jemals kennengelernt habe“, das gleiche gelte auch für die öffentlichen Märkte.

Schließlich macht die religiöse Freiheit, die er in Pennsylvania vorfindet, einen tiefen Eindruck auf Miranda. Philadelphia selbst ist für ihn „eine der angenehmsten und am besten organisierten Städte dieser Welt.“

Mit kühlem und gesundem Menschenverstand erkennt Miranda, dass die Tugenden und der allgemeine Wohlstand der nordamerikanischen Gesellschaft in der schlichten Tatsache begründet liegen, „dass wir es hier mit einer freien Regierung zu tun haben, die über jede Form von Despotismus erhaben ist.“ Zugleich bedauert er, dass bis jetzt „Franzosen oder Spanier kaum in der Lage gewesen sind, die Vorteile einer auf Freiheit beruhenden Verfassung zu erkennen.“

A Montana farm, comfortable if not elegant, and the home of many well-to-do persons (W.H. Jackson)
Die Auswirkungen eines freien Staatswesens auf die Wirtschaft des Landes kann Miranda auch in New Jersey beobachten: „Es gibt kaum ein Stück Erde, das nicht genutzt wird. Das Land ist eingeteilt in kleine Einheiten, die die Amerikaner Farm nennen. Die landwirtschaftlichen Flächen werden wesentlich besser bewirtschaftet und gepflegt als in vielen anderen Ländern – und obwohl die Bodenqualität eher mäßig ist, gelingt es den Menschen durch Fleiß und Anstrengung aus einem kleinen Fleckchen Erde mehr herauszuholen, als die Besitzer der großen Bergwerke in Mexiko oder Peru.“ Dahinter steht Miranda zufolge der „Geist der Freiheit, der dieses Volk antreibt und inspiriert“

Auf dem Weg nach New York hört Miranda von einer Begebenheit aus dem Unabhängigkeitskrieg, die ihn tief beeindruckt: „Als der französische General Rochembeau sein Lager in der Nähe von King´s Ferry am Hudson River aufschlugt, forderte ihn der Besitzer des Anwesens auf, ihm die Nutzung seines Landes zu entschädigen. Als die französischen Offiziere sich dieser `gänzlich ungewöhnlichen Forderung des patán republicano (des republikanischen Grobians)´ verschlossen, ging der Mann kurzerhand zum Sheriff, der – ohne Waffen in der Hand, aber mit der Autorität des Gesetzes unter dem Arm – kurzerhand Rochembeau vor den Augen seiner verblüfften Armee festsetzte, bis der General schließlich auf Heller und Pfennig seine Schuld beglichen hatte.“

Soweit diese schlichten Wahrheiten über den Ursprung des Wohlstandes der Vereinigten Staaten, die bis in unsere heutige Zeit mit dem Mythos in Widerspruch geraten, demzufolge der nordamerikanische Aufschwung eine direkte Folge der Ausbeutung und Unterdrückung des südamerikanischen Kontinents sei.


Wie Carlos Rangel in seiner berühmten Analyse „Del buen salvaje al buen revolucionario  (1976) schreibt, wird das Tagebuch Mirandas über seine Reise durch die Vereinigten Staaten bis heute ignoriert: „Sollte jemand auf die Idee kommen, das Tagebuch Mirandas zu lesen, dann wird er es heimlich machen müssen. Es wird nirgends zitiert, von niemandem kommentiert. Wenn man in der Welt der Mythen lebt, kann es sehr unbequem werden, wenn man plötzlich der Wahrheit begegnet – vor allem, wenn sie dann auch noch von einem der wirklichen Helden und größten Männer Lateinamerikas verkündet wird.“

Alle Zitate und sonstigen Angaben aus: Carlos Rangel: Del buen salvaje al buen revolucionario, Caracas 1982 (Monte Ávila Editores) (eigene Übersetzung).


Donnerstag, 17. Januar 2013

Bloch und das Nichtstun



Ernst Bloch (1885 - 1977)
Ernst Bloch gehört zu den wichtigen neomarxistischen Philosophen des 20. Jahrhunderts. Die tief im Menschen verwurzelte Hoffnung auf eine Gesellschaft, in der Freiheit, Glück und materielle Sicherheit für alle verwirklicht sind, ist ständiges Leitmotiv seiner Werke.

Vor allem in seinem dreibändigen Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung“ (1949 – 1959) verfolgt Bloch die Spuren, die die menschliche Utopie eines irdischen Paradieses vor allem in Kunst und Philosophie hinterlassen hat.

Blochs Leben war von Wechseln geprägt. Während der Weimarer Republik schloss sich Bloch der kommunistischen Bewegung an. 1933 musste er aus Deutschland in die USA emigrieren. Nach dem 2. Weltkrieg ging er in die DDR und wurde Philosophieprofessor in Leipzig. Konflikte mit der Staats- und Parteiführung der DDR führten dazu, dass Bloch 1961 in die Bundesrepublik übersiedelte. Hier nahm er eine Professur in Tübingen an.

Für Bloch wie für alle Marxisten ist die Arbeit etwas dem Menschen Wesentliches und Zugehöriges.

Zunächst einmal stellt Bloch fest, „dass es so leicht ist, nichts mehr tun zu wollen. Dass es uns so schwer fällt, wirklich nichts zu tun. Auch dann, wenn nicht, wie meist, die Not treibt. Auch dort, wo ein Urlaub überdies erlauben mag, zu gähnen.“

Die meisten Menschen jedoch – so beobachtet Bloch – jagen einer Illusion hinterher: „Ganz faul zu sein, scheint so süß wie einfach. Je älter ich werde, sagt ein Freund, desto mehr sehe ich ein, das einzig Richtige wäre, überhaupt nicht zu schaffen. Den ganzen Tag, meint er, könne er am Fenster liegen an einer südlichen Küste, und draußen bräuchte auch nichts zu sein … ich will weder Fähigkeiten vorher noch Bedürfnisse nachher haben. So sprach der Freund und sag unwiderleglich aus, doch sein Leben ist anders, nicht einmal unfreiwillig anders. Wie einfach, sollte man meinen, könnte er im Einklang mit seiner Lehre leben. Stattdessen arbeitet er den ganzen Tag verdrossen und vorzüglich, predigt Wein und trinkt Wasser.“

Bloch geht es nicht darum einzustimmen in das Konzert derer, die sagen, Arbeit sei eine Notwendigkeit solange Hunger und Ungerechtigkeit existieren – diese Feststellung ist selbstverständlich gültig! Blochs Blick geht tiefer, denn Faulheit ist für ihn ein Dämon, „den keiner besteht. Sie zeigt darin ihre Verwandtschaft mit der Einsamkeit. Beide, Faulheit wie Einsamkeit, enthalten ein chemisch verwandtes Gift, obwohl Nichtstun nicht einsam zu geschehen braucht, und die Einsamkeit selten müßig ist; es ist das Gift des dunklen Insichseins.“


Abraham Bloemaert (1564–1651): Faulheit

 (in Anlehnung an das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen, Mt 13,24ff)


So ist für Bloch „das völlige Nichtstun noch ungenießbarer“ als wenn alle Resultate der Arbeit unnütz erscheinen.

So wurde „das ungekochte Leben“ nie erreicht, „auch im Süden nicht oder bei den Urvölkern. Wenn sie auch nicht unsere Arbeitswut haben und ihre Tage (nicht ihre Feste!) von Ruhe durchzogener, gleichsam eingelegter sind als unsere, so hat die Romantik des Nichtstun doch hier kein Beispiel.“

Nichtstun gleich den Nihilismus im Alltag: „Die Langeweile ist der Lohn, den das Leben ohne Arbeit gibt, sie ist jenes einsame Blei, vor dem man in arbeit und Gesellschaft flieht, das Nichts oder eben ncht Nichts, über dem alle Menschen leben, Schlaf- und Gähnkammer unseres allzu unmittelbaren Zustandes, die leicht eine Schreckenskammer werden kann.“

Und so ist die Flucht vor der Arbeit letztlich eine Flucht vor „dem ungenauen Sein von uns selbst.“ 

„Nicht zu tun, zieht darum ebenso an, wie es keiner dort aushält. Es zieht an, weil wir uns scheinbar darin finden; es ist unerträglich, weil dort noch nichts wirklich zubereitet ist.“

Zitate aus: Ernst Bloch: Nichtstun ist ungenießbar, in: Spuren, Frankfurt a.M. 1985, S. 99-103 (Suhrkamp)  -  Zum Hören: Das Philosophische Radio (WDR 5) mit Manfred Koch und Jürgen Wiebicke zum Thema "Faulheit"


Donnerstag, 10. Januar 2013

Jean de La Fontaine und die Arbeit


Jean der La Fontaine
Jean de La Fontaine (1621 – 1695) ist mit Sicherheit der berühmteste Fabeldichter der Neuzeit. Wie andere französische Autoren seiner Zeit lebte und arbeitete er im Umkreis des Hofes des Sonnenkönigs Ludwigs XIV. Seine Beobachtungen über die Menschen und die Gesellschaft verarbeitete er in seinem vielfältigen Werk.

La Fontaine gilt den Franzosen als einer ihrer größten Klassiker. Er schrieb Gedichte, Erzählungen und Romane. Berühmt wurde er jedoch durch seine Fabeln, die in insgesamt 12 Bänden von 1668 bis 1694 erschienen. Einige – wie die folgende Fabel von der Grille und der Ameise – wurden durch den antiken Dichter Äsop inspiriert. Gemeinsam ist beiden Dichtern, dass im Gewand der witzigen und hintergründigen Tiergeschichten die wahren Antriebe der menschlichen Natur entlarvt werden:


Die Grille, die den Sommer lang
zirpt' und sang,
litt, da nun der Winter droht',
harte Zeit und bittre Not:
Nicht das kleinste Würmchen nur,
und von Fliegen eine Spur!
Und vor Hunger weinend leise,
schlich sie zur Nachbarin Ameise,
und fleht' sie an in ihrer Not,
ihr zu leihn ein Stückchen Brot,
bis der Sommer wiederkehre.
»Hör'«, sagt sie, »auf Grillenehre,
vor der Ernte noch bezahl'
Zins ich dir und Kapital.«
Die Ameise, die wie manche lieben
Leut' ihr Geld nicht gern verleiht,
fragt' die Borgerin: »Zur Sommerzeit,
sag doch, was hast du da getrieben?«
»Tag und Nacht hab' ich ergötzt
durch mein Singen alle Leut'.«
»Durch dein Singen? Sehr erfreut!
Weißt du was? Dann tanze jetzt!«


Illustration von Milo Winter (1886-1956)

In der antiken Vorlage des Äsop liest sich die Fabel wie folgt:

„Es war kalter Winter, und Schnee fiel vom Olymp. Die Ameise hatte zur Erntezeit viel Speise eingetragen und ihre Scheuern damit aufgefüllt. Die Grille hingegen kauerte in ihrem Loch und litt gar sehr, von Hunger und arger Kälte geplagt. Sie bat darum die Ameise, ihr von ihrer Speise abzugeben, damit sie davon essen könne und nicht zu sterben brauche. Doch die Ameise sprach zu ihr: „Wo warst du denn im Sommer? Warum hast du zur Erntezeit nicht Speise eingetragen?“ Darauf die Grille: „Ich habe gesungen und mit meinem Gesang die Wanderer erfreut.“ Da lacht die Ameise laut und rief: „So magst du im Winter tanzen!“

Moral: es gibt nichts besseres, als für die notwendige Nahrung zu sorgen und sich nicht bei Tanz und Lust ergehen soll.“

In beiden Versionen der Fabel stehen einander zwei Lebenshaltungen gegenüber, die sich durch ihre Einstellung zur Arbeit unterscheiden:

Sicher ist, dass wir einen großen Teil unseres Lebens mit Arbeit verbringen. Für manche ist sie ein notwendiges Mittel, um den Lebensunterhalt zu verdienen, für andere liegt in der Arbeit Erfüllung und Selbstverwirklichung.

In der Antike wurde die Muße, also die Freiheit vom Zwang der Arbeit höher bewertet als die Arbeit. Vor allem die körperliche Arbeit der „Hand-Werker“ galt als Makel und wurde nur von den niedrigeren sozialen Schichten, den „Banausen“, verrichtet.


Während in der Antike „Muße“ immer auch mit Kreativität verbunden wurde, wird der Begriff, insbesondere in der Variante „Müßiggang“ meist negativ verstanden und meist mit „Faulheit“ gleichgesetzt.

Nun kann man grundsätzlich fragen, in welchem Sinne die eine Arbeit gesellschaftlich nutzlos, eine andere Tätigkeit aber nützlich ist? Ist die gesellschaftliche Rolle eines Künstlers überhaupt mit der eines Geschäftsmannes zu vergleichen? Kann eine geistige und künstlerische Tätigkeit überhaupt als Arbeit aufgefasst werden?

Adam Smith unterschied in seinem Werk „Der Reichtum der Nationen“ bekanntlich zwischen einer „Arbeit, die den Wert eines Gegenstandes, auf den sie verwandt wird, erhöht“ und einer Arbeit, „die diese Wirkung nicht hat. Jene kann als produktiv bezeichnet werden, da sie einen Wert hervorbringt, diese hingegen als unproduktiv“ (272).

Gitarre spielender Harlekin (Picasso, 1918)
Neben dem Stand der Politiker muss man laut Smith noch viele andere Berufe in die Gruppe der unproduktiven Arbeiter einreihen: „Zum einen Geistliche, Rechtsanwälte, Ärzte und Schriftsteller aller Art, zum anderen Schauspieler, Clowns, Musiker, Opernsänger und Operntänzer“ (273.).

Das Urteil von Smith über die unproduktive Arbeit kann nicht klarer und unmissverständlicher sein: „So ehrenwert, nützlich oder notwendig ihr Dienst auch sein mag, er liefert nichts, wofür später wiederum ein gleicher Dienst zu erhalten ist“ (ebd.). 

Natürlich gibt auch Smith zu, dass viele unproduktive Arbeiten direkt und indirekt zur Sicherung und Erhöhung des Lebensniveaus beitragen. Dies gilt selbstverständlich auch für alle „Grillen“ in Bildung, Kultur und Sport. 

Dennoch: Die produktive Arbeit ist und bleibt die Grundlage und Voraussetzung für die Möglichkeit – oder den „Luxus“ – unproduktiver Arbeit. Nur solange es Menschen gibt, die „herstellen, kaufen und verkaufen“, können auch Menschen bezahlt werden, die Geige spielen, tanzen oder singen.


Quellen: Die Grille und die Ameise findet sich im Projekt Gutenberg  -  Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, hg. mit einer umfassenden Würdigung des Gesamtwerkes von Horst Claus Recktenwald, München 2009 (dtv)